JudikaturOLG Wien

133R99/19k – OLG Wien Entscheidung

Entscheidung
21. Januar 2020

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Hinger als Vorsitzenden und die Richterin Mag. Janschitz sowie die fachkundige Laienrichterin Patentanwältin DI Dr. Cunow in der Patentrechtssache der Antragstellerin G***** , vertreten durch Sonn Partner Patentanwälte in Wien, wider die Antragsgegnerin G***** , vertreten durch die Schwarz Partner Patentanwälte OG in Wien, wegen Nichtigkeit des Patents E 303 802 über die Berufung der Antragsgegnerin gegen die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung des Patentamts vom 10.5.2019, N 8/2017 8, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

I. Die von der Antragsgegnerin mit der Berufung vorgelegte Urkunde wird zurückgewiesen.

II. Der Antrag der Antragsgegnerin, eine mündliche Berufungsverhandlung anzuberaumen, wird zurückgewiesen.

II. Der Berufung wird nicht Folge gegeben.

Die Antragsgegnerin ist schuldig der Antragstellerin die mit EUR 1.844,64 (darin enthalten EUR 307,44 USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens zu ersetzen.

Der Wert des Entscheidungsgegenstands übersteigt EUR 30.000.

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.

Entscheidungsgründe

Text

Die Antragsgegnerin ist Inhaberin des Patents E 303 802 (österreichischer Teil von EP 1 439 829 B1), das am 22.10.2002 angemeldet und am 7.9.2005 bekanntgemacht wurde; es beansprucht die Priorität vom 24.10.2001 (DE 1015269) und vom 16.10.2002 (DE 10248309). Das Patent (in der Folge kurz: Streitpatent) umfasst 12 Ansprüche mit folgendem Wortlaut:

1. Pharmazeutische Formulierung mit verzögerter Freisetzung, die 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol oder ein pharmazeutisch annehmbares Salz davon in einer Matrix mit verzögerter Wirkstofffreisetzung enthält, wobei die Matrix 1 bis 80 Gew. % eines oder mehrerer hydrophiler oder hydrophober Polymeren als pharmazeutisch annehmbaren Matrixbildner enthält und in vitro die folgende Freisetzungsgeschwindigkeit aufweist, gemessen unter Anwendung der Ph. Eur. Paddle Method bei 75 U/min in einem Puffer (gemäß Ph. Eur.) bei einem pH Wert von 6,8 bei 37°C und unter UV-spektrometrischer Detektion:

3 – 35 Gew. % (bezogen auf 100 Gew. % Wirkstoff) 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol nach 0,5 Stunden freigesetzt,

5 – 50 Gew. % 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol nach 1 Stunde freigesetzt,

10 – 75 Gew. % 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol nach 2 Stunden freigesetzt,

15 – 82 Gew. % 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol nach 3 Stunden freigesetzt,

30 – 97 Gew. % 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol nach 6 Stunden freigesetzt,

mehr als 50 Gew. % 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methylpropyl)phenol nach 12 Stunden freigesetzt,

mehr als 70 Gew. % 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methylpropyl)phenol nach 18 Stunden freigesetzt,

mehr als 80 Gew. % 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methylpropyl)phenol nach 24 Stunden freigesetzt.

2. Pharmazeutische Formulierung mit verzögerter Freisetzung, die 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol oder ein pharmazeutisch annehmbares Salz davon in einer Matrix mit verzögerter Wirkstofffreisetzung enthält, wobei die Matrix 1 bis 80 Gew. % eines oder mehrerer hydrophiler oder hydrophober Polymeren als pharmazeutisch annehmbaren Matrixbildner enthält und als pharmazeutisch annehmbaren Matrixbildner Celluloseether und/oder Celluloseester aufweist, der/die in einer 2 gew. % wäßrigen Lösung bei 20°C eine Viskosität von 3.000 bis 150.000 mPa·s aufweist.

3. Pharmazeutische Zusammensetzung nach einem der Ansprüche 1 bis 2, dadurch gekennzeichnet, dass sie als pharmazeutisch annehmbaren Matrixbildner Celluloseether und/oder Celluloseester aufweist, der/die in einer 2 gew. % Lösung bei 20°C eine Viskosität von 10.000 bis 150.000 mPa·s aufweist/aufweisen.

4. Pharmazeutische Zusammensetzung nach einem der Ansprüche 1 bis 3, dadurch gekennzeichnet, dass sie als pharmazeutisch annehmbaren Matrixbildner Celluloseether und/oder Celluloseester aufweist, der/die in einer 2 gew. % Lösung bei 20°C eine Viskosität von 50.000 bis 150.000 mPa·s aufweist/aufweisen.

5. Pharmazeutische Zusammensetzung nach einem der Ansprüche 1 bis 4, dadurch gekennzeichnet, dass sie als pharmazeutisch annehmbaren Matrixbildner mindestens eine Substanz enthält, die aus der Gruppe ausgewählt ist, die Hydroxypropylmethylcellulosen (HPMC), Hydroxyethylcellulosen, Hydroxypropylcellulosen (HPC), Methylcellulosen, Ethylcellulosen und Carboxymethylcellulosen umfasst.

6. Pharmazeutische Zusammensetzung nach einem der Ansprüche 1 bis 5, dadurch gekennzeichnet, dass sie als pharmazeutisch annehmbaren Matrixbildner mindestens eine Substanz enthält, die aus der Gruppe ausgewählt ist, die Hydroxypropylmethylcellulosen, Hydroxyethylcellulosen und Hydroxypropylcellulosen umfasst.

7. Pharmazeutische Zusammensetzung nach einem der Ansprüche 1 bis 6, dadurch gekennzeichnet, dass der Gehalt des verzögert freizusetzenden Wirkstoffs zwischen 0,5 und 85 Gew. % und der Gehalt an pharmazeutisch akzeptablem Matrixbildner zwischen 8 und 40 Gew. % liegt.

8. Pharmazeutische Zusammensetzung nach einem der Ansprüche 1 bis 7, dadurch gekennzeichnet, dass der Gehalt des verzögert freizusetzenden Wirkstoffs zwischen 3 und 70 Gew. %, insbesondere zwischen 8 und 66 Gew. %, und der Gehalt an pharmazeutisch akzeptablem Matrixbildner zwischen 10 und 35 Gew. %,insbesondere zwischen 10 und 30 Gew. %, liegt.

9. Pharmazeutische Zusammensetzung nach einem der Ansprüche 1 bis 8, dadurch gekennzeichnet, dass der Peak-Plasma-Level des Wirkstoffs in vivo nach 2 h bis 10 h, insbesondere nach 3,5 h bis 6 h erreicht wird.

10. Pharmazeutische Formulierung nach einem der Ansprüche 1 bis 9, dadurch gekennzeichnet, dass sie (+)-(1S, 2S)-3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol oder ein pharmazeutisch annehmbares Salz davon enthält.

11. Pharmazeutische Formulierung nach einem der Ansprüche 1 bis 9, dadurch gekennzeichnet, dass sie (-)-(1R, 2R)-3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol oder ein pharmazeutisch annehmbares Salz davon enthält.

12. Tablette für die 2 mal tägliche orale Verabreichung von 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol, enthaltend eine pharmazeutische Formulierung nach einem der Ansprüche 1 bis 11.

Zum besseren Verständnis der Nomenklatur vgl Seite 16 der angefochtenen Entscheidung:

«Die Verbindung 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol besitzt zwei optisch aktive Zentren, in diesem Fall Kohlenstoffatome mit vier verschiedenen Substituenten. An jedem dieser Kohlenstoffatome sind zwei verschiedene räumliche Anordnungen der Substituenten möglich, die genannte Verbindung kann daher in vier verschiedenen stereoisomeren Formen vorliegen. Jeweils zwei dieser Stereoisomere verhalten sich zueinander wie Bild und Spiegelbild, die jedoch nicht zur Deckung gebracht werden können (Enantiomere). Von therapeutischem Interesse sind dabei nur zwei Enantiomere, nämlich ( ) (1R, 2R) -3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol ( Tapentadol ), entspricht Anspruch 11 des Streitpatents; und sein Spiegelbild (+) (1S, 2S) -3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol, entspricht Anspruch 10 des Streitpatents.»

Die Antragstellerin beantragte die Nichtigerklärung des Streitpatents. Sie bestreitet die erfinderische Tätigkeit und stützt sich zusammengefasst auf folgende Veröffentlichungen:

Der Hauptanspruch schütze eine pharmazeutische Formulierung mit verzögerter Freisetzung, die Tapentadol in einer Polymermatrix enthalte, welche den Wirkstoff mit einer bestimmten Geschwindigkeit freisetze, wobei diese Geschwindigkeit mittels eines Standardverfahrens gemessen werde. Tapentadol sei ein Nachfolger von Tramadol (./G). Tramadol sei genauso wie Tapentadol ein Wirkstoff aus der Gruppe der Analgetika zur oralen Behandlung von mittelstarken bis starken Schmerzen. Als nächstliegender Stand der Technik sei ./G anzusehen, die Tapentadol als solches betreffe. Aus diesem Dokument gehe hervor, dass Tapentadol ausgehend von Tramadol entwickelt worden sei. Ausgehend von ./G als nächstliegendem Stand der Technik sei die objektive technische Aufgabe des Streitpatents gewesen, eine Formulierung bereitzustellen, die nur einmal innerhalb von 12 Stunden appliziert werden müsse. Die zu lösende objektive Aufgabe des Streitpatens sei auch Gegenstand der Veröffentlichung ./L gewesen, nämlich die Bereitstellung einer Formulierung, welche nur einmal innerhalb von 12 Stunden verabreicht werden müsse. ./L löse diese Aufgabe für den Wirkstoff Tramadol.

Die Antragsgegnerin bestritt das Vorbringen der Antragstellerin, beantragte die Abweisung des Antrags und brachte ihrerseits vor, dass aus der Lektüre der Vorveröffentlichung ./G, und EP 0 753 506 A1 (./3) und EP 0 983 995 (./4) nicht ersichtlich sei, warum der Fachmann – falls er aufgrund der negativen Eigenschaften von PR-Tramadol überhaupt auf diesem Gebiet an einer verzögert freisetzenden Zusammensetzung weitergearbeitet hätte – die Veröffentlichung ./G herangezogen hätte [Anm: „PR“ steht für „prolonged release“ – Freisetzen des Wirkstoffes mit abnehmender Geschwindigkeit; „IR“: „immediate release“ ]. Darüber hinaus sei nicht klar, weshalb der Fachmann aus der Vielzahl an zum Prioritätszeitpunkt des Streitpatents bekannten Substanzen mit zu Tramadol verwandter Struktur ausgerechnet Tapentadol zur weiteren Entwicklung herangezogen hätte. Die erfinderische Leistung des Streitpatents sei darin gelegen, den Wirkstoff Tapentadol in Richtung einer PR-Form weiterzuentwickeln. Nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz sei ein Tramadol-PR-Patent, nämlich ./K oder ./L, der nächstliegende Stand der Technik, weil dieses die meisten Lösungselemente mit der beanspruchten Lösung gemein habe. Ausschließlich in diesen Dokumenten ginge es um eine PR-Form, in ./G sei hingegen von einer beliebigen Verabreichungsform die Rede.

Die Nichtigkeitsabteilung (NA) gab dem Nichtigkeitsantrag mit der wesentlichen Begründung statt, dass die Gegenstände der Ansprüche 1 und 2 sowie die davon abhängigen Unteransprüche 3 bis 12 zwar neu, aber nicht erfinderisch seien. Sowohl der dem Streitpatent zugrunde liegende Wirkstoff 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol sei bereits aus ./G zum frühesten Prioritätszeitpunkt bekannt gewesen wie auch die Option der oralen und perkutanen Zubereitungsformen mit verzögerter Freisetzung.

Dagegen richtet sich die Berufung der Antragstellerin aus den Berufungsgründen der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die Entscheidung der NA dahingehend abzuändern, dass der Nichtigkeitsantrag vollumfänglich abgewiesen werde, in eventu die Entscheidung aufzuheben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an die NA zurückzuverweisen, in eventu eine mündliche Berufungsverhandlung anzuberaumen.

Die Antragsgegnerin beantragt, der Berufung nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung ist nicht berechtigt.

I. Mit der Vorlage der mit der Berufung vorgelegten Urkunde verstößt die Antragsgegnerin gegen das im Berufungsverfahren herrschende Neuerungsverbot.

II. Eine Berufungsverhandlung ist nur anzuberaumen, wenn das Berufungsgericht dies im Einzelfall für erforderlich hält (§ 480 Abs 1 ZPO). Die amtswegige Anberaumung einer mündlichen Berufungsverhandlung ist nicht erforderlich; der darauf gerichtete, unzulässige Antrag der Antragsgegnerin war daher zurückzuweisen.

III. Zur Berufung:

Vorweg ist festzuhalten, dass die Antragsgegnerin in ihrer Berufung die geltend gemachten Berufungsgründe teilweise vermengt; dies gilt insbesondere für die Ausführungen zur Tatsachenrüge. Sie verstößt damit gegen das Gebot, die Berufungsgründe getrennt darzustellen. Dies hat zur Folge, dass allfällige Unklarheiten zu ihren Lasten gehen ( Kodek in Rechberger/Klicka, ZPO 5 § 471 Rz 17 mwN; RIS-Justiz RS0041761).

1. Zur Beweisrüge:

1.1. Die Antragsgegnerin bekämpft die Feststellung:

„Als am meisten erfolgversprechend im Sinne des oben Gesagten ist somit ein Dokument anzusehen, das den Wirkstoff als solchen mit Strukturformel und Herstellungsverfahren offenbart – und zudem einen Hinweis auf verzögernd freisetzende Formulierungen enthält.

Dementsprechend ist im vorliegenden Fall die EP 0 693 475 Al (./ G) als nächstliegender Stand der Technik anzusehen, da nur in diesem Dokument der Wirkstoff 3-(3-Dimethyltamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol konkret offenbart wird, und zwar nicht nur in allgemeiner Form, sondern spezifisch in 2 relevanten enantiomeren Formen, wie sie in den Ansprüchen 10 und 11 des Streitpatents beansprucht sind.“

und beantragt stattdessen die Ersatzfeststellung:

„Nächstliegender Stand der Technik ist ein Tramadol-PR-Patent (./K oder ./L). Es hat den weitestgehend gleichen Lösungsweg wie das Streitpatent: Zur-Verfügung-Stellen einer PR-Form für ein Molekül in der gleichen Substanzklasse.

Objektive Aufgabe: Ausgehend von dem nächstliegenden Stand der Technik ist die objektive Aufgabe das Auffinden einer weiteren PR-Form im Bereich dieser Substanzklasse (Tramadol-Analoga).“

1.2. Die Antragsgegnerin wendet sich zusammengefasst gegen die Ansicht der NA, dass die Offenbarung ./G der nächstliegende Stand der Technik sei, und argumentiert unter anderem damit, dass Tapentadol im Prioritätszeitpunkt nicht als Schmerzmittel etabliert gewesen sei. Es sei auch nicht bekannt gewesen, dass sich der Wirkstoff rasch freisetze.

Darauf kommt es aber gar nicht an.

1.3. Ob eine erfinderische Tätigkeit vorliegt, ist grundsätzlich eine Rechtsfrage (17 Ob 24/09t; 17 Ob 13/09z). Da sich dies am Stand der Technik, also am Fachwissen der „Durchschnittsfachperson“ auf dem betreffenden Gebiet orientiert, ist die Beurteilung, ob sich das eingetragene Patent für die Fachperson nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt, in erster Linie von einer Tatfrage abhängig (RIS-Justiz RS0071399). Es bedarf entsprechender Feststellungen, was sich für die Fachperson im Prioritätszeitpunkt aus den Vorveröffentlichungen ergeben hätte (vgl 17 Ob 4/11d ua). Den Stand der Technik bildet dabei alles, was der Öffentlichkeit vor dem Prioritätstag der Anmeldung durch schriftliche oder mündliche Beschreibung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist.

1.4. Die Antragsgegnerin kritisiert in ihrer Berufung, dass die NA zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass es die Aufgabe des Streitpatents gewesen sei, eine pharmazeutische Formulierung mit verzögerter Wirkstofffreisetzung für Tapentadol zu finden. Sie vermengt dabei aber die im Streitpatent genannte Aufgabe mit der Bestimmung der technischen Aufgabe im Zuge der Prüfung des Aufgabe-Lösung-Ansatzes.

Ihr Argument, dass es nicht die Aufgabe des Streitpatents gewesen sei, eine pharmazeutische Formulierung mit verzögerter Wirkstofffreisetzung für Tapentadol zu finden, widerspricht dem Inhalt des Streitpatents [0006], wonach es eine Aufgabe der Erfindung sei, eine 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol enthaltende pharmazeutische Formulierung mit verzögerter Wirkstofffreisetzung bereitzustellen.

Soweit die Ausführungen der Antragsgegnerin der Tatsachenebene zuzuordnen sind, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sie in ihrer Berufung zugesteht, dass die Vorveröffentlichung ./G in den Beispielen 24 und 25 die beiden Enantiomere von 3-(3-dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol nennt, sodass die der Tatsachenebene zuzuordnende Aussage der NA, dass in ./G der Wirkstoff offenbart ist, nicht weiter zu beanstanden ist. Aus der Beschreibung des Patents ./G ergibt sich auch, dass die dem Patent zugrunde liegende Aufgabe in der Entwicklung von analgetisch wirksamen Substanzen zu sehen sei, die zur Behandlung starker Schmerzen geeignet sind. Für die Verwendung der Wirkstoffe wurden darin bereits verschiedene Darreichungsformen angeführt, wobei erwähnt wird, dass oral oder perkutan anwendbare Zubereitungsformen den Wirkstoff verzögert freisetzen können (./G, Seite 6, Rz 15). Die NA setzte sich in diesem Zusammenhang – entgegen den Ausführungen im Rechtsmittel – auch ausführlich mit den Vorveröffentlichungen ./K und ./L auseinander, und sie führt zusammengefasst dazu aus, dass diese einen anderen Wirkstoff (Tramadol) und dessen verzögerte Freisetzung offenbarten. Diese Offenbarungen würden aber nur eine größere Übereinstimmung mit dem auch im Streitpatent verwendeten Matrixbildner zeigen, weshalb die Offenbarung ./G der erfolgversprechendste Ausgangspunkt sei, weil darin bereits die zwei relevanten Enantiomere des Wirkstoffs 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol offenbart worden seien. Auch sei bereits darin auf die allgemeine Möglichkeit einer verzögerten Freisetzung der Wirkstoffe hingewiesen worden.

1.5. Soweit sich die Antragsgegnerin darauf stützt, dass es die objektiv zu lösende technischen Aufgabe gewesen sei, ein Molekül zu finden, das sich zur PR-Form eignet, ist diese zu lösende technische Aufgabe zu weit gefasst. Aufgabe ist nicht die Fragestellung, von der die Fachperson subjektiv ausgegangen sein mag, sondern das technische Problem, das für die Fachperson erkennbar war und tatsächlich objektiv gelöst wird. Eine sinnvoll formulierte Aufgabe muss demnach auf die Lösung zielgerichtet sein. Sie darf auf der einen Seite nicht zu abstrakt sein und muss auf der anderen Seite alle Elemente vermeiden, die zur Lösung gehören oder auf sie hindeuten ( Moufang in Schulte, PatG 10 § 4 Rz 34).

Die NA ging davon aus, dass bereits im Streitpatent bei der Definition der technischen Aufgabe vom selben Stand der Technik ausgegangen worden sei und deshalb kein Grund bestehe, eine andere objektive technische Aufgabe festzulegen. Folge man aber der NA in diesem Punkt nicht, sei die Aufgabe allgemeiner zu formulieren und zwar: „ Bereitstellung einer 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol enthaltenden Formulierung, die nur einmal innerhalb von 12 Stunden verabreicht werden muss“. Die NA führt dazu aus, dass die Fachperson wisse, dass sich Celluloseether zur Verwendung in verzögert freisetzenden Wirkstoffformulierungen eignen würden, sodass die Fachperson einen Konnex zwischen dem Wirkstoff 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol und Tramadol weiterverfolgt und die Lehre der Beilage ./L herangezogen hätte, um zum Gegenstand des Anspruchs 1 des Streitpatents (einer verzögerten Formulierung mit einem bestimmten Freisetzungsprofil) zu gelangen, weil sie erwartet hätte, dass sich pharmazeutische Formulierungen mit verzögerter Freisetzung, die aus dem Stand der Technik für Tramadol bekannt waren, auch für eine pharmazeutische Formulierung mit verzögerter Freisetzung von 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyi-propyl)phenol eignen würden, zumal die in ./L offenbarten Formulierungen – mit einem identen Freisetzungsprofil – dieselbe Aufgabe lösen wie das Streitpatent, nämlich eine Dosierung in Abständen von mindestens 12 Stunden zu ermöglichen. Bei der Lösung der objektiven technischen Aufgabe, der verzögerten Freisetzung eines Wirkstoffs aus einer Polymermatrix, gehe es nicht um die pharmakologische Wirksamkeit, sondern um die Löslichkeit des Wirkstoffs in einem wässrigen Medium in vitro bei unterschiedlichen pH Werten, also um eine chemisch-physikalische Eigenschaft. Es zähle zum allgemeinen Fachwissen der Fachperson, dass sich bei „kleinen“, strukturell ähnlichen Molekülen wie Tramadol und 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol die pharmakologische Wirkung schon durch geringe strukturelle Änderungen unvorhersehbar verändern kann, während die chemisch-physikalischen Eigenschaften, wie beispielsweise die Löslichkeit, weitgehend gleich bleiben. Die Fachperson hätte also aufgrund der strukturellen Ähnlichkeit der Wirkstoffe Tramadol und 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2- methyl-propyl)phenol – unabhängig von der gewählten Darstellung der Strukturformel – erwartet, dass eine für Tramadol geeignete Formulierung mit verzögerter Wirkstofffreisetzung bei 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2-methyl-propyl)phenol dieselbe technische Wirkung erzielt. Diesen Ausführungen setzt die Antragsgegnerin letztlich nichts Stichhaltiges entgegen.

Für eine wirksame Bekämpfung der Beweiswürdigung der NA und der von ihr getroffenen Tatsachenfeststellungen genügt es nicht, bloß auf einzelne für den Prozessstandpunkt des Berufungswerbers günstige Beweismittel zu verweisen und darzulegen, dass auf Basis der vorliegenden Beweisergebnisse auch andere Rückschlüsse als jene, die die NA gezogen hat, möglich gewesen wären. Vielmehr muss aufgezeigt werden, dass die getroffenen Feststellungen zwingend unrichtig sind oder wenigstens bedeutend überzeugendere Beweisergebnisse für andere Feststellungen vorliegen und das Erstgericht diesen und nicht anderen Beweismitteln Glauben hätte schenken müssen.

Dies gelingt der Berufungswerberin nicht.

2. Zur Rechtsrüge:

2.1. Eine erfinderische Tätigkeit liegt nach § 1 Abs 1 PatG und nach dem sinngleichen Art 56 EPÜ ( Wiltschek, Patentrecht 3 § 1 PatG Anm 4) vor, wenn sich die Neuerung für die Fachperson nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt. Einer Neuentwicklung fehlt aber nicht schon dann die erfinderische Tätigkeit, wenn die Fachperson aufgrund des Stands der Technik zu ihr gelangen hätte können, sondern erst, wenn sie sie aufgrund eines hinreichenden Anlasses in Erwartung einer Verbesserung oder eines Vorteils auch tatsächlich vorgeschlagen hätte – could-would-approach (17 Ob 24/09t; 4 Ob 17/15a, Gleitlager ).

2.2. Der Beurteilungsmaßstab dafür, was der Stand der Technik lehrt und wie Vorveröffentlichungen zu verstehen sind, ist die Durchschnittsfachperson. Es handelt sich hierbei um eine Kunstfigur und damit letztlich um ein Werkzeug des Gerichts, das dazu dient, einen unbestimmten Rechtsbegriff auszufüllen ( Haedicke, Patentrecht 3 80). Die Fachperson besitzt durchschnittliche Fachkenntnisse, kennt aber den gesamten Stand der Technik des Fachgebiets.

2.3. Die Prüfung kann insbesondere nach dem vom Europäischen Patentamt herangezogenen Aufgabe-Lösungs-Ansatz erfolgen (vgl Op 1/02 PBl 2003, 29 mwN; Op 6/08; Op 4/11; 4 Ob 17/15a, Gleitlager ). Dazu ist zuerst der nächstliegende Stand der Technik zu ermitteln, dann die zu lösende objektive technische Aufgabe zu bestimmen und schließlich zu prüfen, ob der Schutzgegenstand angesichts des nächstliegenden Stands der Technik und der objektiven Aufgabenstellung für die Durchschnittsfachperson nahelag.

2.4. Nach § 10 Abs 1 PatV-EG iVm Art 138 Abs 1 lit a EPÜ kann ein europäisches Patent mit Wirkung für einen Vertragsstaat für nichtig erklärt werden, wenn sein Gegenstand nach Art 52 bis 57 EPÜ nicht patentierbar ist. Nach Art 52 Abs 1 EPÜ werden europäische Patente für Erfindungen auf allen Gebieten der Technik erteilt, sofern sie neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind. Eine Erfindung gilt nach dem Text von Art 56 EPÜ als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend, wenn sie sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt. Nach Art 54 Abs 2 EPÜ bildet den Stand der Technik alles, was vor dem Anmeldetag der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist.

2.5. Wie schon zur Tatsachenrüge ausgeführt, ist die Frage, ob eine erfinderische Tätigkeit vorliegt, grundsätzlich eine Rechtsfrage. Was sich für die Fachperson im Prioritätszeitpunkt aus den Vorveröffentlichungen ergeben hätte, ist aber eine Tatfrage (17 Ob 24/09t; 17 Ob 13/09z). Soweit die Antragsgegnerin im Rahmen der Rechtsrüge damit argumentiert, dass der Fachmann anhand der beiläufigen Erwähnung eines „verzögerten Freisetzens“ der in der Patentschrift ./G ersichtlichen Wirkstoffe keinen Anlass gehabt hätte, diesen Ansatz bei der dort erwähnten Vielzahl von Wirkstoffen – insbesondere für 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2- methyl-propyl)phenol - weiterzuverfolgen und sich stattdessen an der verzögerten freisetzenden Formulierung mit Tramadol befasst hätte, ist die Rechtsrüge nicht gesetzmäßig ausgeführt, weil sie nicht vom festgestellten Sachverhalt ausgeht. Die NA stellte fest, dass die Fachperson aufgrund der strukturellen Ähnlichkeit der Wirkstoffe Tramadol und 3-(3-Dimethylamino-1-ethyl-2- methyl-propyl)phenol erwartet hätte, dass eine für Tramadol geeignete Formulierung mit verzögerter Wirkstofffreisetzung bei Tapentadol dieselbe technische Wirkung erzielen werde. Daraus folge, dass es für die Fachperson naheliegend gewesen sei, unmittelbar vom Wirkstoff Tapentadol auszugehen.

2.6. Soweit in der Berufung im Rahmen der Rechtsrüge mit der pharmakologischen Wirksamkeit und den Nebenwirkungen von Tramadol argumentiert wird und dazu ausgeführt wird, dass eine Fachperson sich davon ausgehend nicht mit der PR-Formulierung befasst hätte, ist dem entgegenzuhalten, dass die Fachperson gerade nicht von Tramadol, sondern unmittelbar von Tapentadol ausgegangen wäre. Die NA ging in diesem Zusammenhang auch davon aus, dass bei der Lösung der objektiven technischen Aufgabe, der verzögerten Freisetzung eines Wirkstoffs aus einer Polymermatrix, es nicht um die pharmakologische Wirksamkeit, sondern um die Löslichkeit des Wirkstoffs in einem wässrigen Medium in vitro bei unterschiedlichen pH Werten, also um eine chemisch-physikalische Eigenschaft gehe. Der Vorwurf der Antragsgegnerin, dass Tapentadol kein vielversprechender Kandidat für eine PR-Formulierung eines Tramadol-Analogas gewesen sei, geht daher ins Leere.

Die NA hat den Aufgabe-Lösungs-Ansatz richtig angewendet. Wenn die Antragsgegnerin in ihrer Berufung auf die Nebenwirkungen und die überraschenden Effekte der Erfindung hinweist und damit aufzuzeigen versucht, dass deshalb die Fachperson keine Anlass gehabt habe, am Wirkstoff Tapentadol in Form einer PR-Formulierung zu forschen, ist dieser Einwand ausgehend vom von der NA ausführlich begründeten Anwendung des Aufgaben-Lösung-Ansatzes (500a ZPO) nicht zielführend.

2.7. Die Antragsgegnerin argumentiert noch damit, es liege ein erfinderischer Schritt vor, weil die durch eine PR-Form von Tapentadol freigesetzte Wirkstoffmenge gleich hoch sei wie jene einer IR-Form. Darauf kommt es aber im vorliegenden Fall gar nicht an.

Der Patentschutz nach § 3 Abs 3 Satz 2 PatG ist häufig indikationsbezogen. Er wird dafür gewährt, dass Möglichkeiten zur Behandlung von Erkrankungen aufgezeigt werden, nicht für die Erkenntnis der Wirkungszusammenhänge. Die medizinische Eignung und die spezifische Anwendbarkeit eines Stoffs zur therapeutischen Behandlung werden zum einen durch die zu behandelnde Krankheit und durch die Dosierung, zum anderen aber auch durch alle weiteren Parameter bestimmt, die auf die Wirkung des Stoffs Einfluss haben und damit für den Eintritt des mit der Anwendung angestrebten Erfolgs von wesentlicher Bedeutung sein können (OLG Wien 34 R 113/16m, Dexmedetomidine, mwN).

Der Berufung war daher ein Erfolg zu versagen.

3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 122 Abs 1 und § 141 PatG iVm § 41 Abs 1 und § 50 ZPO.

4. Der Ausspruch über den Wert des Entscheidungsgegenstands beruht auf § 500 Abs 2 Z 1 ZPO und ergibt sich aus der Bedeutung von Patentansprüchen im Wirtschaftsleben.

5. Die ordentliche Revision war nicht zuzulassen, weil keine Rechtsfrage zu lösen war, der zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zukäme.

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