10Rs83/17z – OLG Wien Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Ciresa als Vorsitzende, die Richter Mag. Atria und Mag. Pöhlmann sowie die fachkundigen Laienrichter Bernd Unteregger und Willibald Steinkellner in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E***** S*****, B*****gasse 8/13, 1010 Wien, im Berufungsverfahren unvertreten, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt , Friedrich Hillegeiststraße 1, 1020 Wien, vertreten durch Mag. Christian Wegerth, ebendort, wegen Pflegegeld, über die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 30.5.2017, 11 Cgs 19/17i-12, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die ordentliche Revision ist zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Die am 8.1.1936 geborene Klägerin bezog seit 1.8.2015 Pflegegeld der Stufe 3. Mit Bescheid vom 23.11.2016 lehnte die beklagte Partei ihren Erhöhungsantrag vom 10.8.2016 ab.
Mit dem nun angefochtenen Urteil sprach das Erstgericht der Klägerin Pflegegeld der Stufe 5 in Höhe von EUR 920,30 monatlich ab 1.9.2016 zu.
Dabei legte es seiner Entscheidung die auf den Seiten 2 und 3 der Urteilsausfertigung wiedergegebenen Feststellungen zugrunde. Für das Berufungsverfahren, in dem ausschließlich das Vorliegen eines „außergewöhnlichen Pflegeaufwands“ im Sinne der Pflegegeldstufe 5 strittig ist, sind daraus folgende Feststellungen hervorzuheben:
„Lagewechsel innerhalb des Wohnbereichs kann die Klägerin nicht selbstständig vornehmen, sie benötigt Mobilitätshilfe im engeren Sinn. Die Klägerin verspürt Harn- und Stuhldrang und braucht bei der Verrichtung der Notdurft fremde Hilfe. Sie muss zur Toilette begleitet, beim Ausziehen, Hinsetzen, bei der Reinigung nach Verrichtung der Notdurft, beim Aufstehen und Anziehen unterstützt werden. Aufgrund der bestehenden Drangharninkontinenz kommt es täglich vor, dass die Klägerin Harn verliert, weil sie die Toilette nicht rechtzeitig erreichen kann. […] Die Klägerin muss mindestens einmal pro Nacht zur Toilette begleitet werden, weshalb insgesamt mehr als fünf Pflegeeinheiten, davon mindestens eine auch in den Nachtstunden erforderlich sind.“
Rechtlich folgerte das Erstgericht, dass bei der Klägerin ein Pflegebedarf von 193 Stunden pro Monat gegeben sei. Nach § 6 Z 3 EinstV liege ein außergewöhnlicher Pflegebedarf im Sinne eines Anspruchs auf Pflegegeld der Stufe 5 (§ 4 Abs 1 BPGG) vor, wenn mehr als fünf Pflegeeinheiten, davon eine auch in den Nachtstunden, erforderlich seien. Auch dieses Erfordernis sei bei der Klägerin erfüllt, da sie zumindest einmal in der Nacht Hilfe bei der Verrichtung der Notdurft benötige.
Lediglich gegen den Zuspruch von Pflegegeld der Stufe 5 richtet sich die Berufung der beklagten Partei aus den Berufungsgründen der unrichtigen Tatsachenfeststellung und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne des Zuspruchs von Pflegegeld der Stufe 4 ab dem 1.9.2016 abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Klägerin hat sich am Berufungsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Die Berufung ist nicht berechtigt.
1. Der Berufung ist voranzustellen, dass die für eine Neubemessung des Pflegegelds gemäß § 9 Abs 4 BPGG erforderliche „wesentliche Veränderung“ der Voraussetzungen für das bisher gewährte Pflegegeld durch das Zugeständnis eines Anspruchs aus Pflegegeld der Stufe 4 (anstelle des bisher gewährten Pflegegeldes der Stufe 3) seitens der beklagten Partei nicht bestritten wird.
2. Unter dem Berufungsgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellung wendet sich die beklagte Partei gegen die Feststellung, dass die Klägerin mindestens einmal pro Nacht zur Toilette begleitet werden muss, weshalb insgesamt mehr als fünf Pflegeeinheiten, davon mindestens eine in den Nachtstunden, erforderlich sind.
Dabei behauptet sie jedoch gar nicht, dass die Feststellung, die Klägerin muss mindestens einmal pro Nacht die Toilette aufsuchen und bedarf dabei fremder Hilfe, unrichtig sei und eine anderslautende Feststellung begehrt werde. Sie bringt vielmehr rechtlich vor, dass diesem Umstand ohnedies durch Berücksichtigung des Betreuungsaufwandes von 15 Stunden für Mobilitätshilfe im engeren Sinn Rechnung getragen würde. Eine gesetzmäßig ausgeführte Beweisrüge liegt somit nicht vor.
3. In ihrer Rechtsrüge führt die beklagte Partei aus, dass es nicht zulässig sei, den Betreuungsaufwand im Zusammenhang mit der Verrichtung der Notdurft dadurch doppelt zu veranschlagen, dass er einerseits zur Überschreitung des Schwellenwerts von 180 Stunden und sodann zur Begründung des außergewöhnlichen Pflegebedarfs herangezogen werde. Der Klägerin würde daher ab 1.9.2016 nur ein Pflegegeld der Stufe 4 zustehen.
4. Pflegegeld der Stufe 5 soll allen Pflegebedürftigen zugänglich sein, bei denen zum funktionsbezogen ermittelten, rein zeitmäßig bestimmten Pflegebedarf von mehr als 180 Stunden besondere – die Pflege zusätzlich erschwerende – qualifizierende Elemente hinzutreten, die aber noch nicht hinreichen, die Voraussetzungen für die Stufen 6 oder 7 zur Gänze zu erfüllen. Entsprechend der Ermächtigung in § 4 Abs 7 BPGG definiert § 6 EinstV (idF Einstufungsverordnung-Novelle 2008) den Begriff „außergewöhnlicher Pflegeaufwand“ neu ( Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld (2013) Rz 609 und 613). Demnach liegt ein solcher insbesondere vor bei dem Erfordernis
einer dauernden Bereitschaft, nicht jedoch dauernden Anwesenheit einer Pflegeperson (Z 1),
einer regelmäßigen Nachschau durch eine Pflegeperson in relativ kurzen, jedoch planbaren Zeitabständen, wobei zumindest eine einmalige Nachschau auch in den Nachtstunden erforderlich sein muss (Z 2),
von mehr als fünf Pflegeeinheiten, davon eine auch in den Nachtstunden (Z 3).
Während § 6 Z 1 und 2 EinstV Fälle eines außergewöhnlichen Pflegeaufwands beispielhaft nennen, die schon bisher ausdrücklich geregelt bzw von der Rechtsprechung herausgearbeitet waren, wurde mit der Novelle zur EinstV 2008 in Z 3 eine neue Pflegefallkonstellation ausdrücklich geregelt. Damit reagierte der Verordnungsgeber auf die restriktive Interpretation des Begriffs des außergewöhnlichen Pflegeaufwands in der Rechtsprechung. In der Literatur wurde hervorgehoben, dass dadurch der Zugang zur Pflegegeldstufe 5 wesentlich erleichtert worden sei. Die entscheidende Bedeutung werde in der Einstufungspraxis der Notwendigkeit einer Pflegeleistung während der Nachtstunden (zwischen 22.00 und 6.00 Uhr) zukommen. Denn die restlichen fünf Pflegeeinheiten bei Tag werden bei einem Pflegebedarf von mehr als 180 Stunden pro Monat im Regelfall immer gegeben sein. Der Notwendigkeit zumindest einer Pflegeleistung auch während der Nachtstunden werde zu Recht besondere Bedeutung im Sinne eines außergewöhnlichen Pflegeaufwands beigemessen, weil dadurch die Pflegesituation erschwert bzw die Belastung für die Pflegeperson erheblich erhöht werde ( Greifeneder/Liebhart aaO Rz 621; Greifeneder , Novelle 2008 erleichtert den Zugang zur Pflegegeldstufe 5, ÖZPR 2010/12).
Die in der Berufung hervorgehobene Rechtsprechung, wonach der Pflegeaufwand im Zusammenhang mit der Verrichtung der Notdurft nicht doppelt veranschlagt werden dürfe (einerseits zur Überschreitung des Schwellenwerts von 180 Stunden und andererseits zur Begründung der für die Pflegegeldstufe 5 normierten Voraussetzungen; 10 ObS 210/02h, 10 ObS 403/02s), bezog sich auf die Auslegung des Tatbestands des außergewöhnlichen Pflegeaufwands vor der erwähnten Novellierung der EinstV 2008. Den Schwierigkeiten, die diese Judikatur der sogenannten „unzulässigen Doppelverwertung“ für die Auslegung des Begriffs des außergewöhnlichen Pflegeaufwands brachte, sollte gerade mit der Novelle zur EinstV 2008 begegnet werden. Nunmehr scheint es klar zu sein, dass unter einer Pflegeeinheit iSd § 6 Z 3 EinstV die Durchführung einer oder mehrerer Betreuungs- und/oder Hilfsmaßnahmen im Sinne des Pflegegeldrechts (in einem zeitlichen Kontext) zu verstehen ist ( Greifeneder/Liebhart aaO Rz 621).
Festgestelltermaßen kann die Klägerin die Notdurft auf der Toilette verrichten, wofür sie jedoch (für alle Handlungen) fremde Hilfe benötigt. Es besteht aber auch eine Drangharninkontinenz mit dem daraus resultierenden Pflegebedarf für die Inkontinenzreinigung. Zutreffend hat das Erstgericht daher den Richtwert für die Reinigung bei Inkontinenz neben dem Mindestwert für die Verrichtung der Notdurft berücksichtigt (10 ObS 216/00p; Greifeneder/Liebhart aaO Rz 472).
Aufgrund der soweit eindeutigen Textierung teilt das Berufungsgericht auch die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts, wonach die fremde Hilfe bei der (mindestens einmal) nächtlichen Verrichtung der Notdurft (Begleitung zur Toilette, Reinigung nach der Verrichtung der Notdurft, Unterstützung beim Ausziehen, Hinsetzen und Wiederanziehen) eine Pflegeeinheit während der Nachtstunden iSd § 6 Z 3 EinstV bedeutet. Überzeugend hat die Sachverständige in der mündlichen Verhandlung dazu ausgeführt, dass es nicht zumutbar sei, jemanden, der Harndrang verspüre, in der Nacht mit nassen Einlagen oder nassen Windeln liegen zu lassen (Protokoll ON 8, S 2). Bei der Klägerin liegt daher zusätzlich zum rein zeitlich ermittelten Pflegebedarf eine erhebliche Pflegeerschwerung vor, da eine Pflegeperson auch in der Nacht eine Pflegeeinheit durchzuführen hat.
Der Berufung war daher ein Erfolg zu versagen.
Eine oberstgerichtliche Rechtsprechung zur Berücksichtigung des nächtlich erforderlichen Pflegebedarfs für die Verrichtung der Notdurft als außergewöhnlicher Pflegeaufwand iSd § 6 Z 3 EinstV liegt nicht vor. Dieser Frage kommt über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu. Die ordentliche Revision war daher zuzulassen (§ 502 Abs 1 ZPO).