34R25/16w – OLG Wien Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Wien hat als Rekursgericht ***** wegen Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats über den Rekurs der Antragstellerin gegen den Beschluss der technischen Abteilung des Patentamts vom 6.11.2015, SZ 27/2005 14, in nicht öffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.
Der Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung wird zurückgewiesen.
Der Vorlageantrag nach Art 267 AEUV wird zurückgewiesen.
Der Wert des Entscheidungsgegenstands übersteigt EUR 30.000,--.
Der ordentliche Revisionsrekurs ist nicht zulässig.
Text
Begründung
Die Antragstellerin beantragte am 28.6.2005 die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats (kurz: ESZ) für das Erzeugnis „ Truvada® - Emtricitabin/Tenofovir Disoproxil (oder ein Salz davon)“ auf Basis des Grundpatents zu AT E 240 339 (EP 0 915 894) mit dem Titel „ Nukleotidanaloga “.
Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Patentamt die ESZ-Anmeldung aus dem Grund des § 2 Abs 2 SchZG 1996 zurück. Es sei dem Patentamt verwehrt, ein ergänzendes Schutzzertifikat für Wirkstoffe zu erteilen, die in den Ansprüchen des Grundpatents nicht genannt seien, auf das die betreffende Anmeldung gestützt werde. In den Ansprüchen des Grundpatents werde nur Tenofovir Disoproxil (oder ein Salz davon) genannt, jedoch nicht Emtricitabin in Kombination mit Tenofovir und Disoproxil (oder ein Salz davon). Eine Auslegung des Anspruchs 27 des Grundpatents nicht unter Berücksichtigung der Beschreibung des Grundpatents, sondern (allein) durch Heranziehung des Stands der Technik sei nicht zulässig und widerspreche Art 69 Abs 1 EPÜ. Die Beschreibung liefere aber keine Information, welche therapeutischen Bestandteile gemeint sein könnten. Unter Berücksichtigung von C 322/10, Medeva; und C 493/12, Lilly, könne das Erzeugnis nicht als „in den Ansprüchen genannt“ bezeichnet werden. Die Auffassung der Antragstellerin, dass das ESZ für neue Kombinationspräparate geschaffen worden sei, finde in den gesetzlichen Bestimmungen keine Grundlage. Vielmehr sei es möglich, für neue und erfinderische Kombinationspräparate ein (neues) Patent zu erhalten.
Dagegen richtet sich der Rekurs der Antragstellerin erkennbar aus dem Grund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Abänderungsantrag, das ESZ – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung – zu erteilen; hilfsweise zur Auslegung von Art 3 lit a der Verordnung (EG) Nr 469/2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel (CELEX 32009R0469) – nachfolgend ESZ VO – ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu stellen.
Sie beanstandet zusammengefasst, dass die ESZ VO eindeutig ins Leben gerufen worden sei, um die Forschung betreffend Kombinationsprodukte, enthaltend neue oder bekannte Bestandteile, zu belohnen. Im vorliegenden Fall habe die Patentinhaberin ein ESZ für eine neue Kombination eines Erzeugnisses beantragt, umfassend eine bekannte und eine neue Substanz. Die Anmeldung des Grundpatents sei am 25.7.1997 erfolgt. Die Marktzulassung für Truvada® sei am 21.2.2005 erteilt und am 24.2.2005 mitgeteilt worden. Da Truvada ® das erste zugelassene Erzeugnis gewesen sei, das Tenofovir Disoproxil in Kombination mit einem anderen antiviralen Wirkstoff enthalte, habe die Patentinhaberin im Wesentlichen sieben Jahre und sieben Monate der Patentlaufzeit verloren, bevor sie die Kombinationserfindung gemäß Anspruch 27 habe verwerten können. Das vorliegende ESZ würde der Patentinhaberin einen Ausgleich von ungefähr zwei Jahren und sieben Monaten der verlorenen Laufzeit verschaffen. Die jüngste EuGH-Rechtsprechung (C 322/10, Medeva und C 493/12, Lilly ) impliziere, dass die Antragstellerin Anspruch auf ein ESZ auf Grundlage von Anspruch 27 des Patents habe, und zwar in Bezug auf die erste Marktzulassung für eine Kombination, die Tenofovir Disoproxil enthalte.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist nicht berechtigt.
1.1 Verfahrensgesetze sind, sofern nicht ausdrücklich eine andere Regelung getroffen wurde, immer nach dem letzten Stand anzuwenden (RIS-Justiz RS0008733). § 139 PatG ordnet die sinngemäße Anwendung des Außerstreitgesetzes an.
Eine mündliche Verhandlung findet im Rekursverfahren nach § 52 Abs 1 1.Satz AußStrG nur statt, wenn das Rekursgericht eine solche für erforderlich erachtet. Selbst bei Vorliegen eines Antrags ist eine solche nicht zwingend vorzunehmen (RIS-Justiz RS0120357; zustimmend Klicka in Rechberger , AußStrG 2 § 52 Rz 1). Im Einklang dazu normiert § 103 Abs 2 PatG auch nur die Möglichkeit einer mündlichen Verhandlung, jedoch keine Verpflichtung.
1.2 Besondere Sachverhaltsfragen stellen sich hier nicht, und auch die Rechtslage ist nicht von besonderer Komplexität. Die Beurteilung, ob sich der Wirkstoff Emtricitabin als Kombinationskomponente für Tenofovir Disoproxil aus dem Patent offenbart, ist in erster Linie eine Rechtsfrage, weshalb Art 6 EMRK dem Unterbleiben einer Verhandlung nicht entgegensteht.
2. Nach § 1 SchZG 1996 werden ESZ, die in Österreich geltende Patente ergänzen, vom österreichischen Patentamt nach Maßgabe von Verordnungen der Europäischen Gemeinschaft über die Schaffung von ESZ erteilt. Die hier maßgebliche Verordnung ist die bereits zitierte ESZ VO. Nach ihren Erwägungsgründen soll durch die Erteilung eines ESZ berücksichtigt werden, dass der tatsächliche Patentschutz für ein neues Arzneimittel durch den Zeitablauf zwischen der Einreichung einer Patentanmeldung und der Genehmigung für das Inverkehrbringen so verringert wird, dass er für die Amortisierung der in der Forschung vorgenommenen Investition zureichend ist (Erwägungsgrund 4). Die Dauer des durch das Zertifikat gewährten Schutzes sollte einen ausreichenden tatsächlichen Schutz bewirken. Hierzu müssen demjenigen, der gleichzeitig Inhaber eines Patents und eines Zertifikats ist, insgesamt höchstens 15 Jahre Ausschließlichkeit ab der ersten Genehmigung des Inverkehrbringens eingeräumt werden (Erwägungsgrund 9; RIS-Justiz RS0120903).
3.1 Das Grundpatent betrifft Zwischenprodukte für Phosphonomethoxynucleotid-Analoga, insbesondere Zwischenprodukte, die sich zur Verwendung bei der wirksamen oralen Abgabe derartiger Analoga eignen. Die erfindungsgemäßen Verbindungen eignen sich zur Therapie oder Prophylaxe von einer oder mehreren viralen Infektionen bei Menschen oder Tieren, einschließlich Infektionen, die durch DNA-Viren, RNA-Viren, Herpes-Viren, Retroviren, Hepadna-Viren, Papilloma-Viren, Hanta-Viren, Adeno-Viren und HIV verursacht werden. Im Stand der Technik wird die antivirale Spezifität der Nucleotid-Analogen beschrieben. Die Spezifität des Ausgangsarzneistoffs gilt auch für die erfindungsgemäßen Verbindungen. Dosierungen, virale Ziele und geeignete Verabreichungswege, um die Infektionsstelle am besten anzugehen, sind auf dem Gebiet der Ausgangsarzneistoffe bekannt.
3.2 Das Patent enthält 33 Ansprüche; die für das Rekursverfahren relevanten lauten:
« 1 Verbindung mit der Formel (1a)
A-O-CH 2 -P(O)(-OC(R 2 ) 2 OC(O)X(R) a )(Z) [1a]
worin Z OC(R 2 ) 2 OC(O)X(R) a , ein Ester, ein Amidat oder OH ist,
A der Rest eines antiviralen Phosphonomethoxynucleotid-Analogons ist,
X N oder O ist,
R 2 unabhängig H, C 1 C 12 Alkyl, C 5 C 12 Aryl, C 2 C 12 Alkenyl, C 2 C 12 Alkinyl, C 7 C 12 Alkenylaryl, C 7 C 12 Alkinylaryl oder C 6 C 12 Alkaryl ist, wobei jedes unsubstituiert oder mit 1 oder 2 Halogen, Cyano, Azido, Nitro oder OR 3 , worin
R 3 C 1 C 12 Alkyl, C 2 C 12 Alkenyl, C 2 C 12 Alkinyl oder C 5 C 12 Aryl ist, substituiert ist,
R unabhängig H, C 1 C 12 Alkyl, C 5 C 12 Aryl, C 2 C 12 Alkenyl, C 2 C 12 Alkinyl, C 7 C 12 Alkenylaryl, C 7 C 12 Alkinylaryl oder C 6 C 12 Alkaryl ist, wobei jedes unsubstituiert oder mit 1 oder 2 Halogen, Cyano, Azido, Nitro oder N(R 4 ) 2 oder OR 3 substituiert ist, worin R 4 unabhängig H oder C 1 C 8 Alkyl ist, mit der Maßgabe, dass mindestens ein R nicht H ist, und
a 1 ist, wenn X O ist, oder 1 oder 2 ist, wenn X N ist,
mit der Maßgabe, dass, wenn a 2 ist und X N ist, (a) zwei N verknüpfte R Gruppen zusammengenommen werden können, um einen Heterocyclus, der Stickstoff enthält, oder einen Heterocyclus, der Stickstoff und Sauerstoff enthält, zu bilden, (b) ein N verknüpftes R zusätzlich OR 3 sein kann, oder (c) beide N verknüpften R Gruppen H sein können,
und die Salze, Hydrate, Tautomere und Sulfate davon.
6 Verbindung nach Anspruch 1, worin ein R 2 CH 3 und das andere R 2 H ist.
27 Pharmazeutische Zusammensetzung umfassend eine Verbindung nach irgendeinem der Ansprüche 1 bis 25 zusammen mit einem pharmazeutisch verträglichen Träger und gegebenenfalls anderen therapeutischen Bestandteilen.»
4. Die Anforderung für die Erteilung eines ESZ, „dass das Erzeugnis durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist“ (Art 3 ESZ VO iVm § 1 SchZG), erfordert zwingend die Betrachtung des Schutzbereichs und damit seine Festlegung unter Beachtung der durch das PatG vorgegebenen Regelungen (OBp 1/08).
Zunächst ist zu klären, ob das Grundpatent auch die Kombination Emtricitabin und Tenofovir Disoproxil im Sinne von Art 3 lit a ESZ VO schützt.
4.1 Für Patente bestehen seit Inkrafttreten von § 22a PatG eigene Auslegungsregeln (RIS-Justiz RS0118278; RS0030757 [T10]), die auch für ESZ heranzuziehen sind (vgl ausdrücklich OBp 1/08): Der Schutzbereich des Patents und der bekanntgemachten Anmeldung werden durch den Inhalt der Patentansprüche bestimmt. Die Beschreibung ist jedoch zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen (vgl Stauder in Singer/Stauder, EPÜ 6 Art 69 Rz 6 ff mwN).
4.2 Zu dieser Frage verwies die Antragstellerin im Wesentlichen auf zwei Entscheidungen des EuGH, nämlich C 322/10, Medeva BV; und C 493/12, Eli Lilly and Company, wobei die zweitgenannte Entscheidung für den vorliegenden Antrag maßgeblich sei . Sie meint, dass das Patentamt bei der Anwendung von Art 3 lit a ESZ VO zu strenge Maßstäbe angelegt habe: Aus der Entscheidung Lilly folge, dass die funktionale Formulierung des Anspruchs 27 („Pharmazeutische Zusammensetzung umfassend eine Verbindung nach irgendeinem der Ansprüche 1 bis 25 zusammen mit einem pharmazeutisch verträglichen Träger und gegebenenfalls anderen therapeutischen Bestandteilen.“) ausreiche, damit das Erzeugnis (die Kombination Emtricitabin und Tenofovir Disoproxil) geschützt sei. Der Fall Medeva, an dem sich das Patentamt orientiere, unterscheide sich davon deutlich.
4.3 Das „Erzeugnis“ ist gemäß Art 1 lit b ESZ VO der Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung eines Arzneimittels. Ein ESZ wird gemäß Art 2 ESZ VO nur für „Erzeugnisse“, also Wirkstoffe oder Wirkstoffkombinationen eines Arzneimittels erteilt. Auch der durch das Zertifikat gewährte Schutz erstreckt sich gemäß Art 4 leg cit allein auf das Erzeugnis, das von der Genehmigung für das Inverkehrbringen des Arzneimittels erfasst wird. Es ist daher unabhängig von den sonstigen im Arzneimittel enthaltenen Bestandteilen zu prüfen, ob das Grundpatent Emtricitabin als Kombinationsmittel mit Tenofovir Disoproxil umfasst (offenbart). Dies steht im Einklang mit der Entscheidung C 322/10, Medeva BV, Rz 37: «Im Übrigen ist ein ESZ nach Art 4 der [ESZ VO] dazu bestimmt, das von der Genehmigung für das Inverkehrbringen erfasste „Erzeugnis“ zu schützen und nicht das Arzneimittel als solches.»
5. Unstrittig ist die Offenbarung von Tenofovir Disoproxil im Grundpatent (Ansprüche 1 bis 25); ebenso, dass Emtricitabin zum Prioritätszeitpunkt dem Stand der Technik und damit dem Fachmann bekannt war.
5.1 Die Entscheidung Medeva (C 322/10) betraf (fünf) ESZ-Anmeldungen von Kombinationsimpfstoffen, wobei der EuGH deutlich machte, dass die Wirkstoffe zu den Kombinationen (die Bestandteile eines Kombinationsimpfstoffs) in den Ansprüchen genannt sein müssen, und diesbezüglich auf Art 5 der ESZ VO verwies. Demnach gewährt ein ESZ dieselben Rechte aber auch Verpflichtungen wie ein Grundpatent, weshalb Art 3 lit a ESZ VO so auszulegen ist, dass kein ESZ für Wirkstoffe zu erteilen ist, die nicht in den Ansprüchen genannt werden (C 322/10, Rz 28).
5.2 Im Fall Lilly (C 493/12) ging es um einen Antikörper, den der EuGH auf Grund der speziellen chemischen Natur von Antikörpern mit der funktionellen Kennzeichnung „Antikörper, der Neutrokin-alpha-Polypeptide bindet“ als ausreichend offenbart ansah. (Diese Entscheidung betrifft auch die von der Antragstellerin angeführte Entscheidung des High Court of England and Wales (Lilly [2014] EWHC 2404 (Pat)).
5.3 Jedoch behandelt keine der im Rekurs zitierten Entscheidungen die Fragestellung der Offenbarung/Nichtoffenbarung der Wirkstoffkombination (Tenofovir Disoproxil und Emtricitabin) im Grundpatent, oder – technisch besehen – vergleichbare Fragestellungen. Die Wirkstoffe sind jeweils klar definiert.
5.4 Bei den zur Sache selbst bereits vorliegenden nationalen Entscheidungen verweist die Antragstellerin insbesondere auf jene des High Court of England and Wales (Gilead [2008] EWHC 1902 (Pat)). Darin wird der Takeda-Test („Infringement“) angewendet, um festzustellen, ob die Kombination aus Tenofovir Disoproxil und Emtricitabin vom offen formulierten Anspruch 27 umfasst ist. Dieser Test lässt einen Eingriff („Infringement“) in das Grundpatent durch eine Kombination von Tenofovir Disoproxil und Emtricitabin vermuten, weil Tenofovir Disoproxil im Grundpatent geschützt ist und Emtricitabin unter das Merkmal „ gegebenenfalls anderen therapeutischen Bestandteilen “ (Anspruch 27) fällt, was vom High Court of England and Wales offenbar für die Kombination Tenofovir Disoproxil/Emtricitabin als ausreichende Stützung durch das Grundpatent betrachtet wurde.
Der High Court hielt aber fest, dass die EuGH-Entscheidung Farmitalia (C 392/97, Wirkstoff Idarubicin) relevant sei, ehe der Infringement Test herangezogen werde. Dass auch bei den anderen zur Sache ergangenen Entscheidungen letztlich die Entscheidung Farmitalia (und nicht Medeva ) entscheidend war, wird durch die Entscheidung des BPatG, 15W(pat)24/07 vom 12.5.2011) deutlich. Darin wird zwar die offene Formulierung des Anspruchs 27 des Grundpatents als ausreichende Offenbarung angesehen, die Schlussfolgerung geht jedoch unmissverständlich von der Sumatriptan Entscheidung des BGH (BGH X ZB 12/01 vom 29.1.2002) aus und wendet den 2. Leitsatz an („Das Schutzzertifikat kann auch für einen im Grundpatent als solchen nicht genannten Wirkstoff erteilt werden, der vom Schutzbereich eines Anspruchs des Grundpatents umfasst wird. Es kommt dann nicht darauf an, ob das Grundpatent auf diesen Wirkstoff beschränkt werden könnte oder ob darin mangels Offenbarung des konkreten Wirkstoffs eine unzulässige Erweiterung läge.“), der sich wiederum eindeutig auf die Entscheidung Farmitalia stützt; dies scheint im Zusammenhang korrekt zu sein, weil es darum ging, ob Sumatriptan-hydrogen-succinat (ein Salz des Sumatriptan) im Sinn der Entscheidung Farmitalia vom Schutzbereich des Grundpatents umfasst ist.
5.5 Die Bezugnahme auf die Entscheidung Farmitalia ist nach Ansicht des Rekurssenats unverständlich, weil die Fragestellung grundsätzlich eine andere ist: Bei Farmitalia ging es um die Offenbarung der Salze und Ester eines im Grundpatent klar gekennzeichneten Wirkstoffs und nicht um die Offenbarung eines zusätzlichen, neuen Wirkstoffs, der ausschließlich in Form einer nicht abgeschlossenen Formulierung eines Unteranspruchs offenbart ist. Auch der 2. Leitsatz des BGH in der Sumatriptan -Entscheidung, der sogar eine Erweiterung des Schutzumfanges zulässt, kann sich nur auf Salze und Ester beziehen. Würde man aber die Erkenntnisse aus Farmitalia (oder Sumatriptan ) auf die hier vorliegende Fragestellung übertragen, würde der Eindruck entstehen, dass die offene Formulierung des Anspruchs 27 des Grundpatents über die tatsächliche Offenbarung von Tenovofir Disoproxil hinausgehend noch weitere Wirkstoffe als Kombination offenbare.
6.1 Um festzustellen, ob ein Erzeugnis nach Art 3 lit a der ESZ VO auch im Sinne von Art 5 den Voraussetzungen der ESZ VO genügt, ist – wie bereits zu 4.1 ausgeführt – der Schutzumfang des Grundpatents zu bestimmen. Die Auswahlmöglichkeiten des Fachmanns sind daher nicht nur auf den Stand der Technik zum Prioritätszeitpunkt begrenzt. Der Fachmann hat sich an den Patentansprüchen zu orientieren, in weiterer Folge an der ganzen Offenbarung des Grundpatents. Dort findet er nicht nur die zugrundeliegende technische Problemstellung, sondern auch diverse technische Möglichkeiten zu deren Lösung. Die Zahl der Lösungswege muss dabei nicht vollständig im Grundpatent offenbart sein, Äquivalente, handwerkliche und übliche technische Maßnahmen sowie Standardmethoden sind automatisch mitumfasst.
6.2 Bei der Feststellung des Schutzbereichs steht der Fachmann vor dem Problem, im Rahmen der technischen Aufgabenstellung des Grundpatents alle jene technischen Lösungen zu finden, die selbst noch keine über die Offenbarung des zu interpretierenden Grundpatents hinausgehende eigene Erfindung sind („ohne erfinderisches Bemühen“). Weiter muss der Fachmann ausreichende Motivation („could-would“; vgl Kinkeldey/Karamanli in Benkard, EPÜ 2 Art 56 Rz 72; Kroher in Stauder/Luginbühl, EPÜ 6 Art 56 Rz 54 ff; 17 Ob 24/09t; zuletzt Op 3/12) haben und die Tätigkeit darf nicht unzumutbar sein („without due burden“). Zudem ist bei der Auslegung nicht nur auf einen angemessenen Schutz für den Patentinhaber sondern auch auf die Rechtssicherheit Dritter Rücksicht zu nehmen (vgl RIS-Justiz RS0118279; 4 Ob 178/03k;
4 Ob 29/06b; Obp 1/08).
7. Vor diesem Hintergrund muss die Aufgabenstellung im Sinne des Anspruchs 27 des Grundpatents Tenofovir Disoproxil mit „gegebenenfalls anderen therapeutischen Bestandteilen“ zusammengebracht werden. Es ist eine Auswahl an „therapeutischen Bestandteilen“ zu treffen, die der Stand der Technik zum Prioritätszeitpunkt bereitstellt.
7.1 Die Auswahl in Bezug auf das Merkmal „gegebenenfalls andere therapeutische Bestandteile“ lässt zahllose Kombinationen zu. Außerdem muss der Fachmann bei seiner Auswahl unter Berücksichtigung der oben genannten Erfordernisse und Beschränkungen nicht nur allgemein irgendwelche „therapeutischen Bestandteile“, auch nicht irgendwelche im technischen Zusammenhang sinnvolle Kombinationswirkstoffe sondern Emtricitabin auffinden.
7.2 Zieht der Fachmann alle Ansprüche heran, erkennt er, dass sich die Offenbarung einer Wirkstoffkombination im Grundpatent tatsächlich nur auf den Anspruch 27 stützt, der auf Tenofovir Disoproxil und „gegebenenfalls andere therapeutische Bestandteile“ abgestellt ist. Mangels einer abschließenden Formulierung und der sich daraus ergebenden fehlenden Genauigkeit und Unterscheidungskraft wendet sich der Fachmann zwangsläufig der Beschreibung zu, die jedoch auch keine Definition oder Eingrenzung des Merkmals enthält (vgl Beschreibung Seiten 47–51).
Im Gegensatz zu den Entscheidungen Lilly (Antikörper gegen Neutrokin-Alpha) und Medeva (Bestandteile des Impfstoffs) wird im vorliegenden Grundpatent kein Hinweis zur Definition des Begriffs „gegebenenfalls andere therapeutische Bestandteile“ offenbart.
Selbst wenn Medeva so auszulegen wäre, dass die „gegebenenfalls andere therapeutische Bestandteile“ nicht, wie das Patentamt argumentiert hat, (wortwörtlich) in den Ansprüchen angeführt sein müssen, erhielte der Fachmann – wie die Antragstellerin auch nicht in Abrede stellt – aus dem Grundpatent keinen Hinweis darauf, wie dieses Merkmal zu definieren ist.
7.3 Mit der Behauptung, der Fachmann würde vom Stand der Technik zum Prioritätszeitpunkt ausgehend ganz selbstverständlich Emtricitabin als Kombinationswirkstoff auffinden, weil ihm Emtricitabin und die Möglichkeit Nucloeoside-Analoga zu kombinieren, bekannt gewesen seien, ist nichts gewonnen: Das Problem besteht nicht in der Kenntnis des Fachmanns, insbesondere wenn dieser als Spezialist für HIV-Therapie definiert wird (dann ist anzunehmen, dass ihm sämtliche zum Prioritätszeitpunkt zum Stand der Technik gehörende Wirkstoffe und Kombinationen davon bekannt sind), sondern in der Auswahl der im Sinn des Grundpatents richtigen „therapeutischen Bestandteile“. Dabei ist es für den Fachmann zunächst nicht hilfreich, dass der Begriff „therapeutische Bestandteile“ im Wortsinn alle „zur Therapie gehörenden Bestandteile“ umfasst, worunter nicht nur Wirkstoffe sondern auch Hilfsstoffe aller Art fallen. Der Begriff ist somit noch breiter und weniger definiert als etwaige Oberbegriffe für Wirkstoffgruppen, die bereits nach der Rechtsprechung eine gezielte Auswahl nicht ausreichend definieren (vgl OPM OBp 1/08).
7.4 Selbst unter der Annahme, ein Fachmann der HIV-Therapeutik würde durch die Notwendigkeit, aus dem gesamten Stand der Technik auswählen zu müssen, nicht abgeschreckt und wäre durch die Aufgabenstellung des Grundpatents angehalten, weitere Wirkstoffe zur HIV-Therapie als Kombination bereitzustellen, fände er sich ohne Hinweise im Grundpatent mit einer (sehr) großen Zahl von möglichen Wirkstoffen konfrontiert.
7.5 Auch unter der weiteren Annahme einer Eingrenzung der Wirkstoffe auf Nucleosid-Analoga und Kombinationen davon zur anti-viralen oder anti-HIV Therapie, ist dem Fachmann bewusst, dass eine willkürliche Auswahl von solchen Wirkstoffen keine wirksame technische Lösung der Aufgabenstellung des Grundpatents sein muss.
7.6 Dabei steht der Fachmann zusätzlich noch vor dem Problem, nicht nur irgendwelche Kombinationen, sondern ganz spezifisch Emtricitabin auswählen zu müssen, ohne aus dem Grundpatent Informationen zu erhalten, die den Stand der Technik so eingrenzen, dass ihm in naheliegender Weise, ohne erfinderisches Bemühen eine Auswahl eines anti-viralen oder eines anti-HIV Wirkstoffs, insbesondere aber des Emtricitabins möglich wäre.
7.7 Der Fachmann muss daher einerseits aus dem gesamten Stand der Technik eine Auswahl treffen, weil das Grundpatent keine Kriterien für „gegebenenfalls andere therapeutische Bestandteile“ offenbart, als dass diese „therapeutisch“ sein sollen; andererseits aber soll der Fachmann selbst unter der willkürlichen Annahme einer Beschränkung auf Nucleosid-Analoga der anti-viralen oder anti-HIV-Therapie, auf die aus der Zulassung bekannte Wirkstoffkombination Tenfovir Disoproxil und Emtricitabin kommen.
Dieser Widerspruch zwischen einer nur durch die allgemeine Aufgabenstellung des Grundpatents beschränkten Auswahl aus dem gesamten Stand der Technik und der Notwendigkeit, das Merkmal „gegebenenfalls andere therapeutische Bestandteile“ ohne Hinweise aus der Offenbarung des Grundpatents speziell auf den nachträglich zugelassenen Wirkstoff Emtricitabin beschränken zu müssen, um die erfindungsgemäße Aufgabe überhaupt, insbesondere aber im Sinne der Antragstellerin lösen zu können, weist auf das Vorliegen einer ex-post Betrachtung hin.
7.8 Dazu werden die Zweifel, ob überhaupt eine sinnvolle Auswahl auf Grund der Informationen im Grundpatent möglich wäre, durch die Tatsache bestärkt, dass im pharmazeutischen Bereich aufwändige klinische Studien zur Feststellung der Wirksamkeit und zum Ausschließen von unerwünschten Wirkungen jeder möglichen Kombination erforderlich sind. Diese halten den Fachmann davon ab, den möglichen, zum Großteil rein spekulativen technischen Lösungen nachzugehen.
7.9 Letztlich aber zeigen schon die Wirkung an sich und die damit verbundenen Vorteile einer Kombination beider Wirkstoffe (zum Beispiel monotherapeutische Prophylaxe), dass eine Auswahl von Emtricitabin als Kombinationspartner des Tenofovir Disopril zum Prioritätszeitpunkt nicht abschätzbare technische Effekte mit sich gebracht hätte; eine solche Auswahl ist selbst eine Erfindung, weshalb die zugelassene Wirkstoffkombination per Definition zum Prioritätszeitpunkt nicht vom Grundpatent umfasst sein konnte (vgl 4 Ob 178/03k; Obp 1/08).
7.10 Die Entscheidung des Patentamts bedarf keiner Korrektur. Die Wirkstoffkombination war zum Prioritätszeitpunkt im Grundpatent nicht offenbart.
8. Die Parteien können die Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH nach Art 267a EUV anregen; der im Zusammenhang mit Art 3 lit a der ESZ VO aufgeworfenen Fragen sind jedoch hinreichend vom EuGH geklärt und die vorliegende Entscheidung stimmt mit der Spruchpraxis überein.
9. Da die Entscheidung keine Rechtsfrage von der Qualität des § 62 Abs 1 AußStrG aufwarf und über den Einzelfall hinaus nicht bedeutsam ist, ist der Revisionsrekurs nicht zulässig.
In diesem Fall hat das Rekursgericht nach § 59 Abs 2 AußStrG auszusprechen, ob der Wert des Entscheidungsgegenstands, der – wie hier – rein vermögensrechtlicher Natur ist, aber nicht in einem Geldbetrag besteht, EUR 30.000,-- übersteigt.
Diese Voraussetzung ist angesichts der Bedeutung von ESZ im Wirtschaftsleben gegeben.
[Der Oberste Gerichtshof wies den außerordentlichen Revisionsrekurs am 26.9.2016 zurück, 4 Ob 169/16f.]