JudikaturOLG Wien

10Rs149/14a – OLG Wien Entscheidung

Entscheidung
17. April 2015

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Ciresa als Vorsitzende, den Richter Mag. Atria und die Richterin Mag. Derbolav-Arztmann sowie die fachkundigen Laienrichter Christian Kisling und Gerd Wiehart in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S***** Z*****, ***** , 1220 Wien, im Berufungsverfahren unvertreten, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt , Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Mag. Roman Maier, ebendort, wegen Invaliditätspension, über die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 11.6.2014, 22 Cgs 134/13a-15, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird teilweise Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass es zu lauten hat:

„1. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem 1.12.2012 bis zum 28.2.2015 zu gewähren, besteht dem Grunde nach zu Recht.

2. Das Mehrbegehren auf Gewährung einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß über den 28.2.2015 hinausgehend wird abgewiesen.

3. Der beklagten Partei wird aufgetragen, der klagenden Partei für den Zeitraum vom 1.12.2012 bis 28.2.2015 eine vorläufige Zahlung von EUR 750,-- monatlich binnen 14 Tagen nach Zustellung dieses Urteils zu erbringen.“

Die ordentliche Revision ist zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 20.9.1964 geborene Kläger bezog von der beklagten Partei vom 1.6.2010 bis 30.11.2012 eine befristet gewährte Invaliditätspension. Grundlage dieser Pensionsgewährung war der im Verfahren 38 Cgs 168/10i des ASG Wien in der Verhandlung vom 18.7.2011 abgeschlossene Vergleich. In der Verhandlung wurde der Kläger vom Vorsitzenden und vom Beklagtenvertreter über seine Mitwirkungspflicht ( „Inanspruchnahme einer Psychotherapie nach Maßgabe der Weisungen eines Psychiaters“ ) belehrt (38 Cgs 168/10i, Protokoll ON 19).

Der Kläger verstand diese Belehrung, suchte aber dennoch nicht gleich seinen behandelnden Psychiater auf. Stattdessen konsultierte er weiterhin regelmäßig seinen Hausarzt Dr. K*****, der ihm in etwa monatlichem Abstand die schon früher verordneten Antidepressiva und Opioide weiter verschrieb. Es gibt keinen Grund, warum der Kläger statt des Hausarztes nicht gleich den Psychiater aufsuchen hätte können. Erst am 27.2.2012 begab sich der Kläger wieder in Behandlung des Facharztes für Psychiatrie, Dr. ***** U*****, bei dem er schon im Jahr 2009 in Behandlung gestanden war. Seither steht er dort (wieder) regelmäßig in Behandlung. Über Anregung des Dr. U***** begann der Kläger im Jänner 2013 eine Psychotherapie bei der Psychologin Dr. D*****. Ein früherer Beginn der Psychotherapie war nicht möglich, weil der Kläger eine Behandlung in seiner Muttersprache braucht und vorher kein geeigneter Therapieplatz gefunden werden konnte.

Mit Bescheid vom 13.3.2013 lehnte die beklagte Partei den Weitergewährungsantrag des Klägers ab.

Infolge dagegen erhobener Klage hat das Erstgericht mit dem nun angefochtenen Urteil den Anspruch des Klägers auf Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß über den 30.11.2012 hinaus bis zum 31.8.2015 als zu Recht bestehend festgestellt und der beklagten Partei eine vorläufige Zahlung von EUR 750,-- monatlich aufgetragen.

Neben den eingangs wiedergegebenen Feststellungen führte das Erstgericht zum Sachverhalt aus, dass nicht festgestellt werden kann, ob und wann der Kläger, hätte er die Mitwirkungspflicht früher erfüllt, arbeitsfähig gewesen wäre. Zum Stichtag für die Weitergewährung (30.11.2012) ist der Kläger aufgrund seiner psychischen Erkrankung auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht einordenbar. Infolge der psychischen Störung bestehen Instabilität und Leistungsmängel, die den Kläger vom Erwerbsleben ausschließen. Durch eine traumaspezifische stationäre Langzeittherapie im psychosomatischen Zentrum Waldviertel ist mit einer kalkülsrelevanten Besserung zu rechnen. Tatsächlich hat sich der Kläger zwischenzeitig mit dem psychosomatischen Zentrum Waldviertel, Klinik Eggenburg, in Verbindung gesetzt und steht dort seit dem 7.5.2014 auf der Warteliste für eine entsprechende stationäre Langzeittherapie. Dabei ist mit einer Wartezeit von durchschnittlich 8 bis 12 Monaten zu rechnen, die Aufenthaltsdauer in der Fachklinik wird zirka 10 bis 12 Wochen betragen.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, dass der Kläger zum Stichtag für die Weitergewährung auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht einordenbar sei, allerdings habe der Kläger seine Mitwirkungspflicht aus dem Vorverfahren schuldhaft verletzt, indem er mit der ihm zumutbaren Behandlung nach der Belehrung im Juli 2011 erst im Februar 2012 begonnen habe. Eine Verletzung der Mitwirkungspflicht führe dazu, dass ein Anspruch auf eine Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit ab dem Zeitpunkt nicht bestehe, zu dem die Heilbehandlung, wäre sie durchgeführt worden, zu einer Besserung des Zustands geführt hätte. Die schuldhafte Verletzung der Mitwirkungspflicht sei vom beklagten Pensionsversicherungsträger zu behaupten und zu beweisen. Im Beweisverfahren habe nicht festgestellt werden können, ob und wann der Kläger, hätte er die Mitwirkungspflicht früher erfüllt, arbeitsfähig gewesen wäre. Vielmehr sei für die Besserung des Zustands des Klägers in Optimierung der schon im Vorverfahren vorgeschlagenen Behandlung nun eine stationäre Langzeittherapie erforderlich, wofür der Kläger seit 7.5.2014 auch schon vorgemerkt sei. Der beklagten Partei sei es daher nicht gelungen, zu beweisen, dass der verzögerte Behandlungsbeginn im Februar 2012 statt im Juli 2011 zu einer (früheren) Arbeitsfähigkeit des Klägers geführt hätte. Ausgehend von einer Wartezeit von maximal 12 Monaten auf einen stationären Therapieplatz und einer anschließenden Behandlungsdauer vor Ort von 12 Wochen dauere die Arbeitsunfähigkeit des Klägers derzeit (Schluss der mündlichen Verhandlung am 11.6.2014; Anmerkung des Berufungsgerichts) jedenfalls voraussichtlich bis August 2015 an. Dem Kläger sei daher bis zum Abschluss der nunmehrigen Therapie – voraussichtlich mit August 2015 – neuerlich eine befristete Invaliditätspension zuzuerkennen.

Gegen den Zuspruch der Invaliditätspension für den Zeitraum vom 1.1.2012 bis 31.8.2015 richtet sich die Berufung der beklagten Partei aus den Berufungsgründen der unrichtigen rechtlichen Beurteilung und der Mangelhaftigkeit des Verfahrens mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im gänzlich klageabweisenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger hat sich am Berufungsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung ist teilweise berechtigt.

1. Unter dem Berufungsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens bringt die beklagte Partei vor, dass sie von der Rechtsansicht des Erstgerichts überrascht worden sei, da in den Tagsatzungen keinerlei Erörterungen in diese Richtung angestellt worden seien, sondern einzig die vom Kläger nicht wahrgenommene Mitwirkungspflicht festgestellt worden sei. Für die beklagte Partei sei daher nicht erkennbar gewesen, dass das Erstgericht seine Entscheidung auf Umstände gründen würde, welche – nach Ansicht des Erstgerichts – von der beklagten Partei zu beweisen wären. Hätte das Erstgericht seine Rechtsansicht mit der beklagten Partei erörtert, so hätte diese „ein entsprechendes Vorbringen entgegenhalten können“ .

Dem ist zu erwidern, dass bereits zweifelhaft ist, ob hier überhaupt eine überraschende Rechtsansicht des Erstgerichts im Sinne des § 182a ZPO vorliegt. Aus dem Protokoll der Tagsatzung vom 26.11.2013 kommt deutlich zum Ausdruck, dass die Vorsitzende des Erstgerichts mit den Parteien ausführlich erörtert hat, ob und gegebenenfalls bis wann der Kläger seiner Mitwirkungspflicht schuldhaft nicht nachgekommen ist (Protokoll ON 10). Ob mit den Parteien in dieser Tagsatzung oder allenfalls auch noch in den folgenden Tagsatzungen nach den zusätzlich aufgenommenen Beweisen Fragen der Behauptungs- und Beweislast im Zusammenhang mit der Mitwirkungspflicht besonders zu erörtern gewesen wären, kann dahingestellt bleiben, weil die beklagte Partei in ihrer Berufung nicht darlegt, welches konkrete Vorbringen bzw welche weiteren Beweisanträge sie bei der von ihr erforderlich erachteten Erörterung erstattet hätte. Dadurch wird die Relevanz des behaupteten Verfahrensmangels nicht dargetan ( Klauser/Kodek ZPO 17 § 182a E 9; Schragel in Fasching/Konecny 2 II/2 §§ 182, 182a ZPO Rz 10).

2. In ihrer Rechtsrüge bringt die beklagte Partei vor, dass es im vorliegenden Fall lediglich darum gehe, dass der Kläger seine Mitwirkungspflicht schuldhaft verletzt habe, indem er den Beginn einer zumutbaren Heilbehandlung, nämlich einer Psychotherapie nach den Vorgaben seines behandelnden Psychiaters Dr. ***** U*****, grundlos verzögert und daher seinen Anspruch auf Weitergewährung der Pension verwirkt habe. Durch das unverzügliche Antreten der aufgetragenen Psychotherapie hätte der Kläger den „Schaden“ (Verpflichtung der beklagten Partei zur Weitergewährung der Pension über den 30.11.2012 hinaus) vermeiden können. Im Regelfall sei auch kaum zu beweisen, dass unter der Annahme einer früher begonnenen Therapie auch wieder Arbeitsfähigkeit eingetreten wäre. Es sei auch nicht nachvollziehbar, warum die Beweislast dafür bei der beklagten Partei liegen sollte.

Diese Ausführungen sind teilweise berechtigt.

2.1. Eine schuldhafte, also zumindest leicht fahrlässige Verletzung der Mitwirkungspflicht eines Versicherten, sich einer zumutbaren Heilbehandlung zu unterziehen, durch die seine – herabgesunkene – Arbeitsfähigkeit soweit gebessert werden könnte, dass Invalidität oder Berufsunfähigkeit nicht mehr vorliegt, führt nach ständiger Rechtsprechung dazu, dass ein Anspruch auf eine Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit ab dem Zeitpunkt nicht besteht, zu dem die Heilbehandlung, wäre sie durchgeführt worden, zu einer Besserung des Zustandes geführt hätte. Zwischen Gewährung und Entziehung wird dabei nicht differenziert (RIS-Justiz RS0084353 T14 und 15). Grundsätzlich trifft den Pensionsversicherungsträger die Behauptungs- und Beweislast, dass die Voraussetzungen der Pensionsleistung bei einer zumutbaren Behandlung nicht mehr gegeben sind (RIS-Justiz RS0083813; Sonntag in Sonntag , ASVG 6 § 256 Rz 18). Hat jedoch der Pensionsversicherungsträger eine Verletzung der Mitwirkungspflicht und den Umstand nachgewiesen, dass es bei Durchführung der unterlassenen Behandlung zu einer Besserung des Gesundheitszustandes gekommen wäre, hat er den Anscheinsbeweis erbracht, dass dadurch auch die Arbeitsunfähigkeit beseitigt worden wäre. Diesfalls ist es Sache des Versicherten, im Einzelnen zu behaupten und zu beweisen, dass die Behandlung zu keiner die Arbeitsunfähigkeit beseitigenden Besserung seines Gesundheitszustandes geführt hätte (10 ObS 58/11v; Sonntag aaO Rz 18a).

2.2. Im vorliegenden Fall ist im Berufungsverfahren nicht mehr strittig, dass der Kläger seine Mitwirkungspflicht schuldhaft verletzt hat, indem er nicht schon nach dem Vergleichsabschluss vom 18.7.2011 und der in der Rechtsprechung im Allgemeinen als angemessen erachteten Überlegungsfrist von vier Wochen (RIS-Justiz RS0084379), sondern erst am 27.2.2012 einen Facharzt für Psychiatrie aufgesucht hat. Ab diesem Zeitpunkt ist dem Kläger keine weitere Verletzung seiner Mitwirkungspflicht vorzuwerfen. Die Verletzung der Mitwirkungspflicht durch den Kläger hat daher im Wesentlichen zu einem um sechs Monate verspäteten Behandlungsbeginn geführt.

Richtig ist, dass von der beklagten Partei – neben der Verletzung der Mitwirkungspflicht – unter Beweis gestellt werden konnte, dass im Rahmen der vom Kläger am 27.2.2012 begonnenen Behandlung (zunächst beim Facharzt für Psychiatrie Dr. ***** U*****, in der Folge Psychotherapie bei der Psychologin Dr. D*****, in weiterer Folge stationäre Langzeittherapie im Psychosomatischen Zentrum Waldviertel) mit einer kalkülsrelevanten Besserung mit 31.8.2015 zu rechnen ist. Vor diesem Hintergrund traf den Kläger die Beweislast dafür, dass auch bei einem um sechs Monate früheren Behandlungsbeginn mit einer kalkülsrelevanten Besserung nicht vor Ende August 2015 zu rechnen gewesen wäre. Dieser Beweis wurde vom Kläger nicht erbracht.

Wesentlich ist jedoch, dass eine Pflichtverletzung des Versicherten – wie generell des Geschädigten bei der Anwendung der Schadensminderungspflicht nach § 1304 ABGB – nur dann relevant ist, wenn sie für die Entwicklung des Schadens adäquat kausal geworden ist. Könnte daher durch eine zumutbare Krankenbehandlung die herabgesunkene Arbeitsfähigkeit des Versicherten soweit gebessert werden, dass Invalidität bzw Berufsunfähigkeit nicht mehr vorliegt, so besteht kein Anspruch auf Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit, wobei dieser „Pensionsentfall“ allerdings erst zu jenem Zeitpunkt eintritt, in dem die Heilbehandlung zu einer (kalkülsrelevanten) Verbesserung des Zustands tatsächlich geführt hat oder geführt hätte, wäre sie vom Versicherten durchgeführt worden (RIS-Justiz RS0084370; zuletzt 10 ObS 58/11v; Sonntag aaO § 256 Rz 8).

Auf Grundlage des festgestellten Sachverhaltes und der dargelegten Beweislastverteilung ist daher davon auszugehen, dass eine kalkülsrelevante Besserung beim Kläger sechs Monate vor dem 31.8.2015 angenommen werden kann, wenn der Kläger die ihm obliegende Behandlung sechs Monate vor dem 27.2.2012 (tatsächlicher Behandlungsbeginn) begonnen hätte. Infolge Verletzung seiner Mitwirkungspflicht hat der Kläger daher auch nur Anspruch auf eine befristete Invaliditätspension bis zum 28.2.2015 und war der Berufung in diesem Umfang stattzugeben. Das grundsätzliche Außerkrafttreten der Bestimmung des § 256 ASVG mit Ablauf des 31.12.2013 stand dem Zuspruch einer zeitlich darüberhinausgehenden befristeten Invaliditätspension aufgrund der Übergangsbestimmung des § 669 Abs 6 ASVG nicht entgegen.

Eine Kostenentscheidung konnte schon deshalb entfallen, weil keine Kosten verzeichnet wurden.

Die Auswirkungen einer bloßen Verzögerung der Behandlungsobliegenheit eines Versicherten auf die Dauer eines weiteren Anspruches auf befristete Invaliditätspension war – soweit vom erkennenden Senat überblickbar – noch nicht Gegenstand oberstgerichtlicher Rechtsprechung. Die ordentliche Revision war daher zuzulassen (§ 502 Abs 1 ZPO).

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