JudikaturOLG Wien

21Bs401/14w – OLG Wien Entscheidung

Entscheidung
09. Dezember 2014

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat durch den Senatspräsidenten Dr.Krenn als Vorsitzenden sowie die Richterinnen Mag.Edwards und Mag.Sanda als weitere Senatsmitglieder in der Strafvollzugssache des P***** S***** wegen bedingter Entlassung aus Freiheitsstrafen über dessen Beschwerde gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten vom 13. November 2014, GZ 15 BE 452/14i-5, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Beschwerde wird Folge gegeben, der angefochtene Beschluss gemäß § 17 Abs 1 Z 3 StVG iVm § 89 Abs 2a Z 3 StPO aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Der am ***** geborene österreichische Staatsbürger P***** S***** verbüßt in der Justizanstalt S***** eine wegen der Vergehen nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Strafsatz; 125 StGB verhängte Freiheitsstrafe in der Dauer von einem Jahr. Das Strafende fällt auf den 11.5.2015, die zeitlichen Voraussetzungen für eine Entlassung nach der Hälfte der Strafzeit sind seit 11.11.2014 erfüllt, zwei Drittel der Freiheitsstrafe werden am 11.1.2015 verbüßt sein.

Mit dem angefochtenen Beschluss lehnte das Landesgericht St. Pölten als zuständiges Vollzugsgericht die bedingte Entlassung aus spezialpräventiven Gründen unter Hinweis auf drei (richtig: zwei) einschlägige Vorstrafen und die Wirkungslosigkeit bisher angebotener Resozialisierungsmaßnahmen ab. Damit übereinstimmend hatten sich die Staatsanwaltschaft St. Pölten sowie der Leiter der Justizanstalt S***** insbesondere im Hinblick auf eine im Jänner 2014 unter Anordnung von Bewährungshilfe gewährte bedingte Entlassung ablehnend zu einer neuerlichen Vollzugskürzung geäußert.

Dagegen richtet sich die unmittelbar bei Kundmachung der Beschwerde erhobene (ON 6) und fristgerecht schriftlich näher ausgeführte Beschwerde (ON 7), der Berechtigung zukommt.

Rechtliche Beurteilung

Soweit der Beschwerde eine Kritik dahingehend zu entnehmen ist, vom Gericht „nicht befragt“ worden zu sein, ist trotz des Antrags des Strafgefangenen auf Anhörung (AS 11 in ON 2) darauf zu verweisen, dass § 153 StVG eine diesbezügliche Pflicht des Vollzugsgerichts bei Freiheitsstrafen bis zu achtzehn Monaten nicht vorsieht (OLG Wien 21 Bs 14/12f; aM OLG Graz 8 Bs 221/13f, Pieber in WK-StVG § 152a Rz 2).

Das StVG unterscheidet im Dritten (§§ 131ff) und Vierten Abschnitt (§§ 153ff) seines Dritten Teils zwischen dem Vollzug von Freiheitsstrafen, deren Strafzeit 18 Monate (bis 31.12.2000: ein Jahr) übersteigt, und solchen, deren Strafzeit 18 Monate nicht übersteigt. § 153 StVG bestimmt, dass für letzteren Fall die §§ 131 bis 133a und 147 bis 152 dem Sinne nach gelten, sodass § 152a StVG auf Fälle einer 18 Monate nicht übersteigenden Strafzeit nicht anzuwenden ist.

Bereits bei Einführung des § 152a StVG mit BGBl. Nr. 605/1987 – wobei Aufbau und Systematik des StVG im angesprochenen Punkt schon damals ident waren, mit der bloßen Abweichung, dass der Vollzug von Freiheitsstrafen von über oder unter einem Jahr (statt achtzehn Monaten) angesprochen war - wiesen die Materialien darauf hin, dass die Anhörung eines Strafgefangenen einen wesentlichen Verfahrensaufwand darstellt und die bis dahin bestehenden Vorschriften, die eine Anhörung nicht vorgesehen hatten, „ nicht selten ausreichen, um eine sachrichtige Entscheidung zu gewährleisten. Schon im Hinblick auf die große Zahl der alljährlich an die Gerichte herangetragenen Ansuchen um bedingte Entlassung kann auch nicht empfohlen werden, das danach zulässige Aktenverfahren allgemein durch ein Verfahren zu ersetzen, bei dem etwa der Strafgefangene selbst dem Gericht vorgeführt und angehört werden müsste. “ (EBRV 359 BlgNr 17.GP, 60).

In der demzufolge ausdrücklichen Nichterwähnung des § 152a StVG in dem zwischenzeitig mehrfach, gerade auch in Bezug auf die Zitierung anzuwendender Gesetzesstellen (insbesondere BGBl. Nr. 779/1993, BGBl. I Nr. 142/2009) novellierten § 153 StVG kann daher entgegen der Rechtsansicht des Oberlandesgerichts Graz keine planwidrige Lücke, sondern vielmehr der deklarierte Wille des historischen Gesetzgebers ersehen werden, den durch die Anhörung erhöhten Verfahrensaufwand nur bei Freiheitsstrafen längeren Ausmaßes vorzusehen, die den durch längere soziale Entwurzelung erforderlichen Informationsgewinn bzw. die Anerkennung des Bedürfnisses des Strafgefangenen um persönliche Vorsprache in ausreichendem Maße rechtfertigen.

Auch der in der zitierten Entscheidung des OLG Graz zur Untermauerung seiner Rechtsansicht enthaltene Hinweis auf § 156b Abs 4 StVG, wonach auch im Falle des elektronisch überwachten Hausarrests (eüH) uneingeschränkt die sinngemäße Anwendung des § 152a StVG angeordnet werde, obwohl dieser weitaus weniger eingriffsintensiv und überhaupt nur bei einer zwölf Monate nicht übersteigenden Strafzeit möglich sei, überzeugt nicht. Die im Aktenverfahren des § 152 StVG einzuholende Stellungnahme des Anstaltsleiters soll insbesondere darüber Aufschluss geben, welche Anhaltspunkte sich aus der Person des Strafgefangenen, seiner Aufführung im Vollzug und aus den zu erwartenden äußeren Umständen im Zeitpunkt einer allfälligen Entlassung für die Lebensführung des Verurteilten in Freiheit ergeben (§ 152 Abs 2 dritter Satz StVG). Im Fall des eüH kann mangels Vollzugs der Strafhaft innerhalb der Justizanstalt und somit faktisch entfallender Beobachtungsmöglichkeit des täglichen Verhaltens des Strafgefangenen eine solche Äußerung vom Anstaltsleiter nicht erwartet werden. Vielmehr können die nötigen Informationen samt persönlichem Eindruck im Fall des eüH eben ausschließlich durch eine Anhörung erlangt werden. Die vom Gesetzgeber vorgenommene Differenzierung in Bezug auf die §§ 153 bzw. 156b Abs 4 StGB ist daher sachgerecht.

Im Übrigen steht dem Umstand, dass der Gesetzgeber in diesen Fällen keine förmliche Pflicht zur Anhörung vorsieht, nicht entgegen, dass das Vollzugsgericht nach seinem Ermessen im Rahmen der für die Prognoseerwägungen erforderlichen Sachverhaltserhebung eine solche Anhörung aus eigenem Antrieb durchführt.

In der vorliegenden Vollzugssache legt der Strafgefangene mit der Beschwerde eine stationäre Therapieplatzzusage vor und erklärt, während der bisherigen Haft die Ursache seiner Straffälligkeit in seiner Drogenproblematik erkannt zu haben, die er nunmehr bekämpfen wolle. Mit dem in der Beschwerde zugestandenen Rückfall ist offenbar das im Bericht des Anstaltsleiters angeführte offene Verfahren wegen einer Ordnungswidrigkeit („unerlaubter Besitz“; AS 3 in ON 2) angesprochen.

Der Strafgefangene weist entgegen der erstgerichtlichen Begründung zwei Vorstrafen auf, weil die ersten beiden in der Strafregisterauskunft wegen Jugendstraftaten - jeweils wegen Einbruchsdiebstahls gemäß §§ 127, 129 Z 1 StGB – aufscheinenden Einträge aus dem Jahr 2012 im Verhältnis der §§ 31, 40 StGB stehen. Diese Vorverurteilungen gewähren jeweils bedingte Strafnachsicht zu einer viermonatigen Freiheitsstrafe und einer fünfmonatigen Zusatzstrafe. Am 12.9.2013 wurde Patrick Singer wegen gewerbsmäßigen Diebstahls zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von zwölf Monaten verurteilt, aus dem unbedingten, viermonatigen Strafteil wurde er am 17.1.2014 unter Anordnung von Bewährungshilfe bedingt entlassen. Sämtlichen Vorverurteilungen ist ebenfalls jeweils die Anordnung von Bewährungshilfe zu entnehmen.

Da die nunmehr vorgelegte Therapieplatzzusage an den Psychologischen Dienst der Justizanstalt S***** gerichtet ist (AS 5 in ON 7), kann davon ausgegangen werden, dass der Insasse in betreuendem und unterstützendem Kontakt mit dieser Einrichtung steht und sein nunmehriges Vorbringen daher sachlich untermauert ist. Auch die Vorstrafensituation, die sich – abgesehen von der Anlassverurteilung – auf reine Vermögensdelinquenz (in immerhin noch maßvoller Intensität) beschränkt, könnte in diesem Zusammenhang auf typische Beschaffungsdelinquenz deuten.

Gemäß § 46 Abs 1 StGB ist einem Verurteilten nach Verbüßung der Hälfte der im Urteil verhängten zeitlichen Freiheitsstrafe der Rest der Strafe bedingt nachzusehen, soweit unter Berücksichtigung der Wirkung von Maßnahmen gemäß §§ 50 bis 52 StGB anzunehmen ist, dass er durch die Verbüßung der Strafe nicht weniger als durch den weiteren Vollzug von der Begehung strafbarer Handlungen abgehalten wird.

Die in diesem Sinn anzustellende Prognose künftigen Verhaltens erfordert eine Gesamtschau aller hiefür maßgeblichen Umstände, so insbesondere die Art der Tat, das private Umfeld des Verurteilten, sein Vorleben und seine Aussichten auf ein redliches Fortkommen in Freiheit. Besonderes Augenmerk ist nach § 46 Abs 4 StGB darauf zu legen, inwieweit sich die Verhältnisse seit der Tat durch Einwirkung des Vollzugs positiv verändert haben bzw. ob negative Faktoren durch Maßnahmen ausgeglichen werden können ( Jerabek in WK² § 46 Rz 15, 15a, 16).

Dazu hat das Erstgericht schon gemäß § 152 Abs 2 erster Satz StVG vor jeder Entscheidung über die bedingte Entlassung in die Akten über das Strafverfahren Einsicht zu nehmen. Das vorliegende Aktenmaterial enthält jedoch bloß die Abschrift eines naturgemäß wenig aussagekräftigen Protokolls- und Urteilsvermerks betreffend die Anlassverurteilung, dem überdies nicht einmal die gemäß § 494a Abs 3 StPO gebotene Ladung und Anwesenheit des beigegebenen Bewährungshelfers zu entnehmen ist (ON 4). Die gesetzlich vorgesehene Einsicht (zumindest) in den Strafakt der Anlassverurteilung ist daher im vorliegenden Fall umso unverzichtbarer, weil mangels Anwesenheit eines Bewährungshelfers in der Hauptverhandlung davon auszugehen ist, dass sich ein schriftlicher Bericht im Akt befindet. Bei den folgenschweren Konsequenzen, die das Erstgericht aus dem Vorleben und dem Umstand der bereits anlässlich der Vorverurteilungen angeordneten Bewährungshilfe zieht, können ohne jegliche Kenntnis des bisherigen Verlaufs der Betreuung keine Schlüsse gezogen werden, wie weit hier ein Misserfolg der angeordneten Maßnahme vorliegt oder ob durch den sozialarbeiterischen Einfluss womöglich erst mittel- bis langfristige Entwicklungen zu erwarten wären. Ebenso hätten sich durch diese Informationen allenfalls bereits Anhaltspunkte für (sonst) notwendige Unterstützungsmaßnahmen gewinnen lassen.

Ohne dieses Mindestmaß an erhobenem Sachverhaltssubstrat erweisen sich die textreichen, teilweise unnotwendigerweise auch persönlich abwertenden Ausführungen des Erstgerichts als weitgehend inhaltsleere Phrasen.

Abgesehen von der Einsicht in den Strafakt samt besonderer Berücksichtigung der Berichte des Vereins Neustart wird auch eine Stellungnahme des Psychologischen Diensts der Justizanstalt S***** über die aktuelle Indikation und die Erfolgsaussichten einer allenfalls anzuordnenden Suchtgifttherapie einzuholen sein. Nur auf Basis der solcherart verbreiterten Sachverhaltsgrundlage kann überhaupt beurteilt werden, ob und durch Anordnung welcher Maßnahmen gemäß §§ 50 bis 52 StGB einer bestehenden Rückfallgefahr soweit entgegengewirkt werden könnte, dass eine bedingte Entlassung nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafzeit – die nach dem Willen des Gesetzgebers der Regelfall sein soll - möglich erscheint.

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