JudikaturOLG Wien

22Bs284/14x – OLG Wien Entscheidung

Entscheidung
02. Dezember 2014

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat in der Auslieferungssache des Ognyan Radoslavov O***** zur Strafvollstreckung an die Republik Bulgarien über dessen Beschwerde gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 27. Mai 2014, GZ 311 HR 135/13f-21, nach der am 2. Dezember 2014 unter dem Vorsitz des Senatspräsidenten Dr. Levnaic-Iwanski, im Beisein der Richter Mag. Hahn und Mag. Gruber als weitere Senatsmitglieder, in Gegenwart der Oberstaatsanwältin Mag. Prior sowie in Anwesenheit des Betroffenen und seines Verteidigers Dr. Neuhuber durchgeführten öffentlichen Auslieferungsverhandlung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Beschwerde wird Folge gegeben, der angefochtene Beschluss aufgehoben und die Auslieferung des Ognyan Radoslavov O***** zur Vollstreckung der mit Urteil des Bezirksgerichts Pleven vom 16. Mai 1994, ODSS Nr. 47/1994, verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren und der mit Urteil des Bezirksgerichts Pleven vom 28. April 2010, ODSS Nr. 347/2003, verhängten (Rest-)Freiheitsstrafe von zwei Jahren für unzulässig erklärt.

Text

Begründung:

Aufgrund SIS-Ausschreibung wegen eines in weiterer Folge auch schriftlich übermittelten Europäischen Haftbefehls der Regionalen Staatsanwaltschaft Pleven vom 4. April 2013 (ON 5) leitete die Staatsanwaltschaft Wien ein Auslieferungsverfahren gemäß § 26 Abs 1 ARHG gegen den ***** bulgarischen Staatsangehörigen Ognyan Radoslavov O***** zur Strafvollstreckung betreffend nachstehender Urteile ein.

Nach dem Auslieferungsersuchen der Generalstaatsanwaltschaft der Republik Bulgarien vom 17. Juli 2013 (ON 12, siehe auch ON 18) wurde O***** mit Urteil des Bezirksgerichts Pleven vom 16. Mai 1994, ODSS Nr. 47/94, schuldig gesprochen und zu – zunächst bedingt nachgesehener - dreijähriger Freiheitsstrafe verurteilt, weil er am 27. September 1992 in der Nähe des Dorfs Zgalevo als Lenker eines PKWs der Marke Audi 100 fahrlässig und in betrunkenem Zustand den Tod von Hristo Ignatov A***** verursacht hatte.

Mit Urteil Nr. 354 des Bezirksgerichts Pleven vom 28. April 2010, ODSS Nr. 347/2003, wurde er zu zweijähriger Freiheitsstrafe verurteilt, weil er in Mittäterschaft mit Asen Iliev D***** zwischen 30. und 31. August 1994 mit Nina Ilieva M***** ohne ihr Einverständnis und bei Beraubung der Möglichkeiten zur Selbstverteidigung (geschlechtlich) verkehrt hatte.

Mit dem angefochtenen Beschluss erklärte das Erstgericht die begehrte Auslieferung zur Strafvollstreckung für zulässig.

Dagegen richtet sich die rechtzeitig angemeldete (ON 22) und fristgerecht ausgeführte Beschwerde des Betroffenen, mit der er das Nichteinhalten der Mindestrechte der Verteidigung infolge Durchführung des Strafverfahrens betreffend Urteil Nr. 354 in seiner Abwesenheit (in Unkenntnis der Hauptverhandlung) rügt und das Ausschlagen der Verhältnismäßigkeitsprüfung gemäß Artikel 8 MRK zu seinen Gunsten behauptet (ON 23).

Rechtliche Beurteilung

Das Rechtsmittel ist berechtigt.

Da die zugrundeliegende Taten sowohl vor dem 1. Jänner 2007 (Beitritt der Republik Bulgarien zur Europäischen Union) als auch vor dem 7. August 2002 liegen, gelangen gemäß § 123 Abs 4 EU-JZG nicht die Bestimmungen dieses Gesetzes, sondern (fallbezogen) die an diesem Tag in Geltung stehenden zwischenstaatlichen Vereinbarungen mit der bulgarischen Republik, sohin die Bestimmungen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 (BGBl Nr. 320/1969), ergänzt durch das Zweite Zusatzprotokoll vom 17. März 1978 (BGBl Nr. 297/1983) zur Anwendung.

Im Ergebnis zu Recht verweist der Beschwerdeführer unter Berufung auf Art 8 MRK auf sein im Inland verfestigtes Familienleben. Fallbezogen gelangt zwar § 5a EU-JZG nicht zur Anwendung, kann aber das Urteil des EuGH vom 6. Oktober 2009 in der Rechtssache C-123/08, Wolzenburg, nicht unbeachtlich bleiben, wonach Unionsbürger, die sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen in einem Mitgliedsstaat aufhalten, nur in sehr engen Grenzen wieder ausgewiesen werden dürfen. Gemäß § 53a Abs 1 NAG erwerben EWR-Bürger, denen das gemeinschaftliche Aufenthaltsrecht zukommt (§§ 51 und 52), unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen gemäß §§ 51 oder 52 nach fünf Jahren rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalts im Bundesgebiet das Recht auf Daueraufenthalt (10 ObS 20/11f, 10 ObS 87/11h).

Trotz der Schwere der dem Auslieferungsersuchen zugrundeliegenden – nach österreichischem Recht als Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB und Vergehen der fahrlässigen Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen nach § 81 Abs 1 Z 2 StGB zu beurteilenden – Straftaten ist nach der gemäß Artikel 8 Abs 2 MRK vorzunehmenden Notwendigkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung den privaten Interessen des O***** schon mit Blick auf obgenannte Grundsätze höheres Gewicht als jenen der Öffentlichkeit an der Auslieferung beizumessen (vgl. 14 Os 87/10s). Der Beschwerdeführer ist nämlich nahezu durchgehend seit 20. Dezember 2000 in Wien gemeldet (ON 19) und seit 8. Jänner 2001 auch aufgrund von Beschäftigungen im Inland sozialversichert (S 10 in ON 20). Er hat seit zirka vierzehn Jahren seinen Lebensmittelpunkt in Österreich, konnte auch glaubhaft versichern, mit seiner Lebensgefährtin und den gemeinsamen Kindern im Alter von zehn und einundzwanzig Jahren in Österreich in gemeinsamem Haushalt zu leben (S 3 in ON 20), wobei eine Ausweisung bei einem zehnjährigen Aufenthalt nur bei zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit zulässig ist (vgl. dazu Rechtssache C-145/09, Tsakouridis; Rechtssache C-348/09, P.I.).

In Anbetracht der persönlichen und familiären Bindungen des O***** im Aufenthaltsstaat und der vor mehr als zwanzig bzw. zweiundzwanzig Jahren begangenen Taten steht – insbesondere bei einem aufenthaltsverfestigten Unionsbürger - der Schutz des Familienlebens einer Auslieferung entgegen.

Der Beschwerde war daher Folge zu geben und die begehrte Auslieferung des O***** zur Strafvollstreckung an die Republik Bulgarien für unzulässig zu erklären.

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