JudikaturOLG Wien

22Bs223/14a – OLG Wien Entscheidung

Entscheidung
30. September 2014

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat in der Auslieferungssache des Ferhat A***** zur Strafvollstreckung an die Türkei über dessen Beschwerde gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 25. Juni 2014, GZ 313 HR 17/14v-19, nach der am 30. September 2014 unter dem Vorsitz des Senatspräsidenten Dr. Levnaic-Iwanski, im Beisein der Richter Mag. Hahn und Mag. Gruber als weitere Senatsmitglieder, in Gegenwart des Rechtshörers Christoph Vogel, LL.B. als Schriftführer, des Oberstaatsanwalts HR Mag. Karesch sowie in Anwesenheit des Betroffenen und seines Verteidigers Mag. Friis jedoch in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführten öffentlichen Auslieferungsverhandlung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Beschwerde wird Folge gegeben, der angefochtene Beschluss aufgehoben und die Auslieferungssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung:

Am Landesgericht für Strafsachen Wien ist gegen den am 30. April 1982 geborenen türkischen Staatsangehörigen Ferhat A***** ein Verfahren betreffend die Auslieferung zur Strafvollstreckung an die Türkei anhängig.

Mit Ersuchen vom 21. April 2014 begehrte die Republikanische Oberstaatsanwaltschaft Izmir, Verkündungsnummer 2013/1-8071, die Auslieferung des Genannten zur Vollstreckung der über ihn mit Urteil des vierten Schwurgerichts Izmir, Urteilsnummer 2009/290, am 17. Dezember 2009 verhängten und mit Urteil der zehnten Strafkammer des Kassationshofs, Urteilsnummer 2013/6829, am 2. Juli 2013 bestätigten Freiheitsstrafe von vier Jahren und zwei Monaten (ON 16).

Inhaltlich dessen wurde der Betroffene schuldig erkannt, im August 2008 in Istanbul Suchtgift, nämlich zirka 40 g Haschisch (Nettogewicht 0,38 g und 800 mg bzw. 27 g und 160 mg) an Cemil N***** in einer CD-Schachtel verpackt gesandt zu haben. Dieses Verhalten wurde als Straftat der Produktion und Handel mit Betäubungsmittel nach Artikel 188 Abs 3 des türkischen Strafgesetzbuchs qualifiziert.

Mit dem angefochtenen Beschluss erklärte das Erstgericht die begehrte Auslieferung zur Strafvollstreckung für zulässig.

Dagegen richtet sich die rechtzeitig angemeldete (S 2 in ON 18) und fristgerecht ausgeführte Beschwerde des Betroffenen, mit der er im Wesentlichen die Auslieferung als unverhältnismäßig kritisiert (ON 21).

Rechtliche Beurteilung

Das Rechtsmittel ist berechtigt.

Vorliegendenfalls gelangen die Bestimmungen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 (BGBl Nr. 320/1969), ergänzt durch das Zweite Zusatzprotokoll vom 17. März 1978 (BGBl Nr. 297/1983) zur Anwendung.

Der Sachverhalt ist nach österreichischem Recht als Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 achter Fall SMG zu qualifizieren. Die Verurteilung im Hoheitsgebiet der Türkei erfolgte zu einer vier Monate übersteigenden Freiheitsstrafe, weshalb es sich um eine auslieferungsfähige strafbare Handlung im Sinne des Artikel 2 Abs 1 EuAlÜbk handelt.

Zu Recht wendet der Beschwerdeführer eine mögliche ordre public-Widrigkeit ein, denn zu den völkerrechtlichen Mindeststandards und unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der öffentlichen Ordnung der Republik Österreich, die auch im vertraglichen Auslieferungsverkehr zu beachten sind, zählt nicht nur das Verbot grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender (Artikel 3 MRK), sondern auch das Verbot schlechterdings nicht mehr schuldangemessener Strafen (vgl. Lagodny in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen 5 § 73 Rz 60). Unangemessen hohe und schwere Freiheitsstrafen können in ein Spannungsverhältnis zu Artikel 3 MRK treten, wenn sie in keiner Relation zur Schuld des Täters und zum Unrechtsgehalt der Tat stehen (Göth-Flemmich in WK 2 ARHG § 20 Rz 3). Nicht genügend ist allerdings, dass die Strafe lediglich als in hohem Maße hart bzw. unter Anlegung der Maßstäbe der österreichischen Rechtsordnung als zu hart anzusehen ist, sie muss vielmehr als unerträglich hart und als unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erscheinen (vgl. BverfG NJW 1994, 2884 mwN).

Bei Verstößen gegen das SMG sind lange oder auch lebenslange Freiheitsstrafen nicht zu beanstanden, wenn es um große Mengen Suchtgift geht. Das Oberlandesgericht Stuttgart, AZ 3 Ausl 63/01, hat eine Zuchthausstrafe von drei Jahren und vier Monaten bei einem nicht Vorbestraften, der im Rahmen einer Konsumentengemeinschaft 0,05 g Heroin unbekannten Wirkstoffgehalts entgeltlich erwarb und unentgeltlich zum Konsum abgab, anschließend mit den Behörden kooperierte und durch einen Scheinkauf zur Überführung des Verkäufers beitrug, als nicht bloß im hohen Maße, sondern vielmehr unerträglich hart und unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen angesehen, weil eine solche Tat an der Untergrenze des noch Strafwürdigen bzw. -bedürftigen liegt.

Fallbezogen versandte Ferhat A***** 0,38 g netto und 800 mg „Haschisch“ (S 57 in ON 16, vgl. auch S 61 in ON 16), sodass die Verhängung einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und zwei Monaten als kaum noch vertretbar anzusehen ist. Vielmehr wäre nach österreichischem Recht sogar eine vorläufige Einstellung gemäß § 37 SMG möglich gewesen.

Das Erstgericht wird im zu ergänzenden Verfahren mit Blick auf obangeführte Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart das Vorliegen mildernder (Geständnis, ordentlicher Lebenswandel) und allfälliger erschwerender Umstände im türkischen Strafverfahren sowie den tatsächlichen Reinheitsgehalt des Suchtgifts einer näheren Prüfung zu unterziehen haben. Darüber hinaus ist im Rahmen der Abwägung nicht nur auf die Höhe der verhängten Strafe abzustellen, sondern sind im Rahmen einer Gesamtwürdigung auch andere Umstände zu berücksichtigen, wozu insbesondere die Haftbedingungen im ersuchenden Staat, eine besondere Haftempfindlichkeit und familiäre Aspekte gehören (OLG Karlsruhe, AZ 1 AK 1/06). Mit Blick auf das im Rechtsmittel vorgelegte ärztliche Attest von Dr. Claudia H***** vom 21. Juli 2014 wird daher sowohl die gesundheitliche – allenfalls unter Einholung eines medizinischen Gutachtens – als auch die persönliche Situation des Betroffenen, der als Kurde eine Strafe in einem türkischen Gefängnis verbüßen soll, zu berücksichtigen sein (vgl. auch Grabenwarter/Pabel EMRK 5 § 20 Rz 42).

Der Beschwerde war daher Folge zu geben, der angefochtene Beschluss aufzuheben und wird das Erstgericht nach Ergänzung des Beweisverfahrens neuerlich über die Auslieferung zu entscheiden haben.

Rückverweise