10Rs159/12v – OLG Wien Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Ciresa als Vorsitzende, die Richter Mag. Atria und Mag. Koch sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Andrea Hazivar und Gerd Wiehart in der Sozialrechtssache des Klägers J***** G***** , *****, vertreten durch Dr. Johannes Schuster, Mag. Florian Plöckinger, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt , Kremser Landstraße 5, 3100 St. Pölten, wegen Invaliditätspension, infolge Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau als Arbeits- und Sozialgericht vom 13.6.2012, 7 Cgs 339/11b - 19, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Berufung wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten der Berufung sind weitere Verfahrenskosten erster Instanz.
Text
Begründung:
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Erstgericht das Klagebegehren auf Zuerkennung einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem 1.6.2011 abgewiesen.
Dabei stellte das Erstgericht im Wesentlichen fest, dass der am 7.10.1956 geborene Kläger zum Stichtag 1.6.2011 467 Versicherungsmonate, darin 296 Beitragsmonate auf Grund der Erwerbstätigkeit und 171 Monate einer Ersatzzeit, erworben hat. In den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag liegen nur 66 Beitragsmonate.
Der Kläger hat den Beruf des Schlossers erlernt, er war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag aber nicht in diesem Beruf tätig. Er war in dieser Zeit 5 Monate als Bauarbeiter, 57 Monate als Hausarbeiter und 4 Monate als Lenker eines Zuges tätig.
Der Kläger kann nur mehr leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen verrichten. Ausgeschlossen sind Arbeiten überwiegend gebückt, mit häufigem Bücken, überwiegend im Hocken, mit häufigem Niederhocken, im Knien, mit häufigem Niederknien, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, Arbeiten mit häufig endlagigen Kopfbewegungen. Überkopfarbeiten mit der rechten Hand kann der Kläger nur fallweise verrichten. Der Kläger ist nur gering psychisch belastbar, er kann nur geistig mäßig schwierige Tätigkeiten verrichten und hält bis 10 % pro Arbeitsstunde überdurchschnittlichem Zeitdruck stand. Der Kläger kann Tages- und Wochenpendeln, nicht aber Übersiedeln.
Kalkülsentsprechend kann der Kläger am allgemeinen Arbeitsmarkt die Tätigkeit eines Portiers (Eingangsüberwachung, Telefonzentrale, Auskunftserteilung etc) oder die eines Kassiers (Kino, Bad, Museum etc) verrichten. Bei diesen Tätigkeiten handelt es sich um körperlich leichte und geistig einfache Arbeiten, die weitgehend im Sitzen ausgeführt werden können. Auch die besonderen Ausschlüsse im Leistungskalkül des Klägers kommen bei diesen Arbeiten berufstypisch nicht vor. In diesen Verweisungsberufen kommen in ganz Österreich mehr als 100 Arbeitsplätze vor, an denen mit dem Leistungskalkül des Klägers gearbeitet werden kann.
Rechtlich führte das Erstgericht aus, dass der Kläger noch Tätigkeiten als Portier oder Kassier kalkülsentsprechend ausüben könne, sodass er nicht invalid im Sinn des § 255 Abs 3 ASVG sei. Die Härtefallregelung des § 255 Abs 3a ASVG sei auf den Kläger nicht anwendbar, weil er nicht nur Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil verrichten könne.
Rechtliche Beurteilung
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers aus den Berufungsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, der unrichtigen Beweiswürdigung und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei hat sich am Berufungsverfahren nicht beteiligt.
Die Berufung ist im Sinne des Aufhebungsantrages berechtigt.
Unter den Berufungsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens sowie der unrichtigen Beweiswürdigung zeigt die Berufung zutreffend Bedenken gegen die Feststellung, dass der Kläger noch bis 10% pro Arbeitsstunde überdurchschnittlichem Zeitdruck standhält, auf.
Der neurologisch-psychiatrische Sachverständige Dr. Richard Billeth hat zunächst in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt, dass „die Zeitdruckbelastbarkeit des Klägers durchschnittlich, bis 10% pro Stunde überdurchschnittlich“ ist (ON 10, Seite 11). Im Rahmen der Gutachtenserörterung in der Tagsatzung vom 13.6.2012 führte der Sachverständige jedoch aus, dass „die 10% pro Stunde überdurchschnittlichem Zeitdruck, die ich dem Kläger zumute, die sind, die in der Diktion der Berufskundler im durchschnittlichen Zeitdruck enthalten sind“ (ON 16, S 2). Diese Äußerung deutet wiederum darauf hin, dass dem Kläger nur durchschnittlicher Zeitdruck zumutbar ist.
Im Allgemeinen werden im sozialgerichtlichen Verfahren zur Beschreibung des einem Versicherten zumutbaren Zeit- und Leistungsdrucks folgende Kalkülsbegriffe verwendet ( Rudda , Das einheitliche Untersuchungsprogramm zur Feststellung des Gesundheitszustandes bei geminderter Arbeitsfähigkeit, Soziale Sicherheit 1998, 708):
„Zeit- und Leistungsdruck:
a) einfacher Zeitdruck:
Eine bestimmte Arbeit soll nach einem Zeitraum von einigen Stunden fertiggestellt sein, wie zB Aufräumen einer Wohnung, aber auch zB die Arbeit als Aktenträger, Bürobote, Portier und dergleichen.
b) durchschnittlicher Zeitdruck:
Zu ihm kommt es bei allen üblichen handwerklichen Arbeiten außerhalb eines Akkordsystems und bei allen Büroarbeiten, die nicht unter c) und d) angeführt sind.
c) zeitweise besonderer bzw überdurchschnittlicher Zeitdruck:
Zu diesem kommt es bei manuellen Arbeiten vor der termingebundenen Fertigstellung eines Werkes, zB vor der Eröffnung einer Ausstellung.
In den Angestelltenberufen bei Kassierarbeiten, im Telefondienst, bei einer Kinokassierin und dergleichen.
d) besonderer Zeitdruck:
Bei manuellen Berufen Arbeiten nach einem Akkord- oder Prämiensystem. Dabei ist noch eine gewisse persönliche Arbeitszeiteinteilung möglich.
In Angestelltenberufen die Arbeiten als Maschinschreibkraft, Phonotypistin, Datatypistin und dergleichen, wenn keine anderen ausgleichenden Arbeiten mitverrichtet werden (dann ist eine Einstufung in c) richtig).
e) ständiger oder dauernder besonderer Zeitdruck:
Arbeit nach Maschinendiktat, Fließbandarbeit.“
Auch in der oberstgerichtlichen Rechtsprechung wurde bereits hervorgehoben, dass unter durchschnittlichem Zeitdruck jene Zeitdruckbelastung verstanden wird, die grundsätzlich mit jeder beruflichen Tätigkeit verbunden ist; besonderer (= überdurchschnittlicher) Zeitdruck ist eine Belastung, die über dieses übliche Maß hinausgeht (RIS-Justiz RS0110824).
Auch das Tatbestandsmerkmal des durchschnittlichen Zeitdrucks in § 255 Abs 3b ASVG wird wohl in diesem Sinn auszulegen sein (siehe dazu näher Enzelsberger/Kollenz , § 255 Abs 3a und 3b ASVG – ein Jahr Härtefallklausel, ZAS 2012, 195f).
Das im vorliegenden Fall vom neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen ausgeführte Begriffsverständnis, wonach 10% überdurchschnittlicher Zeitdruck im „durchschnittlichen Zeitdruck“ enthalten seien, entspricht somit nicht den üblichen im sozialgerichtlichen Verfahren verwendeten Kalkülsbegriffen. Vor allem ist bei einem solchen Begriffsverständnis eine Abgrenzung des „durchschnittlichen Zeitdrucks“ zum Kalkülsbegriff „zeitweise besonderer bzw überdurchschnittlicher Zeitdruck“ nicht ersichtlich (so auch OLG Wien 7 Rs 165/12d).
Das Erstgericht wird daher den neurologisch-psychiatrische Sachverständigen aufzufordern haben, im Rahmen einer schriftlichen oder mündlichen Gutachtensergänzung das Leistungskalkül des Klägers im Hinblick auf seine Zeitdruckbelastbarkeit im Sinne des oben dargelegten Begriffsverständnisses auszuführen.
Ebenso wird das Erstgericht nochmals eine Gutachtenszusammenfassung zu veranlassen haben. Bei der in der Tagsatzung vom 13.6.2012 vom Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Neurologie und Psychiatrie Dr.Richard Billeth vorgenommenen Gutachtenszusammenfassung wurde offensichtlich das Sachverständigengutachten aus dem Fachgebiet der Urologie nicht mitberücksichtigt. Auch wenn das Erstgericht und die Parteien eine Erörterung des urologischen Sachverständigengutachtens nicht für notwendig hielten (Protokoll ON 16, Seite 2), müssen mögliche Wechselwirkungen der urologischen Leiden des Klägers mit den Beeinträchtigungen aus anderen Fachgebieten im Zuge der Gutachtenszusammenfassung geprüft und die im urologischen Sachverständigengutachten enthaltenen Ausschlüsse besonderer Arbeitsbedingungen im zusammengefassten Leistungskalkül berücksichtigt werden.
Zutreffend zeigt die Berufung auch auf, dass die bisher getroffenen Feststellungen noch nicht ausreichen, um einen Anspruch des Klägers auf Invaliditätspension nach der sogenannten Härtefallregelung des § 255 Abs 3a und 3b ASVG beurteilen zu können. Ebenso zutreffend ist das Berufungsvorbringen insofern, als für die dafür notwendigen weiteren Feststellungen die Einholung eines berufskundigen Sachverständigengutachtens erforderlich sein wird.
Im Wesentlichen hat das Erstgericht bisher festgestellt, dass der Kläger nur mehr leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen (unter Ausschluss von bestimmten Arbeitshaltungen) verrichten kann; er ist nur gering psychisch belastbar, kann nur geistig mäßig schwierige Tätigkeiten verrichten und hält – nach den bisherigen Feststellungen - bis 10 % pro Arbeitsstunde überdurchschnittlichem Zeitdruck stand. Weiters hat das Erstgericht festgestellt, dass es in den Berufen eines Portiers oder eines Kassiers österreichweit mehr als 100 Arbeitsplätze gibt, an welchen mit dem Leistungskalkül des Klägers gearbeitet werden kann. In seiner rechtlichen Beurteilung hat das Erstgericht ausgeführt, dass die Härtefallregelung des § 255 Abs 3 ASVG auf den Kläger nicht anwendbar sei, weil dieser nicht nur Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil (gemeint im Sinne des § 255 Abs 3b ASVG) verrichten könne.
Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil im Sinne der zitierten Härtefallregelung sind „leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen“ (§ 255 Abs 3b ASVG). Offensichtlich hat das Erstgericht gemeint, die Härtefallregelung könne für den Kläger nicht zur Anwendung kommen, da dieser bis zu 10 % pro Arbeitsstunde auch überdurchschnittlichem Zeitdruck standhält. Die Definition des § 255 Abs 3a und b ASVG beschreibt allerdings nicht das (geringste) medizinische Leistungskalkül, sondern jene Tätigkeiten, die das leichteste Anforderungsprofil erfüllen . Um den Anspruchsvoraussetzungen zu genügen, darf der Pensionswerber nur mehr in der Lage sein, die in Abs 3b umschriebenen Tätigkeiten und sonst keine weiteren Verweisungstätigkeiten auszuüben; zur Beantwortung dieser Frage bedarf es genauer Feststellungen zum Anforderungsprofil sämtlicher dem Pensionswerber noch möglicher Verweisungstätigkeiten (10 ObS 105/11f; Sonntag in Sonntag , ASVG³, 2012, § 255 Rz 139c).
Auch wenn das Leistungskalkül des Klägers nach der Ergänzung des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens hinsichtlich der Zeitdruckbelastbarkeit das Kalkül „durchschnittlicher Zeitdruck“ übersteigen sollte, wird das Erstgericht somit ergänzend festzustellen haben, ob es auch Verweisungstätigkeiten mit einem höheren als dem geringsten Anforderungsprofil nach § 255 Abs 3b ASVG (in ausreichender Anzahl) gibt, die der Kläger auszuüben noch imstande ist. Da die Härtefallregelung erst mit dem BBG 2011 eingeführt wurde, können diese ergänzenden Feststellungen noch nicht als gerichtsbekannt im Sinne des § 269 ZPO zugrunde gelegt werden und bedarf es dafür - nach vorangehender Klärung der sekundären Leistungsvoraussetzungen des § 255 Abs 3a ASVG (insbesondere mindestens 12-monatige Arbeitslosenmeldung unmittelbar vor dem Stichtag) – der Beiziehung eines berufskundigen Sachverständigen.
Da die Voraussetzungen des § 496 Abs 3 ZPO iVm § 90 Abs 2 ASGG nicht vorliegen, war die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.
Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.