10Rs126/11i – OLG Wien Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Ciresa als Vorsitzende sowie die Richter Mag. Atria und Mag. Pöhlmann (Dreiersenat des Oberlandesgerichts gemäß § 11 Abs 2 ASGG) in der Sozialrechtssache der Klägerin M***** K***** , ***** Wien, vertreten durch Dr. Günther Romauch, Dr. Thomas Romauch, Rechtsanwälte in Wien, wider die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt , Webergasse 4, 1203 Wien, vertreten durch Dr. Bernhard Hacker, ebendort, wegen Versehrtenrente, infolge Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 26.4.2011, 32 Cgs 200/10a-14, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Aus Anlass der Berufung wird das angefochtene Urteil als nichtig aufgehoben, die Klage zurückgewiesen und das über die Klage abgeführte Verfahren für nichtig erklärt.
Die Klägerin hat ihre Kosten des Verfahrens selbst zu tragen.
Text
Begründung:
Mit Bescheid vom 17.12.2002 hat die beklagte Partei den Unfall, den die am 6.1.1948 geborene Klägerin am 25.6.2002 im Betrieb der N***** erlitten hat, gemäß § 175 Abs 2 Z 1 ASVG als Arbeitsunfall (Wegunfall) anerkannt und der Klägerin eine vorläufige Versehrtenrente gemäß § 209 Abs 1 ASVG auf Grundlage einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % ab dem 19.9.2002 zuerkannt. Die Klägerin erlitt bei dem Unfall einen Bruch der Speiche und des Ellengriffels links sowie eine Prellung des rechten Unterarmes und des linken Fersenbeines (Aktenstück 28 des Anstaltsaktes).
Mit Bescheid vom 2.3.2004 hat die beklagte Partei die der Klägerin zuerkannte vorläufige Versehrtenrente ab 1.5.2004 entzogen und ausgesprochen, dass ein Anspruch auf Dauerrente nicht besteht (Aktenstück 47 des Anstaltsaktes).
Mit Bescheid vom 5.5.2009 hat die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 9.3.2009 auf Zuerkennung einer Versehrtenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 25.6.2002 abgewiesen (Aktenstück 53 des Anstaltsaktes).
Infolge dagegen erhobener Klage hat das Arbeits- und Sozialgericht Wien mit Urteil vom 19.10.2009 das Klagebegehren auf Zuerkennung einer Versehrtenrente in gesetzlicher Höhe ab dem 9.3.2009 abgewiesen. Dabei stellte das Gericht insbesondere fest, dass gegenüber dem rechtlich relevanten Vergleichsgutachten vom 17.2.2004, welches die Grundlage für die Entziehung der vorläufigen Versehrtenrente mit Ablauf des 30.4.2004 war, eine deutliche Besserung der aktiven Beweglichkeit des Handgelenkes in der Scheitelebene und in der Frontalebene vorliegt. Anders als zum Zeitpunkt des Vergleichsgutachtens im Februar 2004 liegt eine Verschmächtigung der Muskulatur des linken Unterarmes sowie auch eine Schwellung des linken Handgelenkes nicht mehr vor. Die unfallkausale Minderung der Erwerbsfähigkeit ist am 9.3.2009 unverändert mit 10 % einzuschätzen. Das Urteil erwuchs unangefochten in Rechtskraft (25 Cgs 120/09h; Urteil samt Gutachten aufliegend im Anstaltsakt nach Aktenstück 53).
Mit dem am 2.6.2010 bei der beklagten Partei eingelangten Schreiben beantragte die Klägerin erkennbar die Zuerkennung einer Versehrtenrente und brachte dazu vor, dass sie ihren früheren Beruf als Schreibkraft nicht mehr ausüben könne, da die linke Hand trotz Rehab-Maßnahmen nicht mehr im vollen Umfang beweglich sei. Neben dem Verlust des Berufes leide die Klägerin noch immer an Schmerzen an der verletzten Hand und habe der Unfall somit zu einer wesentlichen Verschlechterung ihrer Lebenssituation geführt (Aktenstück 8 des Anstaltsaktes).
Mit Schreiben vom 2.6.2010 forderte die beklagte Partei die Klägerin unter Hinweis auf § 362 ASVG auf, eine ärztliche Bescheinigung vorzulegen, aus der ersichtlich ist, seit wann und in welcher Weise sich die Folgen des Unfalles seit der letzten Entscheidung verschlechtert haben; hingewiesen wurde auch auf die notwendige Zurückweisung des Antrages bei nicht fristgerechter Vorlage geeigneter Befunde (Schreiben der beklagten Partei vom 2.6.2010; unjournalisiert im Anstaltsakt aufliegend).
Mangels Vorlage einer Bescheinigung hat die beklagte Partei mit dem nun angefochtenen Bescheid vom 31.8.2010 den Antrag der Klägerin vom 2.6.2010 auf Zuerkennung einer Versehrtenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 25.6.2002 unter Hinweis auf die zuletzt mit rechtskräftigem Urteil vom 19.10.2009 erfolgte Ablehnung des letzten Rentenantrages zurückgewiesen (Bescheid vom 31.8.2010, unjournalisiert aufliegend im Anstaltsakt).
In der fristgerecht dagegen erhobenen Klage brachte die Klägerin vor, dass seit Rechtskraft des Urteiles vom 19.10.2009 eine wesentliche Verschlechterung eingetreten sei. Beantragt wurde dazu die Einvernahme der Klägerin sowie einzuholende medizinische Sachverständigengutachten. Die Klägerin begehrte die Zuerkennung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß ab dem 2.6.2010.
Die beklagte Partei brachte in ihrer Klagebeantwortung (unrichtig) vor, dass dem Antrag der Klägerin vom 2.6.2010 mit dem angefochtenen Bescheid nicht Folge gegeben worden wäre (richtig wurde der Antrag zurückgewiesen). Da eine Verschlimmerung der Verletzungsfolgen seit dem bei der fachärztlichen Begutachtung vom 17.2.2004 erhobenen Befund nicht eingetreten sei, bestehe ein Anspruch auf Versehrtenrente nicht; die Klage sei daher als unbegründet abzuweisen.
Das vom Erstgericht eingeholte unfallchirurgische Sachverständigengutachten kam zu dem Ergebnis, dass die linke Speiche nach einer operativen Knochenbruchbehandlung ohne relevante Achsenfehlstellung ausgeheilt ist. Zwischenzeitlich erlitt die Klägerin einen nicht verfahrensgegenständlichen Speichenbruch rechts und einen Bruch des Grundgliedes des linken Ringfingers. Bei der Klägerin liegt eine endlagige aktive Bewegungseinschränkung des linken Handgelenkes überwiegend in der Frontalebene vor. Ein Hinweis auf Minderung der Gebrauchsspuren ergibt sich weder im Seitenvergleich noch im Vergleich mit dem Vorgutachten (25 Cgs 120/09h). Unfallchirurgischerseits ist auch weiterhin unverändert eine 10-%ige Minderung der Erwerbsfähigkeit bis auf Weiteres gegeben (ON 6).
Mit dem nun angefochtenen Urteil hat das Erstgericht das Klagebegehren auf Zuerkennung einer Versehrtenrente ab dem 2.6.2010 abgewiesen.
Im Wesentlichen auf der Sachverhaltsgrundlage des unfallchirurgischen Sachverständigengutachtens führte das Erstgericht rechtlich aus, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit aufgrund des gegenständlichen Arbeitsunfalles weiterhin nur 10 % betrage, weshalb das Klagebegehren abzuweisen gewesen sei.
Rechtliche Beurteilung
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin aus den Berufungsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei beantragt in ihrer Berufungsbeantwortung, der Berufung nicht Folge zu geben.
Aus Anlass der Berufung war vom Berufungsgericht der Nichtigkeitsgrund der Unzulässigkeit des Rechtsweges für die vorliegende Klage von Amts wegen wahrzunehmen.
Ist die Zuerkennung des Anspruchs auf eine Versehrtenrente mangels einer entsprechenden Einbuße einer Erwerbsfähigkeit abgewiesen worden und wird vor Ablauf eines Jahres nach Rechtskraft der Entscheidung ein neuerlicher Rentenantrag eingebracht, ohne dass eine wesentliche Änderung der zuletzt festgestellten Unfallsfolgen glaubhaft bescheinigt ist oder innerhalb einer vom Versicherungsträger gesetzten angemessenen Frist bescheinigt wird, so ist der Antrag vom Versicherungsträger zurückzuweisen (§ 362 Abs 1 ASVG).
Die Klägerin hat nach dem ihren Rentenantrag abweisenden Urteil vom 19.10.2009 bereits am 2.6.2010 und somit innerhalb der Jahresfrist einen neuerlichen Rentenantrag gestellt. Ein Bescheinigungsmittel für eine wesentliche Änderung der zuletzt festgestellten Unfallsfolgen hat sie weder mit dem Antrag, noch über nachfolgende Aufforderung der beklagten Partei vorgelegt, sodass die beklagte Partei als Versicherungsträger den Rentenantrag rechtsrichtig gemäß § 362 Abs 1 ASVG zurückgewiesen hat.
Grundsätzlich unterliegen verfahrensrechtliche Bescheide der Versicherungsträger – wie die hier vorgenommene Antragszurückweisung – nicht der Überprüfung durch das Gericht im Rahmen der sukzessiven Kompetenz; davon macht § 68 ASGG eine Ausnahme: Bei Glaubhaftmachung einer wesentlichen Änderung des zuletzt festgestellten Gesundheitszustandes durch den Versicherten gegenüber dem Gericht kann dieses ausnahmsweise in der Sache entscheiden, obwohl der Versicherungsträger zuvor keine Sachentscheidung getroffen, sondern den Leistungsantrag im Hinblick auf die Sperrfrist (und das Fehlen einer wesentlichen Änderung) zurückgewiesen hat (Neumayr in ZellKomm § 68 ASGG Rz 2).
Im Gegensatz zur sonstigen Amtswegigkeit des Beweisverfahrens (§ 87 Abs 1 ASGG) muss der Versicherte die wesentliche Änderung aber bescheinigen. Dabei handelt es sich um eine Voraussetzung der Rechtswegzulässigkeit; gelingt die Glaubhaftmachung nicht, ist die Klage nach § 73 ASGG zurückzuweisen (Neumayr aaO Rz 4; RIS-Justiz RS0085668).
Die Klägerin hat in ihrer Klage kein Bescheinigungsmittel zu einer wesentlichen Änderung des zuletzt festgestellten Gesundheitszustandes vorgelegt. Insbesondere stellt die angebotene Vernehmung der Klägerin kein taugliches Bescheinigungsmittel iSd § 68 Abs 1 ASGG dar und ist auch das beantragte erst einzuholende medizinische Sachverständigengutachten nicht die in § 68 Abs 1 geforderte Bescheinigung einer wesentlichen Änderung des Gesundheitszustandes; als Bescheinigungsmittel kommen vor allem ärztliche Bestätigungen in Betracht (Neumayr aaO Rz 5).
Selbst unter Verwertung des vom Erstgericht eingeholten unfallchirurgischen Sachverständigengutachtens ist eine wesentliche Änderung des zuletzt festgestellten Gesundheitszustandes nicht bescheinigt, kommt doch dieses gerade zur gegenteiligen Schlussfolgerung.
Gemäß § 477 Abs 1 Z 6 ZPO bildet es einen Nichtigkeitsgrund, wenn über eine nicht auf den Rechtsweg gehörige Sache erkannt wurde. Nichtigkeitsgründe sind von Amts wegen und auch noch im Rechtsmittelverfahren wahrzunehmen (Klauser/Kodek ZPO 16 § 477 E 1 und 2). Insbesondere ist es für die Zulässigkeit des Rechtsweges auch ohne Bedeutung, was der Beklagte einwendet (Klauser/Kodek aaO § 1 JN E 18).
Im vorliegenden Fall war daher die mangelnde sukzessive Kompetenz des angerufenen Arbeits- und Sozialgerichts und damit die Rechtswegunzulässigkeit vom Berufungsgericht von Amts wegen aufzugreifen, auch wenn die beklagte Partei in ihrer Klagebeantwortung nicht auf diese hingewiesen, sondern in der Sache die Abweisung des Klagebegehrens beantragt hat (so auch OLG Wien vom 24.7.1997, 7 Rs 166/96z = RIS-Justiz RW0000215).
Die Klage war daher zurückzuweisen, das angefochtene Urteil aufzuheben und das über die Klage geführte Verfahren für nichtig zu erklären.
Eine Kostenersatzverpflichtung der beklagten Partei ergibt sich weder aus § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG, noch aus § 51 ZPO.
Ein Ausspruch über die Rechtsmittelzulässigkeit war nicht aufzunehmen, da Beschlüsse des Berufungsgerichts, mit denen die Nichtigkeit des erstinstanzlichen Urteils unter Zurückweisung der Klage ausgesprochen wurde, mit Rekurs analog § 519 Abs 1 Z 1 ZPO angefochten werden können (Klauser/Kodek aaO § 519 E 43, 44; § 528 E 92).