JudikaturOLG Wien

10Ra128/11h – OLG Wien Entscheidung

Entscheidung
07. November 2011

Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Ciresa als Vorsitzende sowie die Richter Mag. Atria und Mag. Pöhlmann (Dreiersenat des Oberlandesgerichts gemäß § 11a Abs 2 ASGG) in der Arbeitsrechtssache des Klägers A***** M***** , *****, ***** Wien, vertreten durch Dr. Sieglinde Gahleitner, Rechtsanwältin in Wien, wider die beklagte Partei V***** Ges.m.b.H , *****, ***** Wien, wegen EUR 68.823,04 brutto s.A. und Feststellung (Streitwert nach RATG sowie GGG: EUR 12.022,14), hier wegen Verfahrenshilfe, infolge Rekurses des Klägers gegen den Beschluss des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 30.8.2011, 9 Cga 76/11b-2, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung über den Verfahrenshilfeantrag nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Mit der am 18.8.2011 eingebrachten Klage begehrt der Kläger von der beklagten Partei die Zahlung von EUR 68.823,04 brutto an Entgelt, Kündigungsentschädigung sowie Abfertigung aus einem Arbeitsverhältnis vom 1.2.1996 bis 4.3.2011 sowie die Feststellung der Haftung der beklagten Partei für weiter fällig werdende Raten an Kündigungsentschädigung sowie Abfertigung in der Höhe von gesamt EUR 12.022,14. In Einem beantragte der Kläger die Gewährung der Verfahrenshilfe nach § 64 Abs 1 Z 1, 2 und 5 ZPO und legte der Klage ein ausgefülltes Vermögensbekenntnis bei (ON 1).

Bemessungsgrundlage für die Gerichtsgebühren ist in Bezug auf das Feststellungsbegehren der davon erfasste Geldbetrag (§ 15 Abs 3a GGG), im konkreten somit EUR 12.022,14. Der Gesamtstreitwert nach GGG beträgt daher EUR 80.845,18, die Pauschalgebühr für das erstinstanzliche Verfahren EUR 2.645,--.

Der Kläger gab im Vermögensbekenntnis an, dass er über ein Nettoeinkommen in der Höhe von EUR 2.174,35 verfügt. Es bestehen Schulden gegenüber den Eltern und der Schwester des Klägers in der Höhe von gesamt EUR 7.500,--. Der Kläger lebt mit seiner Ehefrau, die über kein eigenes Einkommen verfügt, und drei minderjährigen Kindern im gemeinsamen Haushalt. Der Kläger lebt mit seiner Familie in einer Eigentumswohnung. Die vom Kläger aufgelisteten Fixkosten betragen rund EUR 1.300,-- (Beilage zum Verfahrenshilfeantrag).

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Erstgericht den Verfahrenshilfeantrag des Klägers im Wesentlichen unter Hinweis auf die (Möglichkeit der) Rechtsschutzgewährung der Arbeiterkammer abgewiesen.

Der beklagten Partei wurde der Beschluss mit der Ladung zur vorbereitenden Tagsatzung zugestellt (RS zu ON 2).

Rechtliche Beurteilung

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs des Klägers aus dem Rekursgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss im Sinne der Bewilligung des Verfahrenshilfeantrages abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat sich am Rekursverfahren nicht beteiligt; der Revisor hat auf eine Rekursbeantwortung verzichtet (ON 5).

Der Rekurs ist im Sinne des Aufhebungsantrages berechtigt.

Richtig ist, dass die Gefährdung des notwendigen Unterhalts der betreffenden Partei durch die mit der Führung des Verfahrens verbundenen Kosten – und damit eine der Voraussetzungen für die Bewilligung der Verfahrenshilfe gemäß § 63 Abs 1 ZPO – nicht gegeben ist, wenn diese Kosten von einem Dritten (zB Haftpflicht- oder Rechtsschutzversicherer) getragen werden (Bydlinski in Fasching/Konecny² II/1 § 63 ZPO Rz 6).

Gemäß § 7 Abs 1 Arbeiterkammergesetz 1992 (AKG) haben die Arbeiterkammern kammerzugehörige Arbeitnehmer in arbeits- und sozialrechtlichen Angelegenheiten zu beraten und ihnen insbesondere Rechtsschutz durch gerichtliche Vertretung nach Maßgabe eines von der Hauptversammlung der Bundesarbeitskammer zu beschließenden Rahmen-Regulativs zu gewähren. Die Vollversammlungen der Arbeiterkammern können im Rahmen des von der Hauptversammlung der Bundesarbeitskammer beschlossenen Rahmen-Regulativs nähere Regelungen über die Durchführung des Rechtsschutzes in ihrem Wirkungsbereich treffen (§ 7 Abs 3 AKG). Gemäß § 7 Abs 5 AKG muss Rechtsschutz nicht oder nicht in vollem Umfang gewährt werden, wenn

„1.) er offenbar mutwillig oder in einem aussichtslosen Fall oder gegen eine hinlänglich ausjudizierte Rechtsmeinung verlangt wird oder

2.) er im Vergleich zu dem erwartenden Erfolg einen unverhältnismäßig hohen Aufwand erfordern würde oder

3.) die Prozessführung im Einzelfall den von den Arbeiterkammern gemäß § 1 wahrzunehmenden allgemeinen Interessen der Arbeitnehmer widersprechen würde.“

Gemäß § 4 Abs. 1 des von der Hauptversammlung der Bundesarbeitskammer am 20.2.1992 beschlossenen Rahmen-Regulativs (in der Fassung des Erlasses des Bundesministers für Wirtschaft und Arbeit vom 21.12.2005, BMWA – 462.502/0056 - III/8/2005) wird Rechtsvertretung im Einzelfall gewährt, wenn

„a) eine ausreichende rechtliche Begründung eines Anspruches des Arbeitnehmers nach dem festgestellten Sachverhalt gegeben ist;

b) Aussichten auf einen positiven Verfahrensausgang nach der Einschätzung über die Rechts- und Beweislage bestehen;

c) das Verfahren nicht einen im Vergleich zu dem zu erwartenden Erfolg unverhältnismäßig hohen Aufwand erfordern würde;

d) die Prozessführung im Einzelfall nicht den von den Arbeiterkammern wahrzunehmenden allgemeinen Interessen widersprechen würde;

e) der Arbeitnehmer nicht vor Inanspruchnahme der Arbeiterkammer eine andere Stelle mit der rechtlichen Vertretung beauftragt hat.“

§ 6 Abs 2 des Rahmen-Regulativs sieht „bei begründetem Anlass, an einer erfolgreichen Prozessführung zu zweifeln“, die Möglichkeit der Schaffung eines Selbstbehaltes (in den Regulativen der einzelnen Arbeiterkammern) vor.

Gemäß Punkt IV Abs 2 Z 1 des Rechtsschutzregulativs der Arbeiterkammer Wien kann ein Rechtsschutzantrag

a) vollinhaltlich bewilligt werden;

b) mit der Maßgabe eines nochmals zu führenden Gesprächs zwischen dem Rechtsschutzwerber und dem künftigen Vertreter bewilligt werden;

c) mit der Maßgabe bewilligt werden, dass ein Teil des Risikos vom Rechtsschutzwerber zu tragen ist (§ 6 Abs 2 Rahmen-Regulativ);

d) abgelehnt werden.

Die Rechtsschutzentscheidung ist dem Rechtsschutzwerber mit Begründung schriftlich mitzuteilen; gegen die Rechtsschutzentscheidung ist eine Beschwerde an die Rechtsschutzkommission zulässig. Gibt die Rechtsschutzkommission der Beschwerde nicht Folge, hat sie diese dem Bereichsleiter vorzulegen, welcher dann gemeinsam mit dem Direktor im Einvernehmen über den Rechtsschutzantrag abschließend zu entscheiden hat (Punkt IV Abs 3 und 4 des Rechtsschutzregulativs der Arbeiterkammer Wien).

Im vorliegenden Fall hat die Arbeiterkammer Wien wohl für den Kläger vor der Klagseinbringung interveniert (siehe das bereits im Akt liegende Interventionsschreiben vom 28.4.2011); es ist jedoch noch in keiner Weise geklärt, ob der Kläger einen Rechtsschutzantrag gestellt hat und gegebenenfalls wie über diesen entschieden wurde. Auch aus dem Rekurs des Klägers geht dies noch nicht hervor.

Erst auf Grund dieser erweiterten Sachverhaltsgrundlage kann beurteilt werden, ob auf Grund einer bestehenden Rechtsschutzdeckung der notwendige Unterhalt des Klägers durch die Prozessführung nicht beeinträchtigt ist. Auch die Ausführungen des Erstgerichts zu einer offenbar aussichtslosen Prozessführung im Sinne des § 63 Abs 1 ZPO, basierend auf der Annahme einer erfolgten Ablehnung eines Rechtsschutzantrages, sind zum jetzigen Verfahrensstand bloße Vermutungen ohne einer Sachverhaltsgrundlage.

Das Erstgericht wird daher den Kläger aufzufordern haben bekanntzugeben, ob er einen Rechtsschutzantrag an die Arbeiterkammer Wien gestellt hat; gegebenenfalls wie darüber entschieden wurde (Vorlage der schriftlichen Entscheidung), verneinendenfalls, warum er einen solchen Rechtsschutzantrag nicht gestellt hat. Selbst im Falle einer Unterlassung eines Rechtsschutzantrages wird jedoch zu berücksichtigen sein, dass einem Verfahrenshilfewerber wohl nur eine in Bezug auf die Verfahrenshilfe vorsätzliche Unterlassung entgegengehalten werden könnte (siehe in diesem Zusammenhang Klauser/Kodek ZPO 16 § 63 E 46 bis 50).

Im Falle einer tatsächlich erfolgten ablehnenden Entscheidung der Arbeiterkammer müsste das Erstgericht die Voraussetzungen für die Bewilligung der Verfahrenshilfe, insbesondere auch die Tatbestandsmerkmale einer offenbar mutwilligen oder aussichtslosen Rechtsverfolgung im Sinne des § 63 Abs 1 ZPO, jedenfalls selbständig beurteilen.

Der Vollständigkeit halber ist noch festzuhalten, dass - ohne Berücksichtigung einer allfälligen Rechtsschutzdeckung – die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Gewährung der Verfahrenshilfe beim Kläger, ausgehend von dessen Angaben im Verfahrenshilfeantrag, vorliegen. Ausgehend von einem Nettogehalt von unter EUR 2.200,-- als Alleinerhalter einer fünfköpfigen Familie mit Fixkosten von EUR 1.300,-- monatlich kann der Kläger alleine schon die Kosten der Pauschalgebühr für das erstinstanzliche Verfahren nicht tragen. Auch ohne Berücksichtigung der Schulden an seine Eltern und seine Schwester (in der Höhe von EUR 7.500,--) hindert auch das Sparguthaben in der Höhe von ca EUR 2.100,-- nicht die Bewilligung der Verfahrenshilfe. Geringfügige und angemessene Rücklagen in Form von Sparguthaben stehen der Bewilligung der Verfahrenshilfe in der Regel nicht entgegen (Klauser/Kodek aaO § 63 ZPO E 42). Für eine fünfköpfige Familie mit drei minderjährigen Kindern ist eine finanzielle Reserve in der Höhe von knapp über EUR 2.000,-- keinesfalls zu hoch.

Das Erstgericht wird daher nach der aufgetragenen Verfahrensergänzung über den Verfahrenshilfeantrag des Klägers neuerlich zu entscheiden haben.

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