8Rs222/96t – OLG Wien Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Wien faßt als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Oberlandesgerichtes Dr.Schrödl als Vorsitzenden, die Richter des Oberlandesgerichtes DDr.Schwarz und Dr.Hopf sowie die fachkundigen Laienrichter Dr.Manfred Engelmann (AG) und Peter Faist (AN) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Erwin L*****, Dienstnehmer, W*****, 2130 Mistelbach, für den mj.Andreas L*****, geboren 8.12.1976, Schüler, ebendort, vertreten durch Dr.Hellfried Stadler, Rechtanwalt in Mistelbach, wider die beklagte Partei VERSICHERUNGSANSTALT DER ÖSTERREICHISCHEN EISENBAHNEN, Linke Wienzeile 48-52, 1061 Wien, wegen Weitergewährung der Waisenrente, infolge Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes Korneuburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 17.3.1996, GZ 7 Cgs 255/95v-6, in nichtöffentlicher Sitzung
I.) den
Beschluß :
Spruch
Die Bezeichnung der klagenden Partei wird auf "Andreas L*****, Schüler, W*****, 2130 Mistelbach" berichtigt;
II.) und erkennt zu Recht:
Der Berufung wird n i c h t Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 3381,12 (darin S 563,52 USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Ad I.): Vorweg ist festzuhalten, daß die undeutliche Bezeichnung der klagenden Partei ("Erwin L*****.... für den mj.Andreas L*****....") die sich ausgehend vom Bescheid der Beklagten vom 24.8.1995 durch das gesamte Verfahren zog, nach dem Inhalt der Klageerzählung und der sonstigen Verfahrensergebnisse nur dahin verstanden werden kann, daß der am 8.12.1976 geborene Andreas L***** als eigentlicher Kläger auftrat. Dies wurde auch vom Erstgericht im Urteilsspruch klargestellt, diese Klarstellung jedoch in den Entscheidungsgründen nicht beibehalten. Bis zur Erreichung der Volljährigkeit am 8.12.1995 (Schluß der Verhandlung erster Instanz am 7.2.1996) wurde Andreas L***** von seinem Vater und gesetzlichen Vertreter Erwin L***** und dieser wiederum von Rechtsanwalt Dr.Hellfried Stadler vertreten. Ab Eintritt der Volljährigkeit wurde Andreas L***** unmittelbar von Rechtsanwalt Dr.Hellfried Stadler vertreten (vgl. Schriftsatz vom 28.8.1986, ON 10). Die Bezeichnung der klagenden Partei war in diesem Sinne berichtigend klarzustellen (§ 235 Abs 5 ZPO). Wenn in der weiteren Folge vom Kläger gesprochen wird, dann ist damit stets Andreas L***** gemeint.
Ad II.): Mit Bescheid vom 24.8.1995 lehnte die Beklagte den von Erwin L***** "für" (gemeint wohl: im Namen des) Andreas L***** gestellten Antrag vom 27.7.1995 auf Weitergewährung der Waisenrente über den 30.6.1993 hinaus ab. Nach den gesetzlichen Bestimmungen bestehe die Kindeseigenschaft für Stiefkinder dann, wenn der gemeinsame Haushalt (mit dem verstorbenen Versicherten) gegeben sei. Bei Hinterbliebenenleistungen gelte die Voraussetzung dann als erfüllt, wenn sich das Stiefkind unter der Fiktion, daß der Versicherte noch leben würde, mit diesem im gemeinsamen Haushalt befände. Diese Voraussetzung sei nicht mehr gegeben.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Klage auf Gewährung der Waisenrente über den 30.6.1993 hinaus. Der Kläger habe nach der Scheidung seiner Eltern im gemeinsamen Haushalt mit der Kindesmutter und dem Stiefvater Gerhard W***** gelebt, der (am 24.11.1987) tödlich verunglückt sei. Im Juni 1993 sei der Kläger im Zuge der Übertragung der Obsorge von der Kindesmutter auf den Kindesvater zu seinem Kindesvater Erwin L***** gezogen. Wäre der Stiefvater nicht verunglückt, wäre es zu dieser Veränderung nicht gekommen. Entscheidend sei nur, daß bis zum Ableben des Stiefvaters ein gemeinsamer Haushalt bestanden habe.
Die Beklagte wendete ein, daß mit dem Übergang des Sorgerechts auf den leiblichen Vater per 11.6.1993 die Stiefkindschaft des Klägers zum verstorbenen Versicherten nicht mehr gegeben sei. Damit habe sich auch der ständige Aufenthalt des Klägers geändert. Andernfalls käme es zu einer Doppelversorgung des Klägers auf Kosten der Versichertengemeinschaft.
Mit dem angefochtenen Urteil verpflichtete das Erstgericht die Beklagte, dem Kläger eine Waisenrente über den 30.6.1993 hinaus zu gewähren. Dabei ging es von den auf den Seiten 4 und 5 der Urteilsausfertigungen wiedergegebenen Feststellungen aus, auf die verwiesen wird. Hievon ist als wesentlich hervorzuheben:
Der Kläger lebte bis zum Tode seines Stiefvaters, dem bei der Beklagten versicherten Gerhard W*****, in Hausgemeinschaft mit diesem und seiner leiblichen Mutter, die vom Kindesvater Erwin L***** geschieden worden war. Gerhard W***** verunglückte am 24.11.1987 (auf Grund eines Arbeitsunfalles) tödlich.
Mit Bescheid der Beklagten vom 10.3.1988 wurde dem Kläger eine Waisenrente gewährt.
Nach dem Tod des Gerhard W***** heiratete die Mutter des Klägers erneut. Da sich der Kläger mit seinem neuen Stiefvater nicht besonders gut verstand, zog er wieder zu seinem leiblichen Vater, der seit der Scheidung ein Besuchsrecht ausgeübt und Unterhalt geleistet hatte.
Mit Beschluß des Bezirksgerichtes Floridsdorf vom 11.6.1993 wurde schließlich die Pflege und Erziehung des Klägers wieder dem Kindesvater übertragen.
In rechtlicher Hinsicht ging das Erstgericht davon aus, daß der Kläger bis zum Tode seines Stiefvaters durch einen Arbeitsunfall in ständiger Hausgemeinschaft mit diesem gelebt habe. Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Waisenrente seien daher gegeben gewesen. Der spätere Wohnsitzwechsel zum leiblichen Vater stelle keine relevante Änderung der Verhältnisse dar, die eine Entziehung der Waisenrente rechtfertige. Es bestehe keine Doppelversorgung. Die Waisenrente mindere lediglich den Unterhaltsanspruch des Klägers gegen seinen Vater.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten wegen unrichtiger Tatsachenfeststellung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne einer Klageabweisung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Kläger beantragt, der Berufung nicht Folge zu geben.
Die Berufung ist nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Unter dem Berufungsgrund der unrichtigen Tatsachenfeststellungen stellt die Berufungswerberin ausschließliche rechtliche Überlegungen an; eine konkrete Tatsachenfeststellung des Erstgerichtes wird nicht bekämpft, worauf auch der Berufungsgegner zutreffend hinweist. Die Frage der "Doppelversorgung" ist eine Rechtsfrage. Es kann daher sogleich auf die rechtliche Beurteilung eingegangen werden. Vorweg ist nur festzuhalten, daß die vom Erstgericht getroffenen Tatsachenfeststellungen vom Berufungsgericht übernommen und der Berufungsentscheidung zugrundegelegt werden (§ 498 ZPO).
In rechtlicher Hinsicht ist davon auszugehen, daß Kindern des Versicherten, dessen Tod durch einen Arbeitsunfall versursacht wurde, eine Waisenrente gebührt (§ 218 Abs 1 ASVG). Als Kinder gelten bis zum vollendeten 18.Lebensjahr auch die Stiefkinder, wenn sie mit dem Versicherten ständig in Hausgemeinschaft leben (§ 252 Abs 1 Z 4 ASVG). Stiefkinder einer Person sind die nicht von ihr abstammenden leiblichen Kinder ihres Ehegatten, und zwar auch dann, wenn der andere leibliche Elternteil des Kindes noch lebt. Die Stiefkindschaft besteht nach Auflösung oder Nichtigerklärung der sie begründenden Ehe weiter (§ 123 Abs 3 ASVG).
Sind die Voraussetzungen des Anspruches auf eine laufende Leistung nicht mehr gegeben, so ist die Leistung zu entziehen, soferne nicht der Anspruch gemäß § 100 Abs 1 ASVG ohne weiteres Verfahren erlischt (§ 99 Abs 1 ASVG). Zweifellos ist auch der Anspruch auf Waisenrente ein Anspruch auf eine dauernde Leistung; praktisch bedeutsam ist die Entziehung aber vor allem bei den Invaliditäts- und Berufsunfähigkeitspensionen (Tomandl SV-System 181). Die Waisenrente knüpft an das Vorliegen von 3 Voraussetzungen:
a) Tod des Versicherten durch Arbeitsunfall,
b) Stiefkindschaft,
c) ständige Hausgemeinschaft zwischen Versichertem und Stiefkind.
Die Voraussetzung a) kann schon begrifflich nicht wegfallen, ihr Eintritt ist vielmehr der Versicherungsfall. Die Voraussetzung b) überdauert grundsätzlich den Tod des Versicherten. Wie schon erwähnt besteht sie auch noch nach Auflösung oder Nichtigerklärung der sie begründenden Ehe weiter und ist auch unabhängig davon, daß der entsprechende leibliche Elternteil des Kindes ebenfalls noch lebt. Daß der Kläger nach dem Tod seines Stiefvaters wieder zu seinem leiblichen Vater zog, änderte an der Stiefkindschaft ebensowenig wie die Übertragung der Pflege und Erziehung von der Kindesmutter auf den Kindesvater. Die seinerzeitige Begründung der Stiefkindschaft war ebenfalls nicht davon abhängig, daß die Mutter als Ehefrau des Stiefvaters die Pflege und Erziehung ausübte. Die Voraussetzung c) muß schon begrifflich mit dem Tod des Versicherten enden (vgl. SSV-NF 4/53). Änderungen des Aufenthaltes oder Wohnsitzes des Stiefkindes nach dem Tode des Versicherten sind daher ohne Belang.
Aus dem Vorgesagten folgt, daß es bei der Waisenrente keine Voraussetzung gibt, die nach Eintritt des Versicherungsfalles im Sinne des § 99 Abs 1 ASVG "nicht mehr vorhanden" sein könnte. Eine Entziehung der Waisenrente kommt daher bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres praktisch nicht in Betracht (wenn die Voraussetzungen a)-c) ursprünglich vorlagen). Allgemeine Überlegungen der Berufungswerberin zur Entziehung wegen "wesentlicher" Änderungen sind nicht zielführend, weil nur solche Änderungen "wesentlich" (im Sinne von maßgebend) sein können, deren Vorliegen in bestimmter Ausgestaltung Voraussetzung für die Gewährung der Leistung war. Der Entzug oder die Herabsetzung der Rente setzte eine wesentliche Änderung der maßgebenden Verhältnisse voraus. Solange das nicht der Fall ist, steht einer Entziehung der Rente die Rechtskraft des Gewährungsbescheides entgegen. Dieser Grundsatz beruht auf der Lehre von der Rechtskraft, deren Wesen in der Bindung der Behörden und Parteien an den behördlichen Ausspruch und deren Wirkung in der Endgültigkeit und Unanfechtbarkeit der Entscheidung besteht (Teschner-Widlar, ASVG 580f).
Überlegungen der Berufungswerberin zur "Doppelversorgung" gehen am Kernproblem des vorliegenden Falles vorbei. Sieht man davon ab, daß dem Kläger auch schon zu Lebzeiten seines Stiefvaters vom leiblichen Vater Unterhalt gewährt wurde, ist auch noch darauf hinzuweisen, daß die Gewährung der Waisenrente nicht von der Bedürftigkeit des Kindes abhängt (vgl. Tomandl aaO 352). Die Waisenrente bemißt sich nach der Jahresbemessungsgrundlage des Verstorbenen (Tomandl aaO 350), nicht nach dem Umfang der Unterhaltsansprüche der Waise.
Für den Standpunkt der Berufungswerberin ist auch nichts mit der Zitierung der oberstgerichtlichen Entscheidung 10 Ob 285/91 (gemeint:
10 ObS 285/91; veröffentlicht in SSV-NF 6/31) in der Klagebeantwortung zu gewinnen (ON 2, AS 7). Die Berufungswerberin argumentiert dort, wenn schon bei einem ständigen Aufenthalt in einem Pflegeheim die Voraussetzungen des § 252 Abs 1 Z 4 ASVG nicht erfüllt seien, so seien sie erst recht zu verneinen, wenn die Pflege und Erziehung dem leiblichen Vater übertragen werde. Dabei übersieht die Berufungswerberin jedoch, daß es bei der genannten Entscheidung nicht um die Unterbringung des Stiefkindes in einem Pflegeheim nach dem Tod des Versicherten ging, sondern vielmehr darum, ob bei ständiger Unterbringung des Versicherten in einem Pflegeheim vor seinem Tod noch von einer ständigen Hausgemeinschaft zum Stiefkind gesprochen werden kann.
Überlegungen der Berufungswerberin zu den Unterhaltspflichten der leiblichen Eltern gehen ebenfalls am Kernproblem vorbei. Sie haben keinen Einfluß auf die Waisenrente. Nicht zielführend (und überdies eine unzulässige Neuerung) sind Ausführungen der Berufungswerberin, daß der leibliche Vater ohnehin besser verdiene als der Stiefvater verdient hätte.
Die einzige Frage, die noch von Relevanz sein könnte, ist jene der Vollendung des 18.Lebensjahres; sie wird jedoch von der Berufungswerberin nicht erwähnt. Es kann daher davon ausgegangen werden, daß insoweit auch kein Einwand der Beklagten besteht. Es genügt der Vollständigkeit halber darauf hinzuweisen, daß die Waisenrente grundsätzlich bis zur Vollendung des 18.Lebensjahres gebührt, darüberhinaus aber auf besonderen Antrag, der hier am 27.7.1995 gestellt wurde, gewährt werden kann. Im Verfahren kam heraus, daß der Kläger die vierjährige HTL in Hollabrunn besucht und mit Stand 27.7.1995 noch 2 Jahre zu absolvieren hat (vgl. Versicherungsakt). Der mangelnden Geltendmachung dieses Umstandes durch die Berufungswerberin kann unterstellt werden, daß sie - abgesehen von ihren grundsätzlichen Einwendungen, die sich auf die Übertragung der Pflege und Erziehung an den Kindesvater und den Aufenthalt des Klägers bei diesem gründen - wohl davon ausgeht, daß sich der Kläger nach Vollendung des 18.Lebensjahres in einer Schul- und Berufsausbildung befindet, die seine Arbeitskraft überwiegend beansprucht, sodaß die Kindeseigenschaft über das 18.Lebensjahr fortbesteht (§ 252 Abs 2 Z 1 ASVG). Zusammenfassend wurde der Klage zu Recht stattgegeben; der unbegründeten Berufung mußte ein Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 41, 50 ZPO, wobei zu berücksichtigen war, daß die Bemessungsgrundlage nicht wie vom Kläger verzeichnet S 136.800,-, sondern im Falle eines Anspruches auf eine wiederkehrende Leistung nur S 50.000,- beträgt (§ 77 Abs 2 ASGG). Aus Rechtsschutzerwägungen und nach dem Normzweck gilt diese Bemessungsgrundlage auch für den Tarifanspruch des vertretenden Rechtsanwalts (Kuderna, ASGG**2 501).