JudikaturOLG Linz

11Rs57/25v – OLG Linz Entscheidung

Entscheidung
23. Juli 2025

Kopf

Das Oberlandesgericht Linz hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Richter Senatspräsident Dr. Robert Singer als Vorsitzenden, Mag. Herbert Ratzenböck und Dr. Patrick Eixelsberger sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Rainer Stadler, MBA, MPA (Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Bernhard Eckmayr (Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geboren am **, **straße **, **, vertreten durch Dr. Helmut Blum und Mag. a Andrea Blum, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt , Landesstelle **, **, **, wegen Pflegegeld, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 16. Mai 2025, Cgs* 7, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird nicht Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird mit der Maßgabe bestätigt, dass es zu lauten hat:

„1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab 1. Juni 2024 Pflegegeld der Stufe 1 in Höhe von EUR 192,00 monatlich und ab 1. Jänner 2025 in Höhe von EUR 200,80 monatlich zu gewähren und die bereits fälligen Beträge binnen 14 Tagen zu zahlen.

2. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei ab 1. Juni 2024 ein die Stufe 1 übersteigendes Pflegegeld zu gewähren, wird abgewiesen.

3. Die klagende Partei hat die Verfahrenskosten selbst zu tragen.“

Die klagende Partei hat die Kosten des Berufungsverfahrens selbst zu tragen.

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Mit Bescheid vom 31.10.2024 gewährte die Beklagte der Klägerin Pflegegeld der Stufe 1 im Betrag von EUR 192,-- monatlich ab 1.6.2024. Der durchschnittliche Pflegebedarf betrage 70 Stunden monatlich.

Die Klägerin begehrte mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage erkennbar die Zuerkennung einer höheren Pflegegeldstufe. Aus den in der Klage im Detail dargelegten gesundheitlichen Beschwerden ergäbe sich eine eingeschränkte Alltagskompetenz. Die Klägerin benötige in zahlreichen Bereichen Hilfe und Unterstützung. Sie sei nicht in der Lage, ihren Alltag alleine zu bewältigen. Die Voraussetzungen für eine höhere Pflegegeldstufe lägen vor.

Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klage. Die von ihr durchgeführte ärztliche Begutachtung habe ergeben, dass kein höherer Pflegeaufwand vorliege, als dem bekämpften Bescheid zugrunde gelegt wurde.

Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht ohne Bescheidwiederholung die Klage ab. Es legte den auf den Seiten 1 und 2 ersichtlichen Sachverhalt zugrunde, auf den gemäß § 500a ZPO verwiesen wird.

In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht die Ansicht, dass der monatliche Pflegebedarf der Klägerin im Detail dargelegt 73 Stunden betrage. Damit erreiche die Klägerin nicht die für die Pflegegeldstufe 2 erforderliche Anzahl von Pflegestunden von mehr als 95 pro Monat.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Abänderungsantrag auf Zuerkennung eines die Pflegestufe 1 übersteigenden Pflegegeldes im gesetzlichen Ausmaß; hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die Beklagte hat sich am Berufungsverfahren nicht beteiligt.

Die Berufung ist nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

A. Zur Mängelrüge:

Die Berufung sieht eine Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens im Unterbleiben der Einholung der von der Klägerin beantragten Sachverständigengutachten aus den Fachbereichen der Orthopädie und Inneren Medizin. Die von der Klägerin vorgelegten medizinischen Unterlagen seien von Fachärzten für Orthopädie, orthopädische Chirurgie, Kardiologie und Innere Medizin erstellt worden. Die Feststellung ihrer orthopädischen und kardiologischen Einschränkungen und auch die Beurteilung ihres konkreten Pflegebedarfs durch einen fachkundigen Spezialisten wären wesentlich gewesen, um den konkreten Pflegebedarf in ihrem Fall zu ermitteln. Ein Allgemeinmediziner sei jedenfalls nicht geeignet, um vor allem ihre orthopädischen Einschränkungen und ihre Pflegebedürftigkeit in dieser Hinsicht zu beurteilen. Nach den Erfahrungen in gleichgelagerten Fällen sei allgemein bekannt, dass auch die Beklagte üblicherweise weitere Gutachter beiziehe, um mit hinreichender Sicherheit den Pflegebedarf zu ermitteln.

Dazu ist auszuführen:

1.1 Im Pflegegeldverfahren reicht im Allgemeinen die Begutachtung durch einen Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Allgemeinmedizin oder der Gesundheits- und Krankenpflege aus, weil es nicht auf die detaillierte Feststellung der Leidenszustände ankommt, sondern nur darauf, auf welche Weise die Fähigkeit des Pflegegeldwerbers zur Ausübung der lebensnotwendigen Verrichtungen eingeschränkt ist. Die Beiziehung eines Sachverständigen aus einem anderen Fachbereich ist nur erforderlich, wenn dies ausdrücklich vom bestellten Sachverständigen empfohlen ist oder sich sonst aufgrund der Beweislage die Notwendigkeit ergibt, vom Amts wegen derartige Gutachten einzuholen (OLG Wien 7 Rs 162/98i = RW0000272; Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld 5 Rz 8.123 und 8.126).

1.2 Das Gericht kann grundsätzlich davon ausgehen, dass die von ihm beigezogenen Sachverständigen so weitreichende Sachkenntnisse haben, um beurteilen zu können, ob diese im Einzelfall zur endgültigen Einschätzung ausreichen oder die Einholung weiterer Gutachten notwendig ist Greifeneder/Liebhart aaO Rz 8.126; vgl auch Neumayr in ZellKomm³ § 75 ASGG Rz 9 mwN). Sofern vom Sachverständigen daher nicht die Durchführung weiterer Untersuchungen oder die Einholung weiterer Gutachten angeregt wird, begründet das Unterbleiben der Durchführung weiterer Untersuchungen und der Einholung weiterer Gutachten im Regelfall keinen Verfahrensmangel, auch wenn dies von einer Partei beantragt wurde.

2.1 Hier hat das Erstgericht ein Sachverständigengutachten aus dem Fachbereich der Allgemeinmedizin eingeholt, ohne dass der von ihm beigezogene Sachverständige die Einholung eines Fachgutachtens zur weiteren Abklärung des Pflegebedarfs der Klägerin als erforderlich ansah. Dabei standen dem Allgemeinmediziner zahlreiche Befunde, insbesondere aus dem orthopädischen und internistischen Fachbereich, zur Verfügung (vgl Konvolut Beilage ./B).

2.2 Damit im Einklang wurde auch im Anstaltsverfahren nur ein Gutachten eines Allgemeinmediziners zur Abklärung des Pflegebedarfs eingeholt.

2.3 Bezeichnender Weise legt die Berufung nicht näher dar, welche konkreten Leidenszustände bzw Beschwerden aus den Fachbereichen der Orthopädie und Inneren Medizin einer näheren Abklärung bedurft hätten, um den bei der Klägerin bestehenden Pflegebedarf korrekt zu ermitteln.

2.4 Aktenkundige Umstände, die eine weitere Abklärung indiziert hätten, sind ebenfalls nicht ersichtlich. So bieten insbesondere auch die beiden nach der schriftlichen Gutachtenserstattung von der Klägerin vorgelegten Befundberichte Beilagen ./C und ./D über durchgeführte Infiltrationen im Bereich der Wirbelsäule (L4/L5 und L5/S1 beidseits) keinen Anlass für eine Abklärung aus dem orthopädischen Fachbereich, wird darin doch jeweils bloß eine unauffällige Durchführung geschildert.

3. Vor diesem Hintergrund liegt im Unterbleiben der Beiziehung eines Sachverständigen aus dem Fachbereich der Orthopädie bzw der Inneren Medizin keine Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens begründet, zumal die gutachterlichen Ausführungen des vom Erstgericht beigezogenen Allgemeinmediziners auch nach Ansicht des Berufungssenats in sich schlüssig und widerspruchsfrei sind. Gegenteiliges wird von der Berufung nicht konkret aufgezeigt.

B. Zur Rechtsrüge:

Die Berufung rügt ausschließlich das Unterbleiben der Einholung weiterer Sachverständigengutachten aus den Fachbereichen der Orthopädie und Inneren Medizin. Damit macht sie auch im Rahmen der Rechtsrüge ausschließlich primäre Verfahrensmängel geltend. Insofern kann auf die Ausführungen unter A. verwiesen werden.

C. Ergebnis, Kosten und Zulässigkeitsausspruch:

1. Der Berufung war daher ein Erfolg zu versagen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der bekämpfte Bescheid gemäß § 71 Abs 1 ASGG durch die Einbringung der Klage auch im jeweils stattgebenden Teil außer Kraft getreten ist. Dies hat zur Folge, dass der Klägerin auch dann, wenn ihr wie hier nur die dem außer Kraft getretenen Bescheid entsprechende Leistung zusteht, diese Leistung im Urteil neuerlich zuzusprechen gewesen wäre, weil das Urteil an die Stelle des Bescheides tritt; andernfalls fehlte die Grundlage für die Erbringung der dem Bescheid entsprechenden Leistung (vgl RS0085721).

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Mangels tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten des Verfahrens kommt ein Kostenersatzanspruch der Klägerin nach Billigkeit nicht in Betracht. Für eine amtswegige Berichtigung eines Urteils im Wege einer Maßgabebestätigung aus Anlass eines zulässigen Rechtsmittels steht in Bezug auf eine dadurch erfolgte Wiederholung des bereits im Bescheid Zuerkannten ein Kostenersatz nicht zu (vgl 10 ObS 117/16b zur Feststellung von Schwerarbeitszeiten).

3. Die ordentliche Revision ist gemäß § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig, weil ein vom Berufungsgericht verneinter Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens auch in Sozialrechtssachen nicht an das Höchstgericht herangetragen werden kann (RS0043061).

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