12Rs59/25w – OLG Linz Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Linz hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Barbara Jäger als Vorsitzende, Dr. Dieter Weiß und Mag. Nikolaus Steininger, LL.M. als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Bernhard Kreutzer, MBA (Kreis der Arbeitgeber) und Martin Gstöttner (Kreis der Arbeit nehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geboren am **, **, **, vertreten durch die Korn Gärtner Rechtsanwälte OG in Salzburg, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt , 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch ihren Angestellten Dr. B*, Landesstelle **, wegen Invaliditätspension über die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 9. April 2025, Cgs*-21, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit EUR 731,90 (darin EUR 121,98 USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 5. Juni 2024 hat die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Invaliditätspension vom 19. März 2024 abgelehnt, weil Invalidität nicht dauerhaft vorliege; darüber hinaus hat sie ausgesprochen, vorübergehende Invalidität im Ausmaß von mindestens sechs Monaten liege ebenfalls nicht vor und es bestehe kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bzw auf medizinische und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation.
Dagegen richtet sich die rechtzeitig eingebrachte Klage mit dem Begehren auf Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. April 2024, in eventu auf Feststellung des Anspruchs auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation sowie auf Rehabilitationsgeld ab 1. April 2024 bzw auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation.
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Erstgericht festgestellt, dass die Klägerin ab 1. April 2024 Anspruch auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation und auf Gewährung des Rehabilitationsgelds dem Grunde nach hat und dass Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nicht zweckmäßig sind, das Begehren auf Gewährung einer Invaliditätspension jedoch abgewiesen. Der Entscheidung liegt – zusammengefasst – folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Klägerin hat den Beruf der Friseurin und Perückenmacherin erlernt. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag war sie sieben Monate als Küchenhilfe, 47 Monate als Kassierin, 45 Monate als Reinigungskraft und 16 Monate als Produktionsmitarbeiterin erwerbstätig.
Aufgrund ihrer gesundheitlichen Beschwerden ist sie seit Antragstellung nur noch in der Lage, in bis zu 10 % der auf vier Stunden täglich bzw 20 Stunden wöchentlich beschränkten Arbeitszeit mit Hebe- bzw Tragebelastungen bis 5 kg verbundene Tätigkeiten im Gehen, Stehen und Sitzen zu verrichten, wobei weitere Einschränkungen bestehen. Insbesondere kann sie nur noch Arbeiten mit durchschnittlichem Zeitdruck verrichten; Arbeiten mit überdurchschnittlichem Zeitdruck, Nacht- oder Schichtarbeit sind ebensowenig möglich wie solche, die eine durchschnittliche Durchsetzungsfähigkeit und Teamfähigkeit erfordern; es besteht eine leichte Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit.
Seit Antragstellung sind aus dem Fachgebiet der Orthopädie (aufgrund der Kniegelenksbeschwerden) Krankenstände von sieben Wochen pro Jahr zu erwarten , aus dem Fachgebiet der Psychiatrie solche von drei bis vier Wochen pro Jahr.
Die aus orthopädischer Sicht erforderliche Kniegelenksoperation links wurde am 5. März 2025 durchgeführt. Bei idealem Heilungsverlauf wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit nach neun bis zwölf Monaten eine Besserung der Krankenstandsprognose auf zwei Wochen zu erwarten. Die Gesamtkrankenstandsprognose würde sich auf unter sieben Wochen jährlich bessern.
Ohne Operation – also rein durch konservative Maßnahmen, wie etwa physiotherapeutische, aber auch schmerztherapeutische Maßnahmen bzw Schmerztherapie – hätte die Möglichkeit bestanden, die orthopädische Krankenstandsprognose innerhalb von sechs bis neun Monaten auf fünf Wochen pro Jahr zu reduzieren. Insgesamt wäre diese über sieben Wochen gelegen.
Unter Ausklammerung der festgestellten siebenwöchigen Krankenstandsprognose wären der Klägerin noch leichte Büroarbeiten oder die Tätigkeit einer Portierin, Verpackerin oder Telefonistin in Teilzeit zumutbar. Es existiert auch ein Arbeitsmarkt von zumindest 100 Stellen in diesen Berufen, die mit dem eingeschränkten Leistungskalkül der Klägerin noch vereinbar wären.
In rechtlicher Beurteilung des Sachverhalts ist das Erstgericht zum Ergebnis gekommen, die Klägerin sei vorübergehend invalid.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten aus den Berufungsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem auf Abweisung auch des ersten Eventualbegehrens gerichteten Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.
Die Klägerin beantragt in ihrer Berufungsbeantwortung, die Berufung zurück-, in eventu abzuweisen.
Die gemäß § 480 Abs 1 ZPO in nichtöffentlicher Sitzung zu behandelnde Berufung ist nicht berechtigt .
Rechtliche Beurteilung
1 Nach ständiger höchstgerichtlicher Rechtsprechung schließen mit hoher Wahrscheinlichkeit und trotz zumutbarer Krankenbehandlung zu erwartende leidensbedingte Krankenstände von jährlich sieben Wochen und darüber eine Versicherte vom allgemeinen Arbeitsmarkt aus (RIS-Justiz RS0113471 ), wobei jedoch Zeiten „einmaliger" – wenn auch länger dauernder – Krankenstände im Regelfall nicht einzubeziehen sind (RIS-Justiz RS0084855 [T16]).
1.1 Einziges Thema der Berufung ist die Frage, ob bei der Klägerin wiederkehrende Krankenstände vorliegen oder ein bloß „einmaliger“ Krankenstand besteht. Dabei interpretiert die Beklagte die zuletzt genannte Rechtsprechung unter Hinweis auf 10 ObS 194/21h offenbar in dem Sinne, dass die Berücksichtigung einmaliger Krankenstände unabhängig von deren Dauer generell ausgeschlossen sei.
Dieser Rechtsansicht ist das Erstgericht – zu Recht – nicht gefolgt.
1.2.1 Die Annahme des Ausschlusses vom allgemeinen Arbeitsmarkt aufgrund einer Krankenstandsprognose ist nicht Inhalt des gesetzlichen Tatbestands, sondern wurzelt in der Tatsache, dass Arbeitsunfähigkeiten in diesem Ausmaß nicht toleriert werden.
Wenn „schon“ Krankenstände von sieben Wochen jährlich zu einem Ausschluss vom (allgemeinen) Arbeitsmarkt führen, gilt dies umso mehr für einen jahrelang durchgehend dauernden Krankenstand, auch wenn dieser nicht durch Phasen der Arbeitsfähigkeit unterbrochen wird.
1.2.2 Darüber hinaus bringt der Gesetzgeber – früher in § 254 Abs 1 Z 1 ASVG, seit dem SVAG, BGBl I 2015/2 – in § 255b bzw § 273b ASVG – zum Ausdruck, dass Leistungen aus der Pensionsversicherung dann eingreifen sollen, wenn eine bestimmte Mindestdauer eines (allenfalls „einmaligen“) Leidenszustands erreicht wird; unterhalb dieser Schwelle sind typischerweise Leistungen aus der Krankenversicherung zu erbringen (vgl ausdrücklich OGH 10 ObS 126/05k zu einem dreimonatigen Krankenstand aufgrund einer Hüftgelenksoperation; 10 ObS 21/11b zu einer sechsmonatigen stationären Entzugstherapie; 10 ObS 43/13s insb [Pkt 2] zu einer einjährigen Hepatitis C-Therapie; vgl auch 10 ObS 66/09t ).
1.3 Dauert ein Krankenstand – im Sinne der Arbeitsunfähigkeit nicht bloß in einem konkreten Dienstverhältnis, sondern in allen abstrakt in Betracht kommenden Tätigkeiten am gesamten Arbeitsmarkt – länger als sechs Monate, ist daher die Invalidität zu bejahen.
2.1 In der Mängelrüge kritisiert die Beklagte das Unterbleiben der Ergänzung des orthopädischen Gutachtens.
Rein dem Wortlaut nach wird in der Mängelrüge zwar im Ergebnis ein sekundärer Feststellungsmangel behauptet; dies zu Unrecht, weil im angefochtenen Urteil tatsächlich umfangreiche Feststellungen zur Krankenstandsprognose getroffen wurden. Inhaltlich sind die Ausführungen aber wohl so zu verstehen, dass aufgrund der Ergänzung oder Erörterung des Gutachtens abweichend ein „einmaliger“ Krankenstand festgestellt werden hätte müssen.
2.2 Diese Zielrichtung verfolgt die Beklagte auch mit der Tatsachenrüge , in der sie die kursiv dargestellten Feststellungen bekämpft, und in der Rechtsrüge.
2.3 Die Beklagte geht wohl – mit den Ausführungen des orthopädischen Sachverständigen im Gutachten (ON 9 S 17) und in der Gutachtenserörterung (ON 19.2 S 2) – davon aus, dass die Klägerin seit Antragstellung (am 19. März 2024) und bis zur – für einen Zeitpunkt zwischen neun und zwölf Monaten nach der Knieoperation (also zwischen Dezember 2025 und März 2026) erwarteten – Besserung ihres Gesundheitszustands durchgehend „im Dauerkrankenstand“ ist, also in einem Zeitraum von voraussichtlich 19 bis 24 Monaten.
Ob dieser Krankenstand als „einmaliger Krankenstand“ nicht zu berücksichtigen ist, ist eine – zu verneinende – Rechtsfrage (vgl dazu schon oben Pkt 1.3).
2.4 Was für die Beklagte aus der Argumentation mit einer Verletzung der Prozessförderungspflicht zu gewinnen sein könnte, ist nicht ersichtlich.
3 Der Berufung musste daher der Erfolg versagt bleiben.
4 Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a in Verbindung mit Abs 2 ASGG.
5 Die ordentliche Revision ist im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig, weil die einzige relevante Rechtsfrage in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung bereits in einem Sinne gelöst wurde, der sich aus der Rechtslage geradezu zwangsläufig ergibt.