JudikaturOLG Linz

1R1/25k – OLG Linz Entscheidung

Entscheidung
16. Januar 2025

Kopf

Das Oberlandesgericht Linz als Rekursgericht hat durch die Richter Dr. Wolfgang Seyer als Vorsitzenden sowie Dr. Stefan Estl und Dr. Christoph Freundenthaler in der Rechtssache der klagenden Partei A* , geboren am **, Einzelhandelskaufmann, **, vertreten durch Mag. Michael Rettenwander, Rechtsanwalt in Saalfelden, gegen die beklagte Partei B* , geboren am **, Informatiker, **gasse **, vertreten durch Dr. Marwin Gschöpf, Rechtsanwalt in Velden/Wörthersee, wegen EUR 32.500,00 sA sowie Feststellung (Streitwert: EUR 5.000,00; Gesamtstreitwert EUR 37.500,00) über den Rekurs der beklagten Partei ( Rekursinteresse: EUR 37.500,00 ) gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg vom 2. Dezember 2024, GZ1*-16, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass der Antrag der klagenden Partei auf Unterbrechung des Rechtsstreits bis zur rechtskräftigen Erledigung des Verfahrens GZ2* des Bezirksgerichts Zell am See abgewiesen wird.

Dem Erstgericht wird die Fortsetzung des Verfahrens aufgetragen.

Die klagenden Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit EUR 2.201,46 (darin EUR 366,91 USt) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens zu ersetzen.

Der Revisionsrekurs ist jedenfalls unzulässig.

Begründung:

Mit der am 23. April 2024 eingebrachten Klage begehrt der Kläger den Zuspruch von EUR 32.500,00 sA an Schadenersatz aus dem Skiunfall vom 22. Oktober 2020 sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für künftige aus diesem Skiunfall resultierende Schäden. Der Kläger brachte zusammengefasst vor, er habe die Piste 4b vom rechten zum linken Pistenrand langsam überquert und dort seine Fahrt fortgesetzt, als er nach wenigen kurzen Schwüngen vom Beklagten von hinten niedergestoßen worden sei. Der Beklagte sei mit zu hoher und unkontrollierter Geschwindigkeit unterwegs gewesen, sodass diesen das alleinige Verschulden an der Kollision treffe. Durch die Kollision habe er einen offenen Bruch des linken Schien- und Wadenbeins und ein ausgedehntes Kompartmentsyndrom am linken Unterschenkel erlitten. Spät- und Dauerfolgen, die aus der gegenständlichen Verletzung und den notwendigen Behandlungen resultieren, seien nicht auszuschließen.

Der Beklagte bestritt das Klagebegehren und beantragt, die Klage abzuweisen. Das alleinige Verschulden am gegenständlichen Skiunfall treffe den Kläger, da dieser unkontrolliert und mit zu hoher Geschwindigkeit gefahren sei. Er selbst sei mit seinem Snowboard in langsamen, langgezogenen Schwüngen und flacher Hangschrägspur talwärts gefahren, als er vom bergwärts (hinten) kommenden Kläger gerammt worden sei, wodurch beide zu Sturz gekommen seien.

Zwischen den Streitteilen behängt zu GZ2* des Bezirksgerichts Zell am See ein Zivilverfahren (folglich: Parallelverfahren). Gegenstand dieses Rechtsstreits sind die Schadenersatzansprüche des [hier:] Beklagten von EUR 9.291,70 aus diesem Skiunfall vom 22. Oktober 2020 gegenüber dem [hier:] Kläger sowie die Feststellung der Haftung des Klägers für künftige Schäden aus diesem Skiunfall. In diesem Verfahren gründen die Streitteile ihre Ansprüche jeweils auf dieselben Schuldvorwürfe und Haftungsgrundlagen, die sie auch im gegenständlichen Verfahren vorbringen. Der Kläger wandte die mit gegenständlicher Klage geltend gemachten Schadenersatzansprüche im Umfang von EUR 30.000,00 als Gegenforderung ein. In dem Parallelverfahren wurde bereits ein Lokalaugenschein samt Parteien- und Zeugeneinvernahme durchgeführt sowie ein skitechnisches und gerichtsmedizinisches Gutachten erstattet. Derzeit ist ein Verhandlungstermin für für den 24. Jänner 2025 anberaumt.

Im vorliegenden Verfahren beantragte der Kläger in der Verhandlung vom 9. Oktober 2024 die Unterbrechung des gegenständlichen Verfahrens bis zur rechtskräftigen Erledigung des Parallelverfahrens. Die Entscheidung im gegenständlichen Rechtsstreit hänge im wesentlichen Teil des Tatbestandes/Sachverhalts vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses, das Gegenstand des Verfahrens vor dem BG Zell am See sei, ab. Rechtlich sei in beiden Verfahren das Verschulden am Skiunfall zu beurteilen, sodass der „Tatbestand“ der in beiden Verfahren zu lösenden Rechtsfrage ident sei. Die Parteien der Verfahren seien, wenn auch in vertauschten Rollen, ident. Das Parallelverfahren sei weit fortgeschritten und stehe kurz vor dem Abschluss.

Der Beklagte sprach sich gegen die Unterbrechung aus. Es liege kein gleicher Streitgegenstand vor.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Erstgericht das gegenständliche Verfahren bis zur rechtskräftigen Erledigung des Verfahrens zu GZ2* des Bezirksgerichts Zell am See unterbrochen. Streitgegenständlicher Skiunfall sei bereits in einem Aktivverfahren des Beklagten zu GZ2* des Bezirksgerichts Zell am See streitanhängig. In dem Aktivverfahren seien dieselben Parteien und Parteienvertreter beteiligt. Der Tatbestand in beiden Verfahren sei ident, da rechtlich jeweils das Verschulden am streitgegenständlichen Skiunfall zu beurteilen sei. Der gegenständliche Rechtsstreit befinde sich im Anfangsstadium. Aus prozessökonomischen Gründen sei daher das gegenständliche Verfahren zu unterbrechen.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der rechtzeitige Rekurs des Beklagten wegen – erkennbar – unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem auf Abweisung des Unterbrechungsantrags gerichteten Änderungsantrag.

Der Kläger strebt mit seiner Rekursbeantwortung die Bestätigung des erstinstanzlichen Beschlusses an.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist berechtigt .

Der Beklagte argumentiert zusammengefasst, das Parallelverfahren beim Bezirksgericht Zell am See sei nicht präjudiziell für das gegenständliche Verfahren. Eine rechtskräftige Entscheidung des Bezirksgerichtes entfalte keine Bindungswirkung, sondern es seien die im gegenständlichen Verfahren erhobenen Ansprüche des Klägers selbständig zu beurteilen. Außerdem könne im Parallelverfahren eine ergänzende Erörterung auch des gerichtsmedizinischen Gutachtens nicht ausgeschlossen werden und seien noch weitere Beweisanträge (Computersimulation, materialkundliches Gutachten) ausständig, sodass der rechtskräftige Abschluss des Parallelverfahrens nicht abschätzbar sei. Eine Unterbrechung sei auch nicht zweckmäßig. Das gegenständliche Beweisverfahren könnte im Fall einer Unterbrechung erst in der nächsten oder übernächsten Skisaison durchgeführt werden.

Dazu ist auszuführen:

§ 190 ZPO erlaubt eine Unterbrechung des Verfahrens dann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen gerichtlichen Verfahrens bildet. Dieser Bestimmung liegt ein verfahrensökonomischer Gedanke zugrunde, der darauf abstellt, dass die Entscheidung der präjudiziellen Vorfrage in einem anderen Verfahren als Hauptfrage bei Parteienidentität nach der Rechtskraftlehre Bindungswirkung im Folgeprozess hat und kein weiteres Beweisverfahren dazu mehr durchgeführt werden muss. Ohne Bindungswirkung des Urteils im anderen Verfahren darf ein Verfahren nicht unterbrochen werden (vgl Höllwerth in Fasching/Konecny II 3 § 190 ZPO Rz 2ff).

Eine Bindungswirkung der Vorentscheidung ist dann anzunehmen, wenn sowohl Identität der Parteien als auch des rechtserzeugenden Sachverhalts (verbunden mit notwendig gleicher rechtlicher Qualifikation) gegeben sind, aber anstelle der Identität der Begehren ein im Gesetz gegründeter Sachzusammenhang zwischen beiden Begehren besteht. Ein solcher liegt vor, wenn die Entscheidung über den neuen Anspruch vom Inhalt der bereits rechtskräftig entschiedenen Streitsache abhängig ist (Präjudizialität der rechtskräftigen Entscheidung) oder wenn das Begehren das begriffliche Gegenteil des rechtskräftig entschiedenen Anspruchs darstellt (RS0041572). Präjudizialität ist dann gegeben, wenn der im Vorprozess als Hauptfrage rechtskräftig entschiedene Anspruch eine Vorfrage für den Anspruch im zweiten Prozess bildet (RS0127052). Wenn eine bestimmte Frage im Vorprozess hingegen nicht den Hauptgegenstand des Verfahrens bildete, sondern lediglich als Vorfrage zu beurteilen war, kommt der Entscheidung dieser Vorfrage im Vorprozess keine bindende Wirkung zu (RS0042554).

Lediglich der Spruch des Urteils entfaltet Bindungswirkung (RS0041331, RS0041357). Demgegenüber können die Entscheidungsgründe nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nur zur Auslegung und Individualisierung des Spruchs herangezogen werden (RS0041357).

Die Grenzen der materiellen Rechtskraft können aus Gründen der „Entscheidungsharmonie“ allein nicht ausgeweitet werden. Mit dem Gedanken der „Rechtssicherheit“ ist es durchaus vereinbar, wenn eine für unrichtig erkannte Sachverhaltsgrundlage eines Urteils im Vorprozess der Entscheidung im Folgeprozess nicht mehr zu Grunde gelegt wird. Die gegenteiligen Thesen der älteren Rechtsprechung sind überholt (RS0102102).

Wendet man diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall an, ergibt sich Folgendes:

Im Verfahren vor dem BG Zell am See zu GZ2* hat der [hier:] Beklagte seine eigenen Schadenersatzansprüche gegenüber dem [hier:] Kläger eingeklagt. Demgegenüber liegen dem vorliegenden Verfahren die Schadenersatzansprüche des Klägers zugrunde. Wenngleich in beiden Verfahren die erhobenen Ansprüche auf denselben Sachverhalt gestützt werden, macht der Beklagte in dem von ihm angestrengten Parallelverfahren nicht „dieselben Ansprüche “ wie der Kläger im vorliegenden Verfahren geltend. In den Verfahren gelangen jeweils unterschiedliche Hauptfragen zur Beurteilung, wenn auch die in beiden Verfahren zu klärenden Ansprüche auf demselben Skiunfall beruhen. Eine Bindungswirkung hinsichtlich des Leistungsbegehrens besteht daher nicht.

Unerheblich in diesem Zusammenhang ist, dass in beiden Verfahren ein Mitverschulden des jeweiligen Klägers zu beurteilen sein wird. Nach ständiger Rechtsprechung ist die in den Entscheidungsgründen enthaltene Beurteilung der Mitverschuldensquote als bloße Vorfrage eines Leistungsbegehrens nicht von der Bindungswirkung des rechtskräftigen Urteils umfasst (7 Ob 132/18i; 2 Ob 220/19w mwN; RS0040742 [T10] ). Die Rechtskraft eines früheren Urteils steht der selbständigen Prüfung eines aus demselben Sachverhalt erhobenen neuen Anspruchs nicht entgegen. Sie hindert auch nicht die neuerliche Aufrollung der Verschuldensfrage bei Erhebung eines weiteren Anspruchs aus einem Verkehrsunfall (RS0041292). Eine Bindungswirkung der Verschuldensaufteilung im Anlassverfahren auf die rechtliche Beurteilung im Folgeprozess ist zu verneinen (7 Ob 196/99w; 1 Ob 50/08x, 2 Ob 220/19w).

Auch hinsichtlich des gegenständlichen Feststellungsbegehrens liegt eine Präjudizialität im eingangs dargestellten Sinn nicht vor, ist doch nicht das Bestehen des Gesamtrechtsverhältnisses an sich Gegenstand des Feststellungsbegehrens, sondern nur eine einzelne aus diesem Rechtsverhältnis entspringende rechtliche Folge (arg: Haftung für allfällige künftige Schäden; vgl RS0039157 [T 9]). Das gegenständliche Feststellungsbegehren stellt auch nicht das begriffliche Gegenteil der im Parallelverfahren begehrten Feststellung dar, begehrt der Kläger doch die Feststellung der Haftung des Beklagten für seine künftigen Schäden, wohingegen der Beklagte im Parallelverfahren die Feststellung der Haftung des Klägers für seine künftigen Schäden anstrebt (vgl RS0039157 [T 2]).

Zur im Verfahren GZ2* eingewendeten Gegenforderung des Klägers ist der Vollständigkeit halber Folgendes anzumerken:

Vorauszuschicken ist, dass zwischen einer zur Aufrechnung eingewendeten Gegenforderung und einer selbständigen Klage zur Durchsetzung derselben Forderung keine Streitanhängigkeit besteht (RS0039174; RS0109746).

Wenngleich der Kläger sowohl im gegenständlichen Verfahren als auch mit seiner Gegenforderung (großteils) den Ersatz derselben Schäden begehrt, rechtfertigt dies nicht eine Unterbrechung des vorliegenden Verfahrens. Zum einen liegt noch gar keine Entscheidung im Parallelverfahren vor, sodass nicht absehbar ist, ob das BG Zell am See überhaupt über die Gegenforderung zu entscheiden hat und folglich diese Entscheidung Bindungswirkung entfaltet (vgl RS0033887, RS0041281). Zum anderen steht auch im Fall eines klagsstattgebenden Urteils die Entscheidung aus dem Parallelverfahren einer Klage über den darüber hinausgehenden Teil der Gegenforderung nicht entgegen (vgl etwa 2 Ob 220/19w).

Wenn der Kläger in seiner Rekursbeantwortung meint, im Verfahren vor dem BG Zell am See seien Vorfragen zu klären, von deren Beurteilung die Entscheidung der Hauptfrage im gegenständlichen Verfahren abhänge, verkennt er die eingangs wiedergegebenen Grundsätze, entfaltet doch lediglich die im Vorprozess entschiedene Hauptfrage Bindungswirkung. Eine Bindung an die Beurteilung von Vorfragen im Vorprozess besteht gerade nicht (vgl RS0042554).

Zusammengefasst ist festzuhalten:

Die gegenständlichen Ansprüche des Klägers sind selbständig zu beurteilen. Eine Bindungswirkung an das Urteil im Parallelverfahren, die darin enthaltenen Feststellungen oder dessen rechtliche Beurteilung besteht nicht. Die Frage eines Verschulden und der Verschuldensaufteilung sind losgelöst vom Parallelverfahren zu prüfen. Dasselbe gilt insgesamt für den Unfallhergang, das Handeln der beteiligten Parteien, die Kausalität für allfällige Schäden sowie insgesamt die geltend gemachten Ansprüche des Klägers. Die Feststellung aller Tatsachen hat in beiden Verfahren ohne Bindung an die Beurteilung des jeweils anderen Gerichts zu erfolgen (vgl RS0036826).

Im Ergebnis liegen die Voraussetzungen für eine Unterbrechung nach § 190 Abs 1 ZPO nicht vor und bleibt für prozessökonomische Überlegungen kein Raum, zumal auch materielle Nahebeziehungen und Abhängigkeiten zwischen den Streitgegenständen, teleologische Sinnzusammenhänge der Entscheidungsgegenstände oder Rechtsverhältnisse, das Gebot der Entscheidungsharmonie oder das Bedürfnis nach Rechtssicherheit keine hinreichenden Gründe für eine Erweiterung der Bindungswirkung sind (RS0102102 [T15]). Die Unterbrechung des Rechtsstreits nur zum Zweck der Stoffsammlung ist unzulässig (vgl Ziehensack in Höllwerth/Ziehensack , ZPO § 190 Rz 2).

In Stattgebung des Rekurses war daher der Unterbrechungsantrag des Klägers abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 41 ZPO. Das Verfahren über den Unterbrechungsantrag des Klägers ist ein durch dessen Antrag ausgelöster Zwischenstreit, dessen Kostenentscheidung vom Ausgang der Hauptsache unabhängig ist (vgl Obermaier , Kostenhandbuch 4 Rz 1.316). Da in der Tagsatzung vom 9. Oktober 2024 auch in der Hauptsache verhandelt wurde, sind nur die Kosten des Rekursverfahrens Gegenstand dieses Zwischenstreits (vgl Obermaier , Kostenhandbuch 4 Rz 1.319).

Die Unzulässigkeit des Revisionsrekurses folgt aus § 192 Abs 2 ZPO. Gegen einen die Unterbrechung abändernden Beschluss findet kein weiterer Rechtszug statt (RS0037003).

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