9Bs273/19i – OLG Linz Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Linz hat durch den Richter Dr. Winsauer als Vorsitzenden sowie die Richterinnen Mag. Hemetsberger und Mag. Kuranda in der Strafsache gegen D***** A***** und M***** A***** wegen des Vergehens der unrechtmäßigen Inanspruchnahme von sozialen Leistungen gemäß § 119 zweiter Fall FPG über die Berufungen der Angeklagten wegen Nichtigkeit und Schuld gegen das Urteil der Einzelrichterin des Landesgerichts Salzburg vom 9. August 2019, 36 Hv 70/19t-14, über Antrag der Oberstaatsanwaltschaft (§§ 489 Abs 1, 469 iVm 470 Z 3 StPO) in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wegen Nichtigkeit (§ 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO) wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Salzburg verwiesen.
Mit ihrer übrigen Berufung werden die Angeklagten auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurden der türkische und syrische Staatsangehörige D***** A***** und die türkische Staatsangehörige M***** A***** wegen des Vergehens der unrechtmäßigen Inanspruchnahme von sozialen Leistungen nach § 119 zweiter Fall FPG schuldig erkannt und hiefür nach dem zweiten Strafsatz des § 119 FPG jeweils zu einer gemäß § 43 Abs 1 StGB unter Bestimmung dreijähriger Probezeit bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von sechs Monaten sowie zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens verurteilt. Gemäß § 366 Abs 2 StPO wurden die Privatbeteiligten Salzburger Gebietskrankenkasse und das Land Salzburg mit ihren Ansprüchen auf den Zivilrechtsweg verwiesen.
Nach dem Schuldspruch haben die Angeklagten im bewussten und gewollten Zusammenwirken in der Zeit vom 2. Oktober 2015 bis zumindest Ende Februar 2017 unter Berufung auf ein gemäß § 120 Abs 2 FPG erschlichenes Recht, indem sie als Fremde in einem Verfahren zur Erteilung eines Einreisetitels oder eines Aufenthaltstitels vor der zur Ausstellung eines solchen Titels berufenen Behörde wissentlich falsche Angaben über ihre Identität, nämlich ihre angebliche syrische Staatsbürgerschaft, machten, um sich und ihren minderjährigen Kindern einen, wenn auch nur vorübergehenden, rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet zu erschleichen, soziale Leistungen in einem EUR 3.000,00 übersteigenden Wert, nämlich Leistungen aus dem Titel der Sozialversicherung, der Krankenversicherung und der Grundversorgung, in Anspruch genommen (ON 14).
Nach den wesentlichen Feststellungen seien die Angeklagten mit ihren minderjährigen Kindern R***** und M*****im September 2015 nach Österreich gekommen. An diesem Tag hätten sie für sich und ihre Töchter internationalen Schutz beantragt. Vor der Polizeiinspektion Wals-Siezenheim-AGM habe der Erstangeklagte am 15. September 2015 bei der Erstbefragung nach dem Asylgesetz zu seiner Staatsangehörigkeit „Syrien“ angegeben. Dabei habe der Erstangeklagte bestätigt: „Mir ist bewusst, dass nunmehr eine Erstbefragung im Asylverfahren stattfindet und dass meine Angaben eine wesentliche Grundlage für die Entscheidung des Bundesasylamtes sind. Ich werde daher aufgefordert, durch wahre und vollständige Angaben an der Sachverhaltsfeststellung mitzuwirken. Unwahre Angaben können nachteilige Folgen für mich haben.“ . Als Fluchtgrund habe der Erstangeklagte unter anderem angegeben, dass er Angst um seine Kinder gehabt hätte und in die Türkei geflüchtet seien. Die Türkei hätten sie verlassen, weil „man dort als Syrer nicht leben könne“ .
Die Zweitangeklagte habe am 15. September 2016 vor der Polizeiinspektion Wals-Siezenheim-AGM bei der Erstbefragung nach dem Asylgesetz angegeben, ihr Vorname laute „M*****“ und sei ihre Staatsangehörigkeit „Syrien“ . Dabei habe die Zweitangeklagte bestätigt: „Mir ist bewusst, dass nun meine Erstbefragung im Asylverfahren stattfindet und dass meine Angaben eine wesentliche Grundlage für die Entscheidung des Bundesasylamtes sind. Ich werde daher aufgefordert, durch wahre und vollständige Angaben an der Sachverhaltsfeststellung mitzuwirken. Unwahre Angaben können nachteilige Folgen für mich haben.“ . Als Fluchtgrund habe die Zweitangeklagte unter anderem angegeben, dass sie Syrien aufgrund des Krieges verlassen habe. Die Zweitangeklagte habe auch für ihre Töchter R***** und M***** einen Antrag auf Asyl gestellt.
Der Antrag auf internationalen Schutz sei beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zum Verfahren zugelassen worden und hätten die Angeklagten sowie ihre Töchter den Status von Asylwerbern erhalten. Am 28. September 2015 hätten die Angeklagten für sich und die Töchter R***** und M***** einen Antrag auf Aufnahme in die Grundversorgung beim Land Salzburg, und zwar einen „Neuantrag Quartieraufnahme“ gestellt, wobei der Erstangeklagte als seine eigene Staatsangehörigkeit „Syrien“ angegeben habe und der Vornahme der Zweitangeklagten mit „M*****“ angegeben worden sei. Die Angeklagten hätten „Quartierunterbringung“, und zwar „Unterbringung und Verpflegung“ sowie Grundversorgungsleistungen und die Krankenversicherung beantragt. Als Identitätsnachweis hätten sie sich auf die Aufenthaltsberechtigungskarte nach § 51 AsylG 2005 berufen.
Am 2. Oktober 2015 seien die Angeklagten sowie ihre Töchter R***** und M***** in die Grundversorgung des Landes Salzburg aufgenommen worden. Ab diesem Zeitpunkt waren für sie auch alle Leistungen der Salzburger Gebietskrankenkasse nutzbar. Der Erstangeklagte sei am 30. August 2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Außenstelle Salzburg, im Rahmen der „Einvernahme/Parteiengehör zur Asylantragstellung“ unter anderem wie folgt belehrt worden: „… Es ist unumgänglich, dass Sie die Wahrheit sagen, nichts verschweigen und alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte selbständig und über Nachfrage wahrheitsgemäß darlegen. Auf die Folgen einer wahrheitswidrigen Aussage und der damit verbundenen allenfalls für sich nachteilig verlaufenden Glaubwürdigkeitsprüfung werden Sie hingewiesen. Ebenso werden Sie heute auf Ihre Mitwirkungspflichten gemäß § 15 AsylG 2005 und auf die Folgen einer allfälligen Verletzung der Mitwirkungspflichten hingewiesen. Falsche Angaben Ihre Identität bzw Nationalität betreffend können strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. ...“ . Der Erstangeklagte habe in der Folge bejaht, dass seine Angaben, die er bisher im Verfahren getätigt habe, stimmen würden und alles richtig protokolliert worden sei. Er sei „Syrer, Kurde, Moslem.“ . Zu den Daten seiner Ehefrau habe er angegeben: „A***** M*****, geboren 29.04.1989, StA. Syrien, sie war früher staatenlose Kurdin. Sie hat die syrische Staatsbürgerschaft erst 2010 oder 2011 bekommen.“ .
Am 30. August 2016 sei die Zweitangeklagte vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Außenstelle Salzburg, im Rahmen der „Einvernahme/Parteiengehör zur Antragstellung“ unter anderem wie folgt belehrt worden: „… Es ist unumgänglich, dass Sie die Wahrheit sagen, nichts verschweigen und alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte selbständig und über Nachfrage wahrheitsgemäß darlegen. Auf die Folgen einer wahrheitswidrigen Aussage und der damit verbundenen allenfalls für Sie nachteilig verlaufenden Glaubwürdigkeitsprüfung werden Sie hingewiesen. Ebenso werden Sie heute auf Ihre Mitwirkungspflichten gemäß § 15 AsylG 2005 und auf die Folgen einer allfälligen Verletzung der Mitwirkungspflichten hingewiesen. Falsche Angaben Ihre Identität bzw Nationalität betreffend können strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. ...“ . Die Zweitangeklagte habe in der Folge bejaht, dass ihre Angaben, die sie bisher im Verfahren getätigt habe, stimmen würden und alles richtig protokolliert worden sei. Sie besitze seit ihrer Geburt die syrische Staatsbürgerschaft.
Am 2. März 2017 sei der Erstangeklagte im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Außenstelle Salzburg, wie folgt belehrt worden: „Sie sind verpflichtet, im Asylverfahren die Wahrheit zu sagen, nichts zu verschweigen und alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte selbständig und über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen. Sie werden ausdrücklich darauf hingewiesen, dass wahrheitswidrige Aussagen eine strafrechtliche Verfolgung gemäß § 119 FPG oder eine verwaltungsstrafrechtliche Verfolgung gemäß § 120 FPG nach sich ziehen kann. Die Vorlage von falschen oder verfälschten Urkunden würde jedenfalls eine strafrechtliche Verfolgung gemäß § 223 StGB nach sich ziehen. Darüber hinaus kann eine falsche Aussage in der Glaubwürdigkeitsprüfung zu ihrem Nachteil gewertet werden. ...“ . Der Erstangeklagte habe bestätigt, dass seine Angaben, die er bisher im Verfahren getätigt habe, stimmen würden und alles richtig protokolliert worden wäre. Sodann sei der Erstangeklagte „ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass wahrheitswidrige Aussagen eine strafrechtliche Verfolgung gemäß § 119 FPG oder eine verwaltungsstrafrechtliche Verfolgung gemäß § 120 FPG nach sich ziehen kann.“ . Die Frage, ob der Erstangeklagte nicht nur die syrische, sondern auch die türkische Staatsangehörigkeit habe, habe der Erstangeklagte verneint. Über Vorhalt, wonach die türkische Botschaft bestätigt habe, dass seine Frau und seine Kinder türkische Staatsangehörige seien, und auf die Frage, ob er dazu eine Stellungnahme abgeben wolle, gab der Erstangeklagte an: „Nein. Sie kommen auch aus Qmishli“ . Sodann habe der Erstangeklagte angegeben, er könne jederzeit zum Generalkonsulat der Republik Türkei gehen und dort vorsprechen. Er erklärte sich bereit, zum Generalkonsulat der Republik Türkei zu gehen und innerhalb einer Woche eine Bestätigung vorzulegen, habe aber dann doch angegeben, dass er einen Anwalt brauche wegen der türkischen Staatsangehörigkeit, weil er nicht türkisch spreche.
Am 2. März 2017 sei auch die Zweitangeklagte im Verfahren vor dem Bundesasylamt für Fremdenwesen und Asyl, Außenstelle Salzburg, wie folgt belehrt worden: „Sie sind verpflichtet, im Asylverfahren die Wahrheit zu sagen, nichts zu verschweigen und alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte selbständig und über Nachfrage wahrheitsgemäß darzulegen. Sie werden ausdrücklich darauf hingewiesen, dass wahrheitswidrige Aussagen eine strafrechtliche Verfolgung gemäß § 119 FPG oder eine verwaltungsstrafrechtliche Verfolgung gemäß § 120 FPG nach sich ziehen kann. Die Vorlage von falschen oder verfälschten Urkunden würde jedenfalls eine strafrechtliche Verfolgung gemäß § 223 StGB nach sich ziehen. Darüber hinaus kann eine falsche Aussage in der Glaubwürdigkeitsprüfung zu ihrem Nachteil gewertet werden. ...“ . Die Zweitangeklagte habe bestätigt, dass ihre Angaben, die sie bisher im Verfahren getätigt habe, stimmen würden und alles richtig protokolliert worden wäre. Sodann sei die Zweitangeklagte „ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass wahrheitswidrige Aussagen eine strafrechtliche Verfolgung gemäß § 119 FPG oder eine verwaltungsstrafrechtliche Verfolgung gemäß § 120 FPG nach sich ziehen kann“ , worauf sie geantwortet habe, dass sie immer die Wahrheit erzählt habe. Die Frage, ob es stimme, dass die Zweitangeklagte seit ihrer Geburt die syrische Staatsbürgerschaft besitze, bejahte die Zweitangeklagte. Den Vorhalt, wonach die türkische Botschaft bestätigt habe, dass sie und ihre Kinder türkische Staatsangehörige seien, kommentierte die Zweitangeklagte mit: „Nein, so etwas gibt‘s nicht“ , und den weiteren Vorhalt, wonach die türkische Staatsangehörigkeit bereits bestätigt worden sei, mit: „Nein, das stimmt überhaupt nicht„ . Auch den Vorhalt, wonach des weiteren bestätigt worden sei, dass ihr Ehemann ebenfalls türkische Staatsangehörigkeit besitze, habe die Zweitangeklagte mit: „Nein“ kommentiert. Sodann habe die Zweitangeklagte angegeben, dass sie gerne zum Generalkonsulat der Republik Türkei gehen könne. Sie habe nach wie vor darauf bestanden, Syrerin zu sein.
Mit Schreiben vom 19. April 2017 habe das Generalkonsulat der Republik Türkei bescheinigt, dass beide Angeklagte und deren Töchter R***** und M***** identifiziert worden wären und die türkische Staatsangehörigkeit besäßen, wobei die Zweitangeklagte und die Töchter R***** und M***** von Geburt an die türkische Staatsangehörigkeit besäßen, der Erstangeklagte seit 20. Februar 2012.
Jeweils mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21. Juni 2017 und vom 21. Februar 2018 seien die Anträge auf internationalen Schutz abgewiesen worden. Am 11. März 2019 sei der Erstangeklagte im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht erneut vernommen worden. Dabei hätte er ausgeführt, dass ihnen Schlepper erklärt hätten, dass sie Probleme bekommen können, wenn sie türkische Dokumente hätten. Er habe bestätigt, dass er gezielt die türkischen, jedoch nicht die syrischen Dokumente vernichtet habe. Darüber hinaus habe der Erstangeklagte angegeben, M***** A***** habe immer die türkische Staatsbürgerschaft gehabt, sie sei türkische Staatsangehörige. Die Ehe hätten sie alle drei Monate bei den türkischen Behörden bestätigen lassen und nach der Eheschließung wären sie alle drei Monate wieder in der Türkei gewesen. Die Geburt der Tochter R***** habe M***** A***** in der Türkei haben wollen und habe sie R***** auch dort zur Welt gebracht. Die Töchter R***** und M***** hätten die türkische und die syrische Staatsbürgerschaft. Der Erstangeklagte habe die Mitteilung des Generalkonsulats der Republik Türkei bestätigt, dass er selbst seit 20. Februar 2012 neben der syrischen auch die türkische Staatsbürgerschaft habe.
Am 11. März 2019 sei auch die Zweitangeklagte bei der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht erneut vernommen worden. Dabei habe sie bestätigt, dass ihre Kinder R***** und M***** die syrische und türkische Staatsbürgerschaft hätten. Sie selbst habe auch die syrische Staatsbürgerschaft beantragt, diese jedoch aufgrund der Kriegsumstände nicht erhalten. Sie habe angegeben, dass sie behauptet habe, selbst syrische Staatsangehörige zu sein und habe damit von Anfang an nicht die Wahrheit gesagt, weil sie Probleme mit ihren Familien in der Türkei und Angst gehabt habe, dorthin abgeschoben zu werden. Sie habe die Probleme mit der Türkei damit begründet, dass sie nicht innerhalb der Sippe geheiratet habe und ihre Familie gegen die Eheschließung gewesen sei. Sie habe die Mitteilung des Generalkonsulats der Türkei bestätigt, wonach sie selbst türkische Staatsangehörige sei.
Mit Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. März 2019 wurden die Beschwerden der Angeklagten gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21. Juni 2017 sowie vom 21. Februar 2018 als unbegründet abgewiesen. Der dagegen erhobenen Beschwerde des Erstangeklagten und dessen Tochter D***** erkannte der Verfassungsgerichtshof am 18. April 2019 aufschiebende Wirkung zu.
Nach den weiteren Konstatierungen des Erstgerichts hätten die Angeklagten gewusst, dass sie vor der Polizeiinspektion Wals-Siezenheim-AGM am 15. September 2015 bei der Erstbefragung nach dem Asylgesetz, am 30. August 2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Außenstelle Salzburg, im Rahmen der „Einvernahme/Parteiengehör zur Asylantragstellung“ und am 2. März 2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Außenstelle Salzburg, jeweils als Fremde in einem Verfahren zur Erteilung eines Einreisetitels oder eines Aufenthaltstitels vor der zur Ausstellung eines solchen Titels berufenen Behörde, oder in einem Asylverfahren vor dem Bundesamt über die Herkunft Angaben machten. Die Angeklagten hätten jeweils wider besseren Wissens falsche Angaben über ihre Staatsangehörigkeit und die ihrer Kinder gemacht, um die Duldung ihrer Anwesenheit im Bundesgebiet oder einen, wenn auch nur vorübergehenden, rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet zu erschleichen. Sie hätten gewusst, dass ihre Angaben nicht der Wahrheit entsprachen. Die Angeklagten hielten es ab 2. Oktober 2015, sohin auch ab dem 30. August 2016 bis zumindest Ende Februar 2017 ernstlich für möglich und hätten sich damit abgefunden, dass sie unter Berufung auf ein erschlichenes Recht, soziale Leistungen in Anspruch nahmen. Weiters hätten sie es zumindest ernstlich für möglich gehalten und sich damit abgefunden, dass sie soziale Leistungen in einem EUR 3.000,00 übersteigenden Wert in Anspruch nahmen. Vom 2. Oktober 2015 bis 6. Juni 2019 bezogen die Angeklagten für sich und ihre Kinder im Rahmen der Grundversorgung EUR 133.504,43, wobei sie vom 30. August 2016 bis zumindest Ende Februar 2017 im Rahmen der Grundversorgung für sich EUR 8.421,78 bezogen hätten. Bis zum 7. August 2019 hätten die Angeklagten für sich und ihre Kinder Leistungen der Salzburger Gebietskrankenkasse in Höhe von EUR 23.762,15 bezogen (US 3 bis 8).
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Angeklagten wegen Nichtigkeit (§ 281 Abs 1 Z 5 vierter Fall, 9 lit a StPO) und Schuld, mit der sie primär einen Freispruch, in eventu die Urteilsaufhebung und Zurückverweisung an das Erstgericht anstreben. Die Oberstaatsanwaltschaft beantragte in ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 21. Oktober 2019, der Berufung im Sinne des Eventualbegehrens Folge zu geben, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Erstgericht zu neuer Verhandlung und Entscheidung zu verweisen, weil vom Erstgericht nicht festgestellt worden sei, ob sich die Angeklagten durch ihre falschen bzw unvollständigen Angaben tatsächlich eine Duldung der Anwesenheit oder einen, wenn auch nur vorübergehenden, rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet erschlichen hätten.
Die Rechtsrüge ist im Sinne des Kassationsbegehrens, so wie von der Oberstaatsanwaltschaft beantragt, berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
§ 119 FPG ist ein Sonderdelikt, weil Täter nur sein kann, wer sich auf ein gemäß § 120 Abs 2 FPG erschlichenes Recht beruft.
Nach § 120 Abs 2 FPG macht sich strafbar, wer als Fremder
1. in einem Verfahren zur Erteilung eines Einreisetitels oder eines Aufenthaltstitels vor der zur Ausstellung eines solchen Titels berufenen Behörde wissentlich falsche Angaben macht, um sich einen, wenn auch nur vorübergehenden rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet zu erschleichen, oder
2. in einem Asylverfahren vor dem Bundesamt oder dem Bundesverwaltungsgericht wissentlich falsche Angaben über seine Identität oder Herkunft macht, um die Duldung seiner Anwesenheit im Bundesgebiet oder einen, wenn auch nur vorübergehenden, rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet zu erschleichen.
Täter kann daher nur ein Fremder sein, der an sich kein Aufenthaltsrecht hat. § 119 FPG ist ein Vermögensdelikt mit Nähe zum Betrug, weil sich der Täter ein Aufenthaltsrecht erschleicht und im Anschluss daran – allerdings ohne weitere Täuschungshandlung – eine Sozialleistung in Anspruch nimmt. Die Inanspruchnahme setzt darüber hinaus die Berufung auf das nach § 120 Abs 2 FPG erschlichene Recht voraus. Da ein Berufen erforderlich ist, erfüllt das bloße Entgegennehmen von Leistungen ohne die genannte Berufung nicht den Tatbestand. So gesehen kann § 119 FPG nicht durch Unterlassen begangen werden. Die falschen Angaben, also Angaben, die im Allgemeinen zur Verschaffung eines unrechtmäßigen Aufenthaltstitels geeignet sind, müssen vor der zur Ausstellung berufenen Behörde (§ 120 Abs 2 Z 1 FPG) bzw vor dem Bundesamt oder vor dem Bundesverwaltungsgericht (§ 120 Abs 2 Z 2 FPG) erfolgen. § 120 Abs 2 FPG kann wörtlich genommen nur erfüllt werden, wenn die Angabe von Angesicht zu Angesicht der Behörde bzw einer Person erfolgt, die zur Vertretung der Behörde grundsätzlich befugt und mit Befehls- und Zwangsgewalt ausgestattet ist, bzw von Angesicht zu Angesicht des Bundesamtes, des Bundesverwaltungsgerichts oder einer Person erfolgt, die zu deren Vertretung grundsätzlich befugt ist. Falschangaben, die zu einem früheren Zeitpunkt anderen Personen oder Behörden gegenüber gemacht werden, erfüllen demnach den Tatbestand nicht.
Fraglich ist, ob die Angaben für die Sachentscheidung erheblich sein müssen. Angaben, die den Verfahrensgegenstand nicht betreffen, erfüllen aus teleologischen Gründen nicht den Tatbestand, denn mit ihnen kann das geschützte Rechtsgut nicht beeinträchtigt werden (ähnlich Gericke, MK-AufenthG² § 95 Rz 101). Ob der Täter mit seinen Lügen Erfolg hat, ist ohne Bedeutung. Auch unwahre Verstärkungen eines an sich wahren Sachverhalts erfüllen den Tatbestand. Hätten die wahren Angaben zur Erteilung eines Aufenthaltstitels geführt, wäre der Tatbestand nach dem Wortlaut erfüllt. Da aber letztlich keine Rechtsgutsbeeinträchtigung vorliegt, ist der Tatbestand teleologisch zu reduzieren, was sich auch mit der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs deckt. Seiner Ansicht nach ist das Feststehen der Identität eines Fremden keine besondere gesetzliche Voraussetzung für die Gewährung von Asyl; Fragen der Identität spielen nur insoweit eine Rolle, als Zweifel an den diesbezüglichen Angaben des Fremden – im Besonderen daran, dass er derjenige sei, für den er sich ausgebe – zu dem Ergebnis führen, seine behauptete Bedrohung sei nicht glaubhaft. Daher wird die Verwaltungsstrafbarkeit nur zu bejahen sein, wenn das Asylrecht bei richtigen Angaben nicht gewährt worden wäre (vgl Tipold in Höpfel/Ratz , WK-StGB² § 119 FPG Rz 5/4 mwN). Nach § 120 Abs 2 StGB bedeutet dies, dass Personen, die die Flüchtlingseigenschaft tatsächlich erfüllen, nicht als Täter in Betracht kommen, weil eine Erschleichung nicht möglich ist ( Hurich , Straftatbestände des österreichischen Fremdenpolizeirechts, S 77).
Zutreffend wenden daher die Berufungswerber im Rahmen der Rechtsrüge (Z 9 lit a) - so wie die Oberstaatsanwaltschaft – ein, dass für eine abschließende rechtliche Beurteilung die Feststellung unabdingbar ist, ob sich die Angeklagten tatsächlich durch ihre falschen und unvollständigen Angaben ein Recht nach § 120 Abs 2 FPG erschlichen haben, also bei wahrheitsgemäßen Angaben nicht einmal einen vorübergehenden rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet in Anspruch nehmen konnten, somit auch nicht in die Grundversorgung des Landes Salzburg aufgenommen worden wären und damit keine Leistungen aus dem Titel der Sozialversicherung, der Krankenversicherung und der Grundversorgung erhalten hätten. In diesem Sinn wird im neu durchzuführenden Verfahren das Beweisverfahren zu ergänzen und entsprechende Feststellungen zu treffen sein.
Aufgrund des kassatorischen Erkenntnisses erübrigt sich ein Eingehen auf die weiteren Berufungspunkte, weswegen die Angeklagten mit ihrer übrigen Berufung auf diese Entscheidung zu verweisen waren.