8Bs20/15w – OLG Linz Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Linz hat durch den Richter Dr. Bergmayr als Vorsitzenden, die Richterin Dr. Engljähringer und den Richter Mag. Koller in der Strafsache gegen M***** C***** wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB über die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss der Vorsitzenden des Landesgerichts Linz als Jugendschöffengericht vom 22. Jänner 2015, 30 Hv 3/15p-11, in nichtöffentlicher Sitzung entschieden:
Spruch
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Angeknüpft wird zur bisherigen Verfahrenschronologie an die Ausführungen dieses Beschwerdegerichts in seinem Beschluss vom 20. März 2015, mit welchem gemäß Art 89 Abs 2 B-VG (iVm Art 140 Abs 1 Z 1 lit a B-VG) an den Verfassungsgerichtshof der Antrag gestellt wurde, § 52 Abs 1 erster und zweiter Satz StPO idF BGBl I 2013/195 als verfassungswidrig aufzuheben. Vor dem Hintergrund der durch das Strafprozessrechtsänderungsgesetz I 2016 (BGBl I 2016/26) geänderten und seit 1. Juni 2016 geltenden Verfahrensrechtslage erklärte das Oberlandesgericht Linz am 14. Juni 2016 gegenüber dem Verfassungsgerichtshof, die im erwähnten Gesetzesprüfungsantrag geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken nicht mehr weiter aufrecht zu erhalten.
Zu rekurrieren ist damit auf den aktuellen Stand des vorliegenden Hauptverfahrens:
Mit Anklageschrift vom 7. Jänner 2015 (ON 8) legte die Staatsanwaltschaft M***** C***** dem Verbrechen der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 StGB subsumierte Handlungen zur Last. Am 20. Jänner 2015 beantragte der Angeklagte beim Erstgericht gemäß § 52 Abs 1 StPO die Übermittlung einer Kopie der Ton- und Bildaufzeichnungen über die früheren kontradiktorischen Zeugeneinvernahmen zweier mutmaßlicher Tatopfer iSd § 65 Z 1 lit a letzter Fall StPO (ON 10). Diesen Antrag wies die Vorsitzende des Jugendschöffensenats mit dem nun angefochtenen Beschluss (ON 11) ab.
Dagegen wendet sich die aktuelle Beschwerde des Angeklagten (ON 12), die sich jedoch mit Blick auf die jüngere Judikatur dieses Oberlandesgerichts zur Beschwerdelegitimation gegen Entscheidungen des Vorsitzenden in der Verfahrensphase zwischen Einbringen der Anklage und Beginn der Hauptverhandlung (OLG Linz 8 Bs 65/16i) als unzulässig erweist.
Rechtliche Beurteilung
Durch das Einbringen der Anklage beginnt das Hauptverfahren (§ 210 Abs 1 StPO). Das „Zwischenverfahren“ alter Prägung wurde mit der StPO-Reform 2008 (BGBl I 2004/19) beseitigt ( Fabrizy StPO 11 Vor § 220 Rz 1 mH; RV 231 BlgNR 23. GP 8). Der Abschnitt des Hauptverfahrens nach rechtswirksamer Versetzung in den Anklagestand ist im 13. Hauptstück der StPO geregelt und dient der Vorbereitung der Hauptverhandlung. Die hiefür notwendigen Entscheidungen und Verfügungen hat im kollegialgerichtlichen Verfahren der Vorsitzende zu treffen (§ 210 Abs 4 iVm § 32 Abs 3 StPO; Danek/Mann in WK-StPO Vor §§ 220-227 Rz 1f). In dem Sinn soll sich die Tätigkeit des Vorsitzenden vor Beginn der Hauptverhandlung prinzipiell auf deren Vorbereitung beschränken, diese aber nicht vorwegnehmen. Neben dem Aktenstudium und dem Ausschreiben der Hauptverhandlung sind etwa ein Antrag des Angeklagten auf Gewährung von Übersetzungshilfe im Sinn des § 56 Abs 4 StPO oder, wie hier, das Begehren der Verteidigung auf Akteneinsicht und Erstellung von Aktenabschriften denkbar, mit welchen Verrichtungen der Vorsitzende im angesprochenen Verfahrensstadium typischerweise befasst sein kann ( Danek/Mann aaO Rz 8).
Auf Basis jener geltenden Gesetzeskonzeption einschließlich der allgemeinen richterlichen Prozessleitungsbefugnis, die schon vor der Hauptverhandlung einsetzt und die sich inhaltlich bis hin zu Entscheidungen über die Aufnahme von Beweisen im Rahmen der sogenannten diskretionären Gewalt (§ 254 StPO) erstreckt, selbst wenn diese mit einem Grundrechtseingriff verbunden ist (RIS-Justiz RS0125728; 11 Os 22/10k; 14 Os 48/12h; 12 Os 111/14m; OLG Linz 8 Bs 248/10t; Kirchbacher in WK-StPO § 254 Rz 2, Rz 4ff mwN), spricht deshalb einiges dafür, auch die hier kritisierte (unschädlich) in Beschlussform gegossene Disposition, mit der die Vorsitzende zum Ausdruck brachte, die begehrte Herausgabe der Kopien von DVD, auf welchen die kontradiktorischen Vernehmungen der Zeuginnen Asanger und Retzer aufgezeichnet worden waren, nicht zu veranlassen, in der Sache bloß als prozessleitende Verfügung iSd § 35 Abs 2 letzter Halbsatz StPO zu begreifen, gegen die eine Beschwerde nicht zulässig ist. Denn eine gesonderte Anfechtbarkeit solcher vom Vorsitzenden getroffener Anordnungen sieht das Gesetz nicht vor (vgl Danek/Mann aaO § 238 Rz 19 mwH).
Teilt man diese Einschätzung zur Rechtsnatur der bekämpften Entscheidung der Vorsitzenden nicht, worauf mittelbar das oberstgerichtliche Erkenntnis 13 Os 76/09i hindeuten könnte, mit dem die Beschwerdelegitimation des beigegebenen Rechtsanwalts gemäß § 87 Abs 1 StPO betreffend einen – offenkundig nach Anklageerhebung gefassten – gerichtlichen Beschluss auf Bewilligung der Verfahrenshilfe bejaht wurde, so sieht man sich allerdings auch mit dem Befund konfrontiert, dass inhaltsgleiche Antragstellung des Angeklagten in der Hauptverhandlung zufolge § 238 Abs 2 und Abs 3 StPO ein gesondertes Rechtsmittel gegen einen (dann: vom Schöffensenat gefällten) abweislichen Beschluss wohl zu keiner Zeit ermöglicht hätte. Dem Gesetzgeber ist aber nicht die systemwidrige Konsequenz zuzusinnen, dass im Verfahren vor Kollegialgerichten die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, die über einen identen Antrag meritorisch abspricht, zum einen vom Oberlandesgericht im Beschwerdeverfahren, zum anderen aber vom Obersten Gerichtshof im Rahmen einer parallelen Anfechtung durch den Angeklagten im Weg des § 281 Abs 1 Z 4 StPO zu prüfen wäre und beide Rechtsmittelgerichte zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen könnten (15 Os 184/09m; weniger weitgehend Danek/Mann aaO Rz 20 mwH; ggt OLG Linz 7 Bs 33/14y).
Dabei wird nicht übersehen, dass nach den allgemeinen Grundsätzen der §§ 87ff StPO, anders als nach alter Rechtslage, jeder Beschluss mit Beschwerde an das Rechtsmittelgericht anfechtbar sein soll, wenn das Gesetz im Einzelnen nichts anderes bestimmt. Freilich stellte der Oberste Gerichtshof zu 13 Os 56/09y (RIS-Justiz RS0124936) klar, dass die StPO kein generelles Beschwerderecht an das übergeordnete Gericht normiert: Soweit kein „Rechtsmittelgericht“ und maW kein gesetzlicher Richter besteht, ist daher auch keine Beschwerde zulässig ( Nimmervoll Beschluss und Beschwerde in der StPO 127ff mwN; Fabrizy aaO § 87 Rz 1 mH). Das in 13 Os 56/09y darüber hinaus gezogene Resümee, dass deshalb gegen jeden nicht als Rechtsmittelgericht (nunmehr: § 31 Abs 6 Z 1 StPO) oder nach § 38 StPO gefassten Beschluss (§ 35 Abs 2 StPO) des Landesgerichts – mit ausdrücklicher Ausnahme unter anderem der §§ 226 Abs 4, 229 Abs 3 und 238 Abs 3 StPO – eine Beschwerde an das Oberlandesgericht zulässig sei, bedarf jedoch seinerseits, wie Nimmervoll (aaO 128f) aufzeigt, des Rückgriffs auf das Lückenfüllungsinstrument der Analogie, um (nach Auffassung des Autors) unerwünschte Ergebnisse, wie etwa die ansonsten anzunehmende Unanfechtbarkeit eines außerhalb der Hauptverhandlung abgewiesenen Verfahrenshilfeantrags (§§ 61f StPO), Antrags auf Akteneinsicht (§§ 51f StPO), auf nachträgliche Strafmilderung (§ 31a StGB) oder auf Ratenzahlung (§ 409a StPO) zu vermeiden. Wenngleich die StPO insbesondere für vorwiegend in der Hauptverhandlung gefasste Beschlüsse ein – selbstständiges – Rechtsmittel vor dem Hintergrund regelmäßiger alternativer Anfechtungsmöglichkeit aus dem Titel von Urteilsnichtigkeit explizit ausschließe, so verbiete sich doch eine Verallgemeinerung des Gedankens in die Richtung, sämtlichen in der Hauptverhandlung gefassten Beschlüssen die gesonderte Bekämpfbarkeit zu verwehren. Umso mehr müsse selbiges für jedwede Beschlussfassung außerhalb der Hauptverhandlung gelten. Auch in diesem Verfahrensstadium bedürfe es eines ausdrücklichen Rechtsmittelausschlusses, Analogie komme dort nicht in Betracht ( Nimmervoll aaO 129f).
Letztere Ansicht vermag der erkennende Senat nicht zu teilen. Aus der spezifischen Ausgestaltung der eingangs erläuterten, denkbar knapp gehaltenen Phase des Hauptverfahrens zwischen Anklageeinbringung und Beginn der Hauptverhandlung lässt sich nämlich ebenso gut ableiten, dass dem Strafprozessreformgesetzgeber für jenen Abschnitt – abgesehen von der Durchführung eines allfälligen Einspruchsverfahrens – bloß die im 12. und 13. Hauptstück der StPO konturierten, indes erst mit dem Urteil anfechtbaren Verfügungen und Entscheidungen des Vorsitzenden vorschwebten. Aus dieser Warte blieb für die Normierung von Rechtsmittelausschlüssen nach § 87 Abs 1 letzter Teilsatz StPO hinsichtlich anderer Anordnungen des Vorsitzenden von vornherein kein Raum. Aus dem einschlägig in §§ 222 Abs 2, 238 Abs 2 StPO vorgezeichneten Umgang mit kontroversiellen Anträgen der Prozessbeteiligten (gleich wie unbestrittenen, denen der Vorsitzende nicht Folge zu geben gedenkt), welcher erkennbar vom Leitbild der strikten Verfahrenskonzentration auf die Hauptverhandlung geprägt ist und durchaus verallgemeinerungsfähig erscheint, wird vielmehr deutlich, dass es den jeweiligen Interessenten unbenommen bleiben soll, ihre Ansprüche gegebenenfalls durch neuerliche Antragstellung in der Hauptverhandlung, verbunden (allem voran) mit Urteilsanfechtung nach den Regeln der §§ 238, 281 Abs 1 Z 4 StPO, wirksam durchzusetzen (15 Os 157/12w; vgl außerdem 11 Os 139/12v mH auf Ratz in WK-StPO § 468 Rz 38 aE; zum Rechtsschutz Dritter Danek/Mann aaO Rz 14 mwN). Der Regelungszweck streitet hier aufgrund der evidenten sachlichen Nähe der sonstigen (Zwischen-)Entscheidungen, die der Vorsitzende im Vorfeld der Hauptverhandlung – letztlich in deren Vorbereitung – trifft, weitaus eher für ein reduziertes teleologisches Verständnis des allgemeinen Beschwerderechts in § 87 Abs 1 StPO.
Davon abgesehen wäre nach dem Dafürhalten dieses Beschwerdegerichts für den Rechtsmittelwerber – unvorgreiflich allfälliger neuerlicher Antragstellung in der Hauptverhandlung (vgl 15 Os 157/12w) – in der Sache selbst nichts zu gewinnen. Denn gemäß § 165 Abs 5a StPO, der am 1. Juni 2016 in Kraft trat (BGBl I 2016/26) und der seither als prozessuale Vorschrift mangels entgegenstehender Übergangsbestimmung auch im aktuellen Beschwerdeverfahren anzuwenden wäre, ist im Fall der unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung durchgeführten Vernehmung eines Zeugen, der durch die dem Beschuldigten zur Last gelegte Straftat in seiner Geschlechtssphäre verletzt worden sein könnte, die Videoaufnahme durch das Gericht (§ 31 Abs 1) zu verwahren und nach Einbringen der Anklage dem zuständigen Gericht zu übermitteln. Unter dieser Voraussetzung (welche hier offenkundig erfüllt ist, sind doch die angesprochenen DVD dem Gerichtsakt angeschlossen) besteht aber entgegen § 52 Abs 1 StPO kein Recht auf Ausfolgung einer Kopie mehr.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diese Entscheidung steht kein weiteres Rechtsmittel zu.