9Bs416/13k – OLG Linz Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Linz hat durch die Richter Dr. Winsauer als Vorsitzenden, Dr. Morbitzer und Mag.a Reinberg in der Strafsache gegen I***** M***** wegen des Ver brechens des Mordes nach § 75 StGB über die Beschwerde des Beschuldigten gegen den Be schluss des Landesgerichtes Salzburg vom 5. Dezember 2013, 28 HR 246/13m-78, in nichtöffentlicher Sitzung entschieden:
Spruch
Der Beschwerde wird nicht Folge gegeben.
Text
BEGRÜNDUNG:
Die Staatsanwaltschaft Salzburg führt zu 10 St 176/13b ein Ermittlungsverfahren gegen den 1976 geborenen I***** M***** wegen des Verdachts des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB, weil er am 6. September 2013 in Salzburg seine Ehefrau A***** M***** durch mehrere kräftige und gezielte Messerstiche vorsätzlich getötet haben soll.
Nach seiner Festnahme durch die Kriminalpolizei gemäß § 171 Abs 2 Z 1 StPO wurde über den Beschuldigten über Antrag der Staatsanwaltschaft Salzburg vom 7. September 2013 (AS 1 in ON 1) die Untersuchungshaft nach Vernehmung des Beschuldigten im Beisein eines Dolmetschers zu den Voraussetzungen der Untersuchungshaft (ON 8) die bedingt obligatorische Untersuchungshaft gemäß „§ 173 Abs 1 und 2 Z 2 (gemeint: Z 1), Z 3 lit a und Abs 6 StPO“ verhängt (ON 9) und nach Durchführung von Haftverhandlungen am 23. September 2013 (ON 23), am 22. Oktober 2013 (ON 47) sowie zuletzt am 20. Dezember 2013, je aus dem Haftgrund des § 173 Abs 1 und 6 StPO, fortgesetzt.
Am 6. November 2013 (ON 63) beantragte der Beschuldigte, vertreten durch seinen Verfahrenshilfeverteidiger bei der Staatsanwaltschaft Salzburg, die schriftliche Übersetzung ausdrücklich als wesentlich bezeichneter Aktenstücke (die Protokolle über die Vernehmungen des Beschuldigten, den Beschluss über die Verhängung der Untersuchungshaft sowie die Protokolle der ersten beiden Haftverhandlungen, vgl. ON 7, 8, 9, 23, 47; Teile des Gutachtens des Gerichtsmedizinischen Instituts Salzburg-Linz zu den Verletzungen des Beschuldigten, AS 13 bis 17 in ON 28; Teile des Gutachtens des Gerichtsmedizinischen Instituts Salzburg-Linz über die Obduktion der A***** M*****, AS 1 bis 5 in ON 45; Protokolle über Zeugenvernehmungen in AS 11 bis 23 [M***** O*****] und AS 25 bis 33 [R***** O*****] in ON 52; die Blutspurenmuster-Verteilungsanalyse des Gerichtsmedizinischen Instituts Salzburg-Linz in ON 59; das Ergebnis der neuropsychiatrischen Begutachtung von Ass.-Prof. Dr. G*****, AS 35ff in ON „59“, gemeint: 61) in die serbische Sprache, unter Hinweis auf die bereits - vor der innerstaatlich verspäteten Umsetzung durch das erst mit 1. Jänner 2014 in Kraft getretene Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2013 (§ 56 StPO; BGBl I Nr. 195/2013) - unmittelbar wirksame Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, veröffentlicht im Amtsblatt Nr. L 280 vom 26/10/2010 (im Folgenden: „RL-Dolmetsch“ oder „Richtlinie“), um der Waffengleichheit entsprechend, die Verteidigung durchführen zu können.
Die Staatsanwaltschaft Salzburg entsprach dem Antrag nicht (AS 27 in ON 1). Dem vom Beschuldigten dagegen erhobenen Einspruch wegen Rechtsverletzung nach § 106 Abs 1 Z 1 StPO (ON 71), dem die öffentliche Anklägerin mit dem Hinweis auf die Bestimmung des § 56 StPO idF BGBl I 2004/19 sowie mit Blick auf die Vertretung des Beschuldigten durch einen Verteidiger und die laufende Beiziehung eines Dolmetschers entgegentrat (ON 72), wurde mit dem angefochtenen Beschluss (ON 78) – zusammmengefasst - mit der Begründung nicht Folge gegeben, dass die RL-Dolmetsch nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshof nicht unmittelbar anwendbar sei und der Beschuldigte weder nach der bis 31. Dezember 2013 anzuwendenden, noch nach der erst mit 1.Jänner 2014 in Kraft tretenden Fassung des § 56 StPO einen Rechtsanspruch auf schriftliche Übersetzungen habe.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde (ON 80) mit dem Ziel, die Rechtswidrigkeit der Ablehnung der begehrten schriftlichen Übersetzung festzustellen, weil zu Unrecht die RL-Dolmetsch nicht angewendet worden sei. Zudem wird die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim Europäischen Gerichtshof zur Richtlinienkonformität des § 56 StPO idF BGBl I Nr 19/2004 angeregt.
Die Beschwerde ist nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Nach § 106 Abs 1 Z 1 StPO steht im Ermittlungsverfahren jeder Person, die behauptet, durch die Staatsanwaltschaft in einem subjektiven Recht verletzt zu sein, weil ihr die Ausübung eines Rechts nach diesem Gesetz verweigert wurde, der Einspruch an das Gericht zu. Als subjektive Rechte sind in diesem Zusammenhang solche zu verstehen, die dem Betroffenen einen Anspruch auf ein bestimmtes Verfahrensrecht nach der StPO einräumen (Fabrizy, StPO11 § 106 Rz 2). Dem Grunde nach gesetzeskonform erwog das Erstgericht, dass eine Verletzung eines subjektiven Rechts dann nicht vorliegt, soweit das Gesetz von einer bindenden Regelung des Verhaltens der Staatsanwaltschaft absieht und von diesem Ermessen im Sinne des Gesetzes Gebrauch gemacht wurde, wobei das Gericht ausschließlich die Einhaltung der StPO zu prüfen und dabei auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt ist, die nicht auch die Zweckmäßigkeit des beanstandeten Verhaltens umfasst (vgl Fabrizy aaO Rz 3, 5).
Fallbezogen ist der Beschwerdeführer in einem subjektiven Recht nicht verletzt, wenngleich sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das Erstgericht verfehlt davon ausgingen, dass die RL-Dolmetsch im Zeitpunkt der Antragstellung nicht unmittelbar anwendbar gewesen wäre, weil selbst nach dieser Richtlinie kein subjektives Recht auf eine schriftliche Übersetzung – selbst wesentlicher Aktenstücke – besteht, sondern die Beurteilung in welcher Form Übersetzungshilfe gewährt wird, im Ermessen des Entscheidungsträgers unter Beachtung der Grundsätze eines fairen Verfahrens liegt.
Nach Artikel 9 Abs 1 der RL-Dolmetsch haben sich die Mitgliedsstaaten verpflichtet, diese Richtlinie spätestens bis 27. Oktober 2013 innerstaatlich umzusetzen. Eine Richtlinie als Teil des Sekundärrechts der Europäischen Union hat zwar vor ihrer Umsetzung in innerstaatliches Recht grundsätzlich keine unmittelbare Wirkung. Allerdings muss sie innerhalb der von den Organen festgesetzten Frist vollständig und richtig umgesetzt werden, ansonsten ihr nach Ablauf der Umsetzungsfrist vertikale Wirkung zukommt. Das bedeutet, dass Einzelne sich in einem Gerichtsverfahren gegen Staaten (nicht aber gegenüber anderen Einzelnen) darauf berufen können, wenn die Bestimmungen der Richtlinie hinreichend genau formuliert sind, sodass daraus unmittelbar (ohne Umsetzungsspielraum für den nationalen Gesetzgeber) Rechte abgeleitet werden können („Self-executing“-Charakter der Richtlinie; vgl Streinz Europarecht6 Rz 494 mwH). Grundsätzlich ist daher dem Beschwerdeführer beizupflichten, dass im Zeitpunkt seiner Antragstellung am 6. November 2013 die für eine unmittelbare Anwendbarkeit hinreichend genau formulierte RL-Dolmetsch unmittelbare Wirkung entfaltet hat. Die in diesem Zusammenhang sowohl vom Erstgericht als auch vom Beschwerdeführer erwähnte Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 24. April 2013, 15 Os 157/12w (vgl RIS-Justiz RS0109920), ändert an dieser Beurteilung nichts, weil der Oberste Gerichtshof im April 2013 darlegte, dass (nachvollziehbar mit Blick auf die damals noch offene Frist zur Umsetzung) die RL-Dolmetsch keine unmittelbare Wirkung entfaltet.
Im Übrigen legte der Oberste Gerichtshof in dieser Entscheidung auch dar, dass bereits aus Art 6 Abs 3 lit e MRK das Recht auf Übersetzung sämtlicher schriftlicher Beweismittel oder sonstiger Verfahrensdokumente nicht abgeleitet werden könne. Demnach ergibt sich weder aus der StPO noch der MRK ein unbeschränkter Anspruch eines Angeklagten auf schriftliche Übersetzung aller Aktenstücke in allen Einzelheiten. Es genügt, dass dem Angeklagten durch den Übersetzungsbeistand ermöglicht wird, den ihm zur Last gelegten Vorwurf zu kennen und sich dagegen zu verteidigen, insbesondere seine Version der Ereignisse dem Gericht vorzutragen. Zudem setzte sich der Oberste Gerichtshof auch mit dem Regelungsinhalt der RL-Dolmetsch auseinander: Gemäß Art 3 Abs 1 und Abs 2 der Richtlinie hat eine verdächtige oder beschuldigte Person, die die Sprache des Strafverfahrens nicht versteht, innerhalb einer angemessenen Frist eine schriftliche Übersetzung aller Unterlagen zu erhalten, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass sie im Stande ist, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um ein faires Verfahren sicherzustellen, wobei zu den wesentlichen Unterlagen jegliche Anordnung einer Freiheitsentziehung, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil gehören. Ob neben den nach der Richtlinie – nur mit Blick auf ein faires Verfahren - jedenfalls schriftlich zu übersetzenden Unterlagen weitere Dokumente wesentlich sind, hat gemäß Art 3 Abs 3 der RL-Dolmetsch die zuständige Behörde im konkreten Fall zu entscheiden. Es liegt somit im Ermessen der/s zuständigen Staatsanwaltschaft/Gerichts (Art 3 Abs 3 der Richtlinie; Weratschnig, JSt 2010, 143), ob eine schriftliche Übersetzung erforderlich ist.
Zusammenfassend ergibt sich daher, dass selbst die von 28. Oktober 2013 bis 31. Dezember 2013 unmittelbar wirkende RL-Dolmetsch (seit 1. Jänner 2014 durch § 56 StPO idF BGBl I 2013/195 umgesetzt) keine unbedingte Verpflichtung zu schriftlicher Übersetzung (selbst wesentlicher Aktenstücke) normiert, sondern eine Ermessensentscheidung vorsieht, ob unter der Prämisse eines fairen Verfahrens fallbezogen eine mündliche oder eine schriftliche Übersetzung einzelner Aktenstücke (ist der Beschuldigte durch einen Verteidiger vertreten, genügt wohl auch eine übersetzte mündliche Zusammenfassung) im Interesse einer (wirksamen) Verteidigung (§ 7 StPO) erforderlich ist. Art 3 Abs 1 der RL-Dolmetsch sieht zwar unter dem Gesichtspunkt eines fairen Verfahrens das grundsätzliche Recht auf schriftliche Übersetzung wesentlicher Aktenbestandteile, so jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil vor (Art 3 Abs 2 RL-Dolmetsch), wobei mit Blick auf die Einschätzung weiterer Dokumente als „wesentlich“ ein Ermessensspielraum der zuständigen Behörde besteht (Art 3 Abs 3 RL-Dolmetsch) und selbst hinsichtlich wesentlicher Unterlagen kein Gebot zur lückenlosen schriftlichen Übersetzung gesamter Dokumente vorgesehen ist (Art 3 Abs 4 der RL-Dolmetsch), doch regelt Art 3 Abs 7 der Richtlinie einschränkend selbst für an sich schriftlich zu übersetzende, weil „wesentliche“ Aktenbestandteile im Sinne des Art 3 Abs 2 der RL-Dolmetsch eine Ausnahme dahingehend, dass eine mündliche Übersetzung oder mündliche Zusammenfassung auch von wesentlichen Unterlagen anstelle einer schriftlichen Übersetzung genügen soll, wenn eine solche mündliche Übersetzung oder mündliche Zusammenfassung einem fairen Verfahren nicht entgegensteht.
Ausgehend von diesen grundsätzlichen Erwägungen hat daher das Erstgericht – wenngleich nicht auf Basis der Richtlinie 2010/64/EU, aber erkennbar auch unter Berücksichtigung des § 56 StPO idF BGBl I 2013/195 – erwogen, dass die Ablehnung der vom Beschuldigten begehrten schriftlichen Übersetzung bestimmter Aktenbestandteile durch die Staatsanwaltschaft Salzburg keine Verletzung eines subjektiven Rechts darstellt, weil – selbst unter Berücksichtigung der RL-Dolmetsch – die Entscheidung, ob Aktenstücke mündlich oder schriftlich zu übersetzen sind, eine Ermessensentscheidung darstellt. Entgegen der Meinung des Beschwerdeführers ist fallbezogen – abgesehen von organisatorischen Erleichterungen für den Verteidiger – auch nicht erkennbar, warum die mündliche Übersetzung der vom Beschuldigten bezeichneten Aktenstücke Verteidigungsrechte unzulässig beschränken würde und deswegen kein faires Verfahren gegeben sei.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen besteht auch kein Grund für einen Antrag zur Fällung der vom Beschwerdeführer begehrten Vorabentscheidung durch den EuGH.
RECHTSMITTELBELEHRUNG:
Gegen diese Entscheidung steht kein weiteres Rechtsmittel zu.