7Bs442/10i – OLG Linz Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Linz hat durch die Richter Dr. Gföllner als Vorsitzende, Dr. A. Henhofer und Dr. Morbitzer in der Übergabesache betreffend Mag. Gerhard W***** über die Be schwerde des Mag. Gerhard W***** gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz vom 9. Dezember 2010, 19 HR 265/10h - 17, nach der in Anwesenheit des Staatsanwalts Mag. Daxecker als Vertreter der Leitenden Oberstaatsanwältin, des Betroffenen und des Verteidigers Mag. Bodingbauer durchgeführten öffentlichen mündlichen Verhandlung am 26. Jänner 2011 beschlossen:
Spruch
Der Beschwerde wird teilweise Folge gegeben und der angefochtene Beschluss in seinem Punkt 1. dahin abgeändert, dass er lautet:
Die Übergabe des österreichischen Staatsbürgers Mag. Gerhard W*****, geboren am 2. Februar 1964 in Steyregg, an die Bundesrepublik Deutschland zur Strafverfolgung wegen des im Europäischen Haftbefehl der Staatsanwaltschaft München I vom 4.Oktober 2010, AZ. 301 JS 31613/10, basierend auf dem Haftbefehl des Amtsgerichts München vom 10. Juni 2010, AZ. III Gs 4613/10, angeführten Vergehens der Steuerhinterziehung gemäß § 370 Absatz 1 Nummer 2 (deutsche) Abgabenordnung ist unter der Bedingung zulässig, dass Mag. Gerhard W***** nach Gewährung des rechtlichen Gehörs zum Vollzug einer allfällig verhängten Freiheitsstrafe nach Österreich rücküberstellt wird (§ 5 Abs 5 EU-JZG).
Hingegen ist die Übergabe des Mag. Gerhard W***** wegen des im Europäischen Haftbefehl weiters angeführten Vergehens des unerlaubten Handeltreibens mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln gemäß §§ 95 Absatz 1 Nummer 4, Absatz 3 Nummer 1 a, c, 43 Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 (deutsches) Arzneimittelgesetz nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
Mit dem angefochtenen, nach öffentlicher Verhandlung am 9. Dezember 2010 mündlich verkündeten Beschluss des Landesgerichts Linz wurde zu Punkt 1. die Übergabe des am 2. Februar 1964 in Steyregg/Österreich geborenen österreichischen Staatsbürgers Mag. Ger hard W***** an die Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des „Europäischen Haftbefehls der Staatsanwaltschaft München vom 10. Juni 2010, III Gs 4613/10“, für zulässig erklärt, mit der Maßgabe gemäß § 5 Abs 5 EU-JZG, „wonach die Zulässigerklärung der Übergabe nur unter der Bedingung erklärt wird, dass der Betroffene zum Vollzug einer allfällig verhängten Strafe nach Österreich rücküberstellt wird“.
Die von Mag. Gerhard W***** gegen die Zulässigerklärung der Aus lieferung erhobene Beschwerde (ON 20) ist im spruchgemäßen Umfang teilweise berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Nach dem hier anzuwendenden Bundesgesetz über die justizielle Zusammenarbeit in Straf sachen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-JZG) gilt ein aufrechter Europäischer Haftbefehl auch ohne besonderen Antrag der ausstellenden Justizbehörde unter anderem als Ersuchen um Durchführung eines Übergabeverfahrens (§ 18 Abs 1 EU-JZG). Die Voraus setzungen für eine Übergabe sind an Hand des Inhalts des Europäischen Haftbefehls zu prüfen. Eine Verdachtsprüfung ist nur im Umfang des § 33 Abs 2 ARHG vorzunehmen (§ 19 Abs 1 EU-JZG).
Inhaltlich des vorliegenden, auf den Haftbefehl des Amtsgerichts München vom 10. Juni 2010, AZ. III Gs 4613/10, gegründeten Europäischen Haftbefehl der Staatsanwaltschaft München I vom 4. Oktober 2010, AZ. 301 JS 31613/10, ist der am 2. Februar 1964 geborene österreichische Staatsbürger Mag. Gerhard W***** verdächtig, zwölf tatmehrheitliche Fälle der Steuerhinterziehung gemäß § 370 Absatz 1 Nummer 2 (deutsche) Abgabenordnung in Tat mehrheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in 41.500 Fällen gemäß §§ 95 Absatz 1 Nummer 4, Absatz 3 Nummer 1 a, c, 43 Absatz 1 Satz 2, Absatz 2 (deutsches) Arzneimittelgesetz dadurch begangen zu haben, dass er
- die durch seinen in Österreich betriebenen Internet-Versandhandel von Nachahmer produkten diverser auf dem Markt befindlicher Präparate wie „Viagra“, „Cialis“ und „Levitra“ und anderen an in Deutschland ansässige private Endabnehmer erzielten, in Deutschland steuerpflichtigen Umsätze beim zuständigen Finanzamt München nicht vollständig und wahrheitsmäßig erklärte, indem er für die Jahre 2006 bis 2009 weder Umsatzsteuer-Jahressteuererklärungen noch Umsatzsteuer-Voranmeldungen einreichte, wobei der steuerpflichtige Umsatz in diesen Jahren mehr als EUR 2 Millionen betrug;
- im Zeitraum Anfang Juni 2006 bis Anfang 2010 über das Internet in mindestens 41.500 Fällen nachgeahmte, nicht zugelassene verschreibungspflichtige Arzneimittel an Kunden aus Deutschland und anderen europäischen Ländern verkaufte, wobei bei den nachgeahmten Produkten die Wirkstoffkonzentrationen teilweise nicht in der richtigen Zusammensetzung enthalten waren und die nicht zugelassenen Generika geeignet waren, aufgrund der abweichenden Zusammensetzung und der enthaltenen Wirkstoffe Gesundheitsschädigungen bei Menschen hervorzurufen (ON 4).
Die dem Betroffenen angelastete Straftat der Steuerhinterziehung gemäß § 370 Absatz 1 Nummer 2 der deutschen Abgabenordnung ist mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht (S 5 in ON 4). Nach österreichischem Recht entspricht das inkriminierte Verhalten dem Finanzvergehen der Abgabenhinterziehung nach § 33 Abs 1 FinStrG; die gerichtliche Zuständigkeit ergibt sich aus § 53 Abs 1 lit b FinStrG.
Das den Betroffenen zudem angelastete Vergehen des unerlaubten Handeltreibens mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ist hingegen nach dem österreichischen Arznei mittelG kein gerichtlich strafbarer Tatbestand.
Da die dem Betroffenen im Europäischen Haftbefehl zur Last gelegte Steuerhinterziehung eine auch nach österreichischem Recht mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung darstellt (§ 4 Abs 1 EU-JZG), jedoch nach § 65 StGB iVm § 2 Abs 1 lit a FinStrG nicht den österreichischen Strafgesetzen unterliegt (weil es sich nach § 2 Abs 1 lit a FinStrG um Abgaben handeln muss, die bundesrechtlich oder durch unmittelbar wirksame Rechtsvor schriften der Europäischen Union geregelt sind, sodass Vergehen oder Verbrechen, die die Verkürzung der deutschen Umsatzsteuer betreffen, nach dem österreichischen FinStrG nicht strafbar sind), kommt eine Übergabe des österreichischen Staatsbürgers Mag. Gerhard W***** an die Bundesrepublik Deutschland zur Strafverfolgung in diesem Umfang gemäß § 5 Abs 1 EU-JZG in Betracht. Die Staatsanwaltschaft München hat mit Schreiben vom 19. November 2010 garantiert, dass der Betroffene nach seiner eventuellen rechtskräftigen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe diese Strafe in Österreich verbüßen kann und die gegen den Betroffenen zu verhängende Strafe in Österreich nach dem im Art 11 des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 beschriebenen Verfahren umgewandelt werden kann (ON 5)
Erhebliche Bedenken daran, dass der Betroffene der ihm im Europäischen Haftbefehl zur Last gelegten Steuerhinterziehung hinreichend verdächtig ist, bestehen nach der Aktenlage nicht. Der Tatverdacht ist ausreichend individualisiert und konkretisiert. Beweise, durch welche der Verdacht unmittelbar entkräftet werden könnte, werden vom Beschwerdeführer nicht dargetan. Die abschließende Beurteilung des inkriminierten Sachverhalts – unter Berück sichtigung der Einlassung des Betroffenen und der von ihm vorgelegten Urkunden – muss dem erkennenden Gericht im Ausstellungsstaat vorbehalten bleiben.
Auch der Umstand, dass der angefochtene Beschluss nur mangelhaft begründet ist, stellt ein Übergabehindernis nicht dar.
Es war daher die Übergabe des Betroffenen zur Strafverfolgung im Umfang der in Rede stehenden Steuerhinterziehungen mit der angeführten Bedingung für zulässig, hingegen im Umfang des weiteren Vorwurfs des unerlaubten Handeltreibens mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln – weil insoweit keine auslieferungsfähige strafbare Handlung gegeben ist - für nicht zulässig zu erklären.