11Bs60/25y – OLG Innsbruck Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Innsbruck hat durch die Richterinnen Mag. a Hagen als Vorsitzende sowie Dr. in Offer und Mag. a Obwieser als weitere Mitglieder des Senats in der Strafsache gegen A* wegen des Vergehens der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1 und 2 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die Beschwerde des Genannten gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck vom 27.02.2025, GZ **-34, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen:
Spruch
Der Beschwerde wird F o l g e gegeben, der angefochtene Beschluss a u f g e h o b e n und dem Angeklagten A* gemäß § 61 Abs 2 Z 4 StPO ein Verfahrenshilfeverteidiger beigegeben.
Gegen diese Entscheidung steht ein weiterer Rechtszug nicht zu (§ 89 Abs 6 StPO).
Text
Begründung:
Die Staatsanwaltschaft Innsbruck legt dem Angeklagten A* mit Strafantrag vom 18.02.2025, **, das Vergehen der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1 und 2 StGB (I.) und das Vergehen der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung nach § 205a Abs 1 dritter Fall StGB (II.) zur Last (ON 32).
Demnach habe er in **
I.
im Zeitraum von zumindest Mitte Februar 2020 bis einschließlich 05.12.2023 gegen seine Ehegattin B* längere Zeit hindurch fortgesetzt Gewalt ausgeübt, indem er sie in regelmäßigen Angriffen, teilweise täglich, teilweise wöchentlich
1. am Körper misshandelte sowie strafbare Handlungen gegen Leib und Leben, nämlich die Vergehen der Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 15 StGB sowie nach § 83 Abs 2 StGB beging, dadurch, dass er ihr zunächst fast täglich, später zumindest einmal wöchentlich mit der flachen Hand ins Gesicht schlug und sie an den Haaren zog, wobei er sie einmal derart mit dem Brustbereich gegen ein hartes Sofa schlug, sie fest am Oberarm ergriff, auf den Boden schubste und ihr ein Kissen gegen das Gesicht drückte, wodurch sie nicht mehr richtig atmen konnte, sie ins Schienbein biss, ihr heißes Wasser über den Rücken goss, wiederholt ihren Kopf gegen den Boden schlug, ihr mit einem Ladekabel ins Gesicht schlug, ihr mehrmals gegen den Rücken trat, sodass sie vom Schlafsofa auf den Boden fiel, mehrmals gezielt Gegenstände in ihre Richtung warf, wobei sie mit Ausnahme eines Dreirades, welches sie am Arm traf, nicht getroffen wurde, ihr wiederholt mit einem Gürtel, einem Besenstiel, einer Holzstange, mit Schuhen sowie mit Spielsachen gegen den Körper schlug, wodurch sie Hämatome am Körper, zu Beginn der Gewaltausübung auch im Gesicht, Rötungen am Körper, eine Bisswunde, eine Narbe an der Stirn, eine Thoraxprellung sowie über die körperliche Einwirkung hinaus Schmerzen erlitt;
2. strafbare Handlungen gegen die Freiheit, nämlich die Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 und 2 StGB beging, dadurch, dass er sie mehrfach gefährlich mit der Zufügung zumindest einer Körperverletzung sowie mit dem Tode bedrohte, um sie nachhaltig in Furcht und Unruhe zu versetzen, in dem er sie immer wieder mit dem Umbringen bedrohte, wobei er konkret auch äußerte, dass er ihr das Messer in den Hals rammen werde, wobei er zu diesem Zeitpunkt auch tatsächlich ein großes Küchenmesser in der Hand hielt und zuletzt am 05.12.2023 die Rollos der Wohnung hinunterließ, einen Gürtel in die Hand nahm und drohend zum Schlag hob sowie die Vergehen der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB beging, dadurch, dass er sie mit Gewalt und Drohungen zu Handlungen und Unterlassungen nötigte, indem er sie an den Haaren zog und sie aufforderte, zukünftig nach dem Zähneputzen in die Toilette auszuspucken, ihr wiederholt mit Gewalt Essen in den Mund stopfte, sie aufforderte wieder in die Wohnung zu gehen, ansonsten würde er sie an den Haaren hinaufziehen sowie einmal nach ihrem gemeinsamen Aufenthalt in Syrien ihr gegenüber äußerte, dass er sie finden und umbringen werde, falls sie sich Gedanken habe, zur Polizei zu gehen, es sei ihm egal, wenn er ins Gefängnis gehe, er wolle sie im Grab sehen;
II.
zu jeweils unerhobenen Zeitpunkten im Zeitraum von ca. Mitte Februar 2020 bis ca. Ende November 2023 in zumindest drei Fällen mit B* nach vorangegangener Einschüchterung den Beischlaf vorgenommenen, indem er sie der unter Punkt I. fortgesetzten Gewaltausübung aussetzte, wobei er in zumindest drei Fällen nach der von ihm gegenüber B* ausgeübten Gewalt von ihr Geschlechtsverkehr forderte, welcher Aufforderung sie aus Angst, dass er ihr gegenüber bei Weigerung wiederum Gewalt anwendet, ohne Widerworte nachkam.
Dieses Verfahren behängt derzeit beim Landesgericht Innsbruck zu AZ **.
Im Zuge der Anberaumung der kontradiktorischen Einvernahme der Zeugin B* im Ermittlungsverfahren beantragte der Angeklagte am 25.6.2024 die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers (ON 11). Dieser Antrag wurde ihm am selben Tag mit dem Auftrag zur Vervollständigung seiner Angaben retourniert (ON 1.4). Ein verbesserter Antrag wurde vom Angeklagten nicht vorgelegt, vielmehr teilte RA Mag. Oliver Mathis mit Eingabe vom 11.7.2024 mit, dass ihm der Angeklagte Vollmacht erteilt habe (ON 19). Am 20.2.2025 beantragte der Angeklagte erneut die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers, wobei er darauf hinwies, dass ihm bereits vom Bezirksgericht Innsbruck Verfahrenshilfe für das dortige Kontaktrechtsverfahren (**) bewilligt worden sei (ON 33).
Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss wies das Erstgericht diesen Antrag mit der Begründung ab, dass kein Fall von notwendiger Verteidigung vorliege und angesichts des Akteninhalts nicht von einer schwierigen Sach- und Rechtslage auszugehen sei. Zudem sei der Angeklagte in Anbetracht seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse durchaus in der Lage, die Verfahrenskosten ohne Beeinträchtigung des notwendigen Unterhalts für sich und seine Familie zu bestreiten.
Dagegen richtet sich die rechtzeitige Beschwerde des Angeklagten. Vorgebracht wird, dass das im Erstbeschluss angeführte Geld bereits aufgebraucht sei und er als Laie angesichts der Komplexität des Falles mit immer wieder neu aufgestellten Behauptungen und Widersprüchen durch seine Ehegattin befürchte, ohne anwaltliche Unterstützung nicht entsprechend reagieren zu können (ON 35.1).
Rechtliche Beurteilung
Der Beschwerde, zu der sich die Oberstaatsanwaltschaft einer Stellungnahme enthielt, kommt Berechtigung zu.
Nach dem ersten Satz des § 61 Abs 2 StPO ist einem Beschuldigten (hier Angeklagten), der außer Stande ist, ohne Beeinträchtigung des für ihn und seine Familie, für deren Unterhalt er zu sorgen hat, zu einer einfachen Lebensführung notwendigen Unterhalts die gesamten Kosten der Verteidigung zu tragen, auf Antrag ein Verteidiger beizugeben, dessen Kosten er nicht oder nur zum Teil zu tragen hat, wenn und soweit dies im Interesse der Rechtspflege, vor allem im Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung, erforderlich ist.
Aus dem Beschluss des Bezirksgerichts Innsbruck vom 4.2.2025, ** (ON 33, 6 ff), und den mit der Beschwerde vorgelegten Unterlagen (ON 35.2 ff) geht hervor, dass der Angeklagte bis einschließlich Jänner 2025 ein monatliches Nettoeinkommen von rund 2.276,--, 14-mal jährlich, erzielte und im Februar 2025 ein solches von EUR 2.367,71 bezog sowie sorgepflichtig für zwei Kinder und die getrennt lebende Ehegattin ist. Ausgehend von einem monatlichen Nettoeinkommen von EUR 2.762,-- und unter Berücksichtigung der aktuellen Existenzminimumtabelle 1bm ist von einer wirtschaftlichen Bedürftigkeit des Angeklagten auszugehen.
Da gegenständlich kein Fall notwendiger Verteidigung nach - hier von Relevanz - § 61 Abs 1 Z 5 StPO vorliegt (RIS-Justiz RS0098131 [T2]), kommt die Beigebung eines Verteidigers anlassbezogen nur wegen schwieriger Sach- und Rechtslage nach Abs 2 Z 4 leg cit in Betracht, zumal eine Beeinträchtigung des Beschwerdeführers im Sinn des Abs 2 Z 2 leg cit sich weder aus dem Akt ergibt, noch von diesem behauptet wurde.
Die Strafprozessordnung gibt hinsichtlich der Beurteilung einer schwierigen Sach- und Rechtslage keine Begriffserläuterung vor, sodass eine Einzelfallbetrachtung vorzunehmen ist. Bei dem dafür auszulotenden Spielraum zur sachgerechten Einzelfallbeurteilung muss sich das Gericht vor allem am Interesse einer zweckentsprechenden Verteidigung orientieren. Die Aufzählung in § 61 Abs 2 Z 1 bis 4 StPO ist nicht taxativ. Auch in anderen Fällen kann daher nach § 61 Abs 2 erster Satz StPO die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers im Interesse der Rechtspflege erforderlich sein. Der Gesetzgeber hat bewusst einen weiteren Anwendungsspielraum für die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers belassen ( Soyer/Schumann in Fuchs/Ratz , WK StPO § 61 Rz 54 und 66 f). In diesem Sinne kann die Beigebung also bei Verfahrensabläufen, die den Beschuldigten formell oder materiell überfordern würden, erforderlich sein.
Im Hauptverfahren sind zwei Anklagepunkte aufzuklären. In beiden Fällen stehen sich die Angaben des Anklagten (ON 2.5 und ON 12.3) und die Aussagen der Zeugen B* (ON 2.6, ON 5.4 und ON 22), C* (ON 5.3), D* (ON 12.4), E* (ON 28.2 f) sowie F* (ON 29.6 f) gegenüber. Darüber hinaus liegen vom Opfer vorgelegte Lichtbilder über Verletzungen vor (ON 2.13 ff). Die Staatsanwaltschaft hat neben der Vorführung der Aufzeichnungen über die kontradiktorische Vernehmungen der B* beantragt, die weiteren vier - oben genannten - Zeugen zu laden. Im Rahmen des zu erwartenden Beweisverfahrens werden diese Zeugen sohin zu eigenen Wahrnehmungen zu befragen sein. Mit Blick auf die leugnende Verantwortung des Angeklagten bedarf es einer sorgfältigen Sachverhaltsklärung im Hauptverfahren.
Bei gebotener sachgerechter Einzellfallbeurteilung und unter Bedachtnahme auf den erwähnten weiten Anwendungsspielraum hält das Beschwerdegericht beim Angeklagten die Beigebung eines Verfahrenhilfeverteidigers im Interesse der Rechtspflege, vor allem mit Blick auf die schwierige Sachlage und einer damit in Zusammenhang stehenden zweckentsprechenden Verteidigung, für erforderlich.