13Ra12/24y – OLG Innsbruck Entscheidung
Kopf
Beschluss
Das Oberlandesgericht Innsbruck hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Oberlandesgerichts Dr. Kohlegger als Vorsitzenden und die Richterin des Oberlandesgerichts Dr. Pirchmoser sowie den Richter des Oberlandesgerichts MMag. Dr. Dobler und die fachkundigen Laienrichter:innen AD in RR in Irene Rapp (aus dem Kreis der Arbeitgeber:innen) und AD RR Jürgen Fiedler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer:innen) als weitere Mitglieder des Senats in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei A* , geb am **, Reinigungskraft in **, **straße **, vertreten durch Mag. a B*, Mitarbeiterin der C*, D* E*, ** E*, **straße **, gegen die beklagte Partei DI F* , geb am **, Unternehmer in **, **, (im Berufungsverfahren) vertreten durch Mag. Daniel Vonbank, Rechtsanwalt in 6900 Bregenz, wegen EUR 4.348,25 s.Ng., über die Berufung der beklagten Partei (ON 30; Berufungsinteresse EUR 1.637,65 s.Ng.) gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom 7.9.2023, 62 Cga 4/23t 27, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen:
Spruch
Der Berufung wird F o l g e gegeben.
Die bekämpfte Entscheidung wird im Umfang der Feststellung der Klagsforderung mit EUR 1.637,65 netto, des Ausspruchs des Nichtbestands der Gegenforderung im Umfang von EUR 161,14 netto sowie des Zuspruchs von EUR 1.637,65 netto s.Ng. und der Kostenentscheidung aufgehoben und die Arbeitsrechtssache in diesem Rahmen an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung z u r ü c k v e r w i e s e n .
Die Kosten des Berufungsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten erster Instanz.
Text
Begründung:
Die Klägerin war vom 6.5.2019 bis 31.7.2022 beim Beklagten beschäftigt und zur Sozialversicherung angemeldet. Zwischen den Parteien dieses Arbeitsverhältnisses war ein Entgelt von EUR 81,-- netto für eine Tätigkeit der Klägerin von rund zwei Stunden pro Woche verabredet. Auf das Arbeitsverhältnis war keine kollektivvertragliche Regelung anwendbar. Die Klägerin hat jedenfalls Reinigungsarbeiten verrichtet. Es entzieht sich aber gerichtlicher Feststellung, in welchem Ausmaß die Klägerin zwischen 6.5.2019 und 31.7.2022 gearbeitet hat. Während der Dauer des Arbeitsverhältnisses konsumierte die Klägerin keinen Urlaub.
Der Beklagte vermietete an die Klägerin eine Betriebswohnung zu einem monatlichen Mietzins von EUR 1.150,-- zuzüglich monatlichen Betriebskosten von EUR 250,--. Dieser undatierte Mietvertrag lautet auszugsweise:
„I. Verfügungsberechtigung
Gemäß Kaufvertrag ist der Vermieter Eigentümer des Wohngebäudes in …, Betriebsgebäude mit Wohnung im OG laut Besichtigung. Der Mieter erhält die Betriebswohnung als geringfügig Beschäftigter des Vermieters und wird beauftragte Ordnungstätigkeiten ausführen.
II. Mietgegenstand
… Der Balkon und Stiegenhaus ist wöchentlich zu pflegen.
IX. Instandhaltung
… Wöchentlich ist einmal die Stiege mit Podesten im gemeinsamen Zugangsbereich feucht zu reinigen.
XV. Verbindlichkeit der Hausordnung
… Die allg. Flächen wie Stiegenhaus usw mind. einmal/Woche zu reinigen. Es darf nichts auf dem Gelände oder außerhalb der Wohnung gelagert werden.“
In der Betriebskostenabrechnung 2022 scheint unter dem Punkt „Verwaltung“ ein von der Klägerin zu zahlender Betrag von EUR 567,-- entsprechend 7 x EUR 81,-- für die Reinigung des Stiegenhauses auf.
Ausgehend von der Vereinbarung beläuft sich der Entgeltanspruch der Klägerin:
2020 EUR 891,-- netto
2021 EUR 972,-- netto
2022 EUR 576,-- netto
Die Urlaubsersatzleistung für die Klägerin berechnet sich ausgehend von der getroffenen Vereinbarung für 15 Wochen mit EUR 280,60.
Von diesem Sachverhalt muss das Berufungsgericht – als von der Berufung nicht tangiert – gemäß den §§ 2 Abs 1 ASGG, 498 Abs 1 ZPO ausgehen.
Mit der am 2.2.2023 beim Erstgericht eingelangten Mahnklage begehrte die Klägerin ihre – mittlerweile mit dem unangefochten in Teilrechtskraft erwachsenen Urteil erledigten – Ansprüche auf Lohn von 2020 bis 2023 (netto EUR 1.637,65) und Urlaubsersatzleistung (EUR 280,60 netto). Zusätzlich verlangt die Klägerin Schadenersatz von EUR 1.637,65 s.Ng. (die sich daraus ergebende rechnerische Differenz von EUR 9,-- [zwischen dem Zuspruchsbetrag von EUR 4.348,25 und dem Gesamtbegehren von EUR 4.357,25] wurde weder von den Parteien im Rechtsmittelverfahren noch in der bekämpften Entscheidung thematisiert und schied deshalb aus dem Verfahren aus: RIS Justiz RS0039435; RS0041490: ua Gegenforderung; 10 ObS 135/09i: ua Eventualbegehren). In der folgenden Darstellung wird nur mehr der im Rechtsmittelverfahren verfangene Schadenersatzanspruch der Klägerin von EUR 1.637,65 s.Ng. dargestellt.
Zum Schadenersatz von EUR 1.637,65 bringt die Klägerin zusammengefasst vor, sie habe während ihrer Beschäftigung beim Beklagten um Sozialhilfe bei der BH G* angesucht. Aufgrund der Tatsache, dass sie von ihrem Arbeitgeber keine Lohnzettel erhalten habe, welche sie bei der BH G* vorlegen hätte können, sei ihr die Sozialhilfe für Dezember 2021 versagt geblieben. Sie habe dadurch einen vom Beklagten verursachten Schaden von EUR 1.637,65 für Dezember 2021 erlitten, der klageweise als Schadenersatz vom Beklagten verlangt werde (ON 1 S 3). Die Klägerin bzw ihr geschiedener Ehegatte hätten nicht regelmäßig die Lohnzettel übermittelt erhalten, wodurch einmal der Schaden des Nichterhalts der Sozialhilfe entstanden sei (ON 18 S 2).
Der Beklagte bestreitet, beantragt auch in diesem Umfang kostenpflichtige Klagsabweisung und wendet zusammengefasst ein: Die Lohnzettel seien jederzeit abholbereit im Büro aufgelegen. Eine Abholung sei jederzeit möglich gewesen. Auf Wunsch hätten diese Lohnzettel auch digital zugesendet werden können. Die Lohnzettel für November und Dezember 2021 seien am 6.1.2022 nachweislich auf Wunsch übermittelt worden. Eine Verantwortung für nicht bezahlte Sozialleistungen bestünde nicht, weil die zuständige Bezirkshauptmannschaft selbst überprüfen hätte müssen, „welchen Anspruch die Kläger haben“ (ON 20 S 1 f). Es werde eine Gegenforderung von insgesamt EUR 2.871,74 eingewendet.
Mit dem bekämpften Urteil stellte das Erstgericht die Klagsforderung auch mit dem im Berufungsverfahren umstrittenen Teilbetrag von EUR 1.637,65 netto als zu Recht bestehend fest (Abs 1 des Spruchs) und verpflichtete den Beklagten daher zur Leistung auch dieses Teilbetrags von EUR 1.637,65 s.Ng. (Abs 3 des Spruchs). Die übrigen Teile des dreiteiligen Spruchs – Feststellung der Klagsforderung mit weiteren EUR 2.710,60 netto, Ausspruch einer im Rechtsmittelverfahren nicht mehr relevanten Gegenforderung (im Umfang von restlich EUR 161,14 netto) als nicht zu Recht bestehend und Zuspruch von EUR 2.710,60 netto s.Ng. – werden von der Berufung nicht bekämpft.
Zum Schadenersatzbegehren traf das Erstgericht folgende im Berufungsverfahren umkämpfte Feststellung:
„Die Bezirkshauptmannschaft G* hat der Klägerin für Dezember 2021 die Sozialhilfe von EUR 1.637,65 nicht ausbezahlt (Beilage ./D). Grund dafür war, dass die Klägerin die Lohnzettel nicht rechtzeitig vorlegen konnte.“ (ON 27 S 4 sechster Absatz).
In rechtlicher Beurteilung vertrat das Erstgericht die Auffassung, dass der Klägerin durch die verspätete Übermittlung von Lohnbestätigungen durch den Beklagten ein Schaden, nämlich die Nichtauszahlung der Sozialhilfe für Dezember 2021 entstanden sei, für den der Beklagte einzustehen habe.
Gegen den Ausspruch über das Zurechtbestehen der Klagsforderung von EUR 1.637,65 netto und den Zuspruch von diesem Betrag s.Ng. wendet sich nunmehr die (rechtzeitige) Berufung des Beklagten aus den Rechtsmittelgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung sowie der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die bekämpfte Entscheidung dahin abzuändern, dass die Klagsforderung lediglich mit (richtig ausgehend vom zugesprochenen Gesamtbetrag) EUR 2.710,60 netto als zu Recht bestehend erkannt und auch nur dieser Teilbetrag s.Ng. kostenpflichtig zugesprochen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt (ON 30 S 7).
In ihrer (fristgerechten) Berufungsbeantwortung beantragt die Klägerin , dem gegnerischen Rechtsmittel den Erfolg zu versagen (ON 32 S 3).
Nach Art und Inhalt der geltend gemachten Anfechtungsgründe war die Anberaumung einer öffentlichen, mündlichen Berufungsverhandlung entbehrlich. Über die Berufung war daher in nichtöffentlicher Sitzung zu befinden (§§ 2 Abs 1 ASGG, 480 Abs 1 ZPO). Dabei erwies sie sich aus nachstehenden Erwägungen im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsbegehrens als begründet :
Rechtliche Beurteilung
1.: Aufgrund der gesetzgemäß ausgeführten Rechtsrüge der Berufung (ON 30 S 6) ist zunächst amtswegig aufzugreifen, dass das Erstgericht zu den vom Vorbringen der Klägerin umfassten Tatsachen, wonach ihr durch ein kausales Fehlverhalten des Beklagten, nämlich die wiederholt verspätete Vorlage von Lohnabrechnungen während des Arbeitsverhältnisses vom 6.5.2019 bis 31.7.2022 die (Vorarlberger) Sozialhilfe in einem Monat, nämlich im Dezember 2021, entgangen sei, für die rechtliche Beurteilung, insbesondere die vom Erstgericht intendierte Klagsstattgebung unzureichende Tatsachenfeststellungen getroffen hat:
1.1.: Bei der mit dem Arbeitsrechts-Änderungsgesetz 2015, BGBl I 152/2015, eingeführten Bestimmung des § 2f Abs 1 AVRAG betreffend die Übermittlung der Lohnabrechnung handelt es sich um eine gesetzlich festgelegte – weil sie nicht im Austauschverhältnis steht und ihr kein Teil der Arbeitsleistung zugewiesen werden kann, sondern im Grund der Vertragserfüllung dient (allgemein zB Rummel in Rummel/Lukas ABGB 4 [2014] § 859 Rz 11 f; Wiebe in Kletečka/Schauer ABGB-ON 1.04 [Stand 2.1.2022, rdb.at] § 859 Rz 10, 12) – Nebenpflicht des Arbeitgebers aus dem Arbeitsvertrag. Sie stellt überdies eine gesetzlich gesondert geregelte Fürsorgepflicht – mit dem moderneren Ausdruck Fremdinteressenwahrungspflicht – des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer dar (zu alledem Schrank , Neue Grundgehaltsangabe und All-in-Klauseln – nur bessere Transparenz? RdW 2016/29, 32 [38]).
1.2.: Zwar enthält § 2f Abs 1 AVRAG keine – weder verwaltungsrechtliche noch privatrechtliche – spezielle Sanktion für den Fall, dass der Arbeitgeber pflichtwidrig die Lohnabrechnung nicht in der dort vorgeschriebenen formell vollständigen Form übermittelt (zB OLG Graz 26.9.2018, 7 Ra 27/18x; Bremm/Kiesl Das Diskriminierungspotenzial von All-in-Klauseln gegenüber Teilzeitbeschäftigten, ÖZPR 2022/95, 164 [nach FN 13]; Mair in Binder/Burger/Mair , AVRAG³ [2018] § 2f Rz 6; Reissner in Neumayr/Reissner ZellKomm³ I [2018] § 2f AVRAG Rz 9). Allerdings hat die herrschende Ansicht – im Kern wohl ausgehend von den allgemeinen Folgen der Verletzung unselbstständiger Nebenpflichten und von Fürsorgepflichten des Arbeitgebers – eine doch schon recht breite Palette von Möglichkeiten entwickelt, um den zivilrechtlichen Anspruch des Arbeitnehmers auf Übermittlung einer formell vollständigen Lohnabrechnung nicht leerlaufen zu lassen, sondern auch in Fällen, in denen dem Arbeitnehmer mit der – hier mittlerweile im Prozess nachgeholten – Vorlage der Lohnabrechnung allein nicht (mehr) gedient ist:
1.3.: Ausgehend von den Gesetzesmaterialien (ErlRV 903 BlgNR 25. GP 3 f) nimmt die herrschende Ansicht an, dass es sich auch bei § 2f Abs 1 AVRAG um einen „zivilrechtlichen Anspruch auf Lohnabrechnung“ handelt (ein solcher individualrechtlicher, oft auch in einer Betriebsvereinbarung [§ 97 Abs 1 Z 3 ArbVG] oder einem Kollektivvertrag verankerter Anspruch auf Ausfolgung einer Lohnabrechnung wurde schon seit jeher anerkannt [8 ObA 41/18i ErwGr 1. mzwH; 9 ObA 225/92; RIS Justiz RS0064548; RS0035031] und von der sich aus den Sozialversicherungs- und Steuernormen ergebenden Transparenzpflicht abgegrenzt [8 ObA 110/04s; Schrank 38]). Aus den Formulierungen „übermitteln“ sowie „zur Verfügung gestellt“ in § 2f Abs 1 AVRAG ( letztere Formulierung bezieht sich auf die elektronische Übermittlung, die meistens in der Zustellung einer zB PDF-Datei an die dienstliche oder private Adresse des Arbeitnehmers besteht) und die Verknüpfung des Anspruchs auf die Lohnabrechnung mit der Fälligkeit des Entgelts, welch letztere eine Bringschuld im Sinn des § 907a ABGB darstellt, sodass eine untrennbare Verbindung des Anspruchs auf Entgelt und auf Lohnabrechnung besteht, weil ohne Geldanspruch auch kein Anspruch auf die dazugehörige Lohnabrechnung bestehen sollte und der Gesetzgeber offenkundig keine unterschiedlichen Fälligkeiten einführen wollte, was aber zuträfe, würde man die gesetzliche Anordnung als Schickschuld betrachten, in welchem Fall das Absenden der Lohnabrechnung am Fälligkeitstag ausreichen würde, liegt nach Auffassung des Berufungsgerichts eine Bringschuld des Arbeitgebers vor (ebenso zB Radlingmayr DRdA-Infas 2020/6, 452 [453 f]). Damit hat der Beklagte, wie das Erstgericht richtig erkannte, den zivilgerichtlichen Anspruch der Klägerin auf Lohnabrechnung durch die von ihm behauptete Bereithaltung in seinem Büro nicht erfüllt.
1.4.: Da der Arbeitgeber nach dem Gesetzeswortlaut die Abrechnung „zu übermitteln“ (§ 2 f Abs 1 Satz 1 AVRAG) bzw (elektronisch) „zur Verfügung zu stellen“ (Abs 1 Satz 2) hat, ist der Arbeitnehmerin eine klageweise Durchsetzung des Anspruchs auf Übermittlung möglich (8 ObA 41/18i ErwGr 2.3.; 9 ObA 225/92; siehe die in 9 ObA 142/07h zitierte Klage vom 13.7.2006 auf Ausfolgung einer ordnungsgemäßen Lohnabrechnung, der rechtskräftig stattgegeben wurde; OLG Graz 26.9.2018, 7 Ra 27/18x; OLG Innsbruck 28.11.2017, 13 Ra 28/17s, 29/17p ErwGr B. 2.; 30.8.2017, 13 Ra 15/17d ErwGr 2.3.; Mair § 2f Rz 6; Mrvošević , Die wichtigsten Neuerungen im Arbeitsrecht ab 1.1.2016, ecolex 2016, 195 [196]; Reissner § 2f AVRAG Rz 9). Es handelt sich dabei um eine Leistungsklage (OLG Innsbruck 28.11.2017, 13 Ra 28/17s, 29/17p ErwGr B. 2.; 30.8.2017, 13 Ra 15/17d ErwGr 2.3.; Pirker Die Herausgabe von Arbeitspapieren RZ 1990, 106 [112L]). Das darüber ergehende klagsstattgebende erste Urteil eines Erstgerichts ( Neumayr in ZellKomm³ [2018] § 61 ASGG Rz 4) ist im Sinn des § 61 Abs 1 Z 3 ASGG sofort vollstreckbar (OLG Innsbruck wie vor; Pirker 112R) und nach § 354 EO exekutiv durchsetzbar (OLG Innsbruck wie vor; Pirker wie vor).
1.5.: Bleibt der Arbeitgeber – wie hier der Beklagte – mit der Erstellung einer gesetzlich oder kollektivvertraglich geschuldeten Lohnabrechnung trotz Aufforderung säumig , kann der Arbeitnehmer die Abrechnung durch einen Steuerberater selbst durchführen lassen und die Kosten nach schadenersatzrechtlichen Grundsätzen vom Arbeitgeber verlangen, was insbesondere in den Insolvenzfällen des Arbeitgebers Bedeutung erlangen kann (9 ObS 19/91; RIS Justiz RS0064428; OLG Innsbruck 28.11.2017, 13 Ra 28/17s, 29/17p ErwGr B. 2.; 30.8.2017, 13 Ra 15/17d ErwGr 2.3.).
1.6.: Überdies wird aus der Zuordnung zur Fürsorgepflicht des Arbeitgebers , die sich auch auf die vermögensrechtlichen Interessen des Arbeitnehmers erstreckt (9 ObA 114/20k Rz 15; 9 ObA 118/03y; RIS Justiz RS0021267 [T1, T2]), die Möglichkeit der Arbeitnehmerin abgeleitet, Ansprüche auf Schadenersatz bei Verletzung der besonderen gesetzlichen Verpflichtung zur Übermittlung der Lohnabrechnung zu stellen ( Mair § 2f Rz 6; Schrank 38). Die Verletzung der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers nach § 1157 ABGB muss zwar grundsätzlich die klagende Arbeitnehmerin beweisen (9 ObA 64/16a; RIS Justiz RS0019718). Zumindest während des aufrechten Arbeitsverhältnisses trifft jedoch zufolge § 1298 ABGB nicht die geschädigte Arbeitnehmerin die Pflicht, das Verschulden der Arbeitgeberin an der Fürsorgepflichtverletzung zu behaupten und zu beweisen. Es ist vielmehr Sache der Schädigerin, ihr mangelndes Verschulden an der Verletzung der ausdrücklichen arbeitsvertraglichen Fürsorgepflicht darzutun (9 ObA 70/11a; 9 ObA 118/03y; RIS Justiz RS0021267 [T7]; 9 ObS 19/91 für kollektivvertraglich angeordnete Übermittlung der Lohnabrechnung). Verletzt der Arbeitgeber schuldhaft seine Fürsorgepflicht und entsteht dem Arbeitnehmer dadurch ein Schaden , so kann der Arbeitnehmer Schadenersatzansprüche gegen die Arbeitgeberin geltend machen (9 ObA 64/16a; 9 ObA 16/13p). In der Literatur zu § 2f Abs 1 AVRAG wird dazu zB vertreten, dass die Arbeitnehmerin etwa Verjährungsschäden gegen die Arbeitgeberin erheben kann, wenn deren Fehlverhalten zB bei der Nichtübermittlung der Lohnabrechnung, kausal für den Schaden der Arbeitnehmerin durch Eintritt der Verjährung ist ( Mair § 2f Rz 6; Schrank 38). Im – allgemein die Fürsorge- (Fremdinteressenwahrungs-)pflicht betreffenden – Verfahren 9 ObA 70/11a hatte die dort klagende Arbeitnehmerin den Schaden geltend gemacht, der ihr aus jenen Entgeltdifferenzen entstand, die sie zufolge verspäteter Optierung in den gesatzten BAGS-KV verabsäumte und einen Verstoß der Arbeitgeberin gegen § 41 des gesatzten BAGS-KV über die Information zur 6 Monate befristeten Optierungsmöglichkeit (in die Entgeltbestimmungen des BAGS-KV oder die Entscheidung zum Verbleib in den bisherigen Entgeltbestimmungen) behauptet; der Oberste Gerichtshof hielt diesen Schaden grundsätzlich für ersatzfähig, weil die Arbeitnehmerin die Informationspflicht aus § 41 des gesatzten BAGS-KV verletzt hatte, erachtete aber noch weitere Erörterungen mit den Parteien durch das eingangsinstanzliche Gericht für erforderlich.
1.7.: Daraus resultiert nun, dass die Klägerin unter den oben zu ErwGr 1.6. referierten Voraussetzungen Anspruch auf Ersatz der noch berufungsgegenständlichen EUR 1.637,65 s.Ng. für die infolge verspäteter Übermittlung der Lohnabrechnung (November und Dezember 2021 erst am 6.1.2022, also lange nach Eintritt der Fälligkeit des Arbeitsentgelts für Dezember 2021, das nach den Angaben des Beklagten als Partei zur Monatsmitte eintrat) unter insbesondere folgenden Voraussetzungen hatte: Der nicht ausbezahlte Betrag an Sozialhilfe muss der restlichen Klagsforderung entsprechen (Schaden). Die Sozialhilfe muss aufgrund der verspäteten Lohnabrechnung verwehrt worden sein (Kausalität). Das Verschulden des Beklagten wird hingegen vermutet (§ 1298 ABGB).
1.8.: Das Erstgericht wird daher – ausgehend von der von der Klägerin vorgelegten Bestätigung der BH G* vom 16.1.2022, Beilage 4, wonach sie für November 2021 insgesamt EUR 1.637,65 an Sozialhilfe erhalten hat, für Dezember 2021 jedoch keine Sozialhilfe – mindestens zu folgenden Aspekten ergänzende Tatsachenfeststellungen treffen müssen:
Aufgrund welcher Anträge (§ 17 Abs 1 hier wie im Folgenden Vbg Sozialleistungsgesetz – SLG, Vbg LGBl 81/2020 idF 43/2021, 1 und 63/2023), für welche Anspruchsberechtigten (§ 17 Abs 3 und Abs 4), mit welchen Bescheiden (§§ 18 Abs 2, 20 Abs 1 bis 3 und Abs 6), aufgrund welchen Rechtsgrunds (§ 10), mit welcher Laufzeit/Befristung (§§ 18 Abs 3, 19 Abs 6) erhielt die Klägerin während des Beschäftigungsverhältnisses – die Klägerin behauptet dieses selbst in ON 1 S 3 und ON 18 S 2 – von der BH G* Sozialhilfe gewährt und auch ausbezahlt. Es ist nachvollziehbar aufzuschlüsseln, welche monatlichen und welche Gesamtbezüge von der Klägerin für wen vereinnahmt wurden und aus welchem Grund die Sozialhilfe für Dezember 2021 nicht gewährt oder eingestellt (§§ 19 Abs 3 und Abs 4, 20 Abs 3) wurde. Nur nach Verbreiterung der Sachverhaltsfeststellungen in diese Richtungen kann rechtlich abgeleitet werden, ob der Klägerin durch die – nach den eigenen Behauptungen des Beklagten in erster Instanz (ON 20) – erst am 6.1.2022 übermittelten Lohnabrechnungen für November 2021 und Dezember 2021 ein Schaden an Sozialleistungen in der von der Klägerin behaupteten Höhe von EUR 1.637,65 für Dezember 2021 entstanden ist (ON 1 S 3). Die vom Erstgericht – in der Beweisrüge der Berufung bekämpfte – bisher dazu getroffene Sachverhaltsgrundlage in ON 27 S 4 Abs 6 genügt zur rechtlichen Beurteilung noch nicht. Allfälliges ergänzendes Vorbringen der Klägerin nach der notwendigen Erörterung mit dem Beklagten (unten 2.) zu diesem Themenkreis ist bei der Schaffung der ergänzenden Sachverhaltsgrundlage ebenfalls noch zu berücksichtigen (§ 496 Abs 2 ZPO e silentio; Kodek in Kodek/Oberhammer ZPO ON [2023] § 496 Rz 48 mzwH).
1.9.: Die bekämpfte Entscheidung war daher bereits aus diesem Grund – der für die umfassende rechtliche Beurteilung fehlenden Sachverhaltsgrundlage – aufzuheben und die Rechtssache insoweit (§§ 2 Abs 1 ASGG, 496 Abs 3 ZPO) an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückzuverweisen. Die Verfahrensergänzung war nicht vor dem Berufungsgericht durchzuführen, weil – wie insoweit auch in der Mängelrüge der Berufung zu Recht kritisiert – das Erstgericht seine besonderen Erörterungs- und Anleitungspflichten gegenüber einer nicht qualifiziert vertretenen Partei, nämlich dem Beklagten, verletzt hat. Einer Ergänzung des Verfahrens durch das Berufungsgericht steht der Umstand entgegen, dass Erörterungen zur Vermeidung von Überraschungsentscheidungen sinnvollerweise durch das Erstgericht wahrzunehmen sind (4 Ob 60/19f ErwGr 3. bis 3.2.), weil dadurch – je nach Ergebnis der Erörterungen – zum Zeitpunkt der Berufungsentscheidung nicht absehbare Weiterungen im Umfang des weiteren Prozessstoffs entstehen können (3 Ob 157/01m), und ein Großteil des erstinstanzlichen Erkenntnisverfahrens unter Ausschluss der Parteien von einer weiteren Tatsacheninstanz in die zweite Instanz verlagert werden würde, was von den §§ 2 Abs 1 ASGG; 496 Abs 3 ZPO – und selbst nach der für das sozialgerichtliche Verfahren geltenden Norm des § 90 Abs 2 ASGG – nicht gedeckt wäre (1 Ob 169/97b; Lovrek in Fasching/Konecny ZPO³ IV/1 [2019] § 503 Rz 42 f).
2.: Wie bereits oben zu ErwGr 1.9. erwähnt hat das Erstgericht seine Verpflichtungen gegenüber dem Beklagten als in erster Instanz unvertretene Partei nicht in ausreichendem Umfang wahrgenommen, wie im Kern zutreffend in der insbesondere zur abstrakten Erheblichkeit des Verfahrensmangels erster Instanz rechtsprechungskonform ausgeführten Mängelrüge aufgezeigt wird (ON 30 S 2 f):
2.1.: Gemäß § 39 Abs 2 Z 1 ASGG sind nicht durch eine qualifizierte Person (§ 40 Abs 1 ASGG) vertretene Parteien wie hier in erster Instanz der Beklagte auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren über sämtliche in ihrer verfahrensrechtlichen Position in Betracht kommenden rechtsbegründenden und anspruchsvernichtenden Tatsachen zu unterrichten und gegebenenfalls nach informativer Befragung dazu anzuleiten , derartige Umstände vorzubringen bzw diejenigen Prozesshandlungen vorzunehmen, die sich für ihre Position als die günstigsten anbieten (OLG Innsbruck 25 Rs 54/10, SVSlg 59.538; 23 Rs 62/19t ErwGr 2. in 46 Cgs 12/19i LG Innsbruck). Dabei hat der Vorsitzende die Parteien auch materiell zu belehren und sie auf alle nach dem erstatteten Vorbringen in abstracto in Betracht kommenden Anspruchsgründe und die nach dem normalen Geschehensablauf typischen rechtsbegründenden und rechtsaufhebenden Tatsachen hinzuweisen sowie über die Möglichkeit ihres Vorbringens und der damit verbundenen Prozesshandlungen einschließlich der erforderlichen Beweisanträge zu belehren (RIS Justiz RS0108820; OLG Wien 9 Rs 88/12w, SVSlg 62.321; 8 Rs 38/10, SVSlg 59.541; 8 Rs 106/09, SVSlg 59.522; OLG Innsbruck wie vor und 17.12.2020, 23 Rs 34/20a ErwGr 5.1.; Hargassner , Arbeitsgerichtliches Verfahren – ASGG [2019] Rz 331). Diese umfassende Anleitungs- und Belehrungspflicht darf der Partei allerdings die Entscheidung, ob sie bestimmte Prozesshandlungen vorbringt, zB Vorbringen erstattet oder Beweise anbietet, nicht abnehmen. Denn diese Grenze zur Parteilichkeit ist im Sinn der gebotenen strikten Unparteilichkeit und Distanz zu beiden Seiten genauestens zu wahren (OLG Innsbruck wie vor).
2.2.: Selbst unter strikter Wahrung der Unparteilichkeit hätte das Erstgericht den Beklagten jedoch zunächst über die abstrakte Rechtsgrundlage des – im Berufungsverfahren noch relevanten – Schadenersatzanspruchs (oben ErwGr 1.6.) unterrichten (aufklären) und gegebenenfalls nach informativer Befragung zum Vortrag der dem Beklagten dazu wichtigen Umstände auffordern müssen. Aufgrund seines noch unzureichenden Vorbringens zu ON 20 hätte das Erstgericht mit dem Beklagten auch noch abstrakt erörtern müssen, dass es eines substanziierten Parteivorbringens dahin bedarf, aufgrund welchen konkreten Fehlverhaltens welcher handelnden Personen die Klägerin ihre Mitwirkungspflicht angeblich verletzt hat (§ 1304 ABGB). Der zur Dartuung der rechtlichen Erheblichkeit der Mängelrüge zulässigerweise ohne Verstoß gegen das Neuerungsverbot vorgebrachte Einwand, die Klägerin hätte durch rückwirkenden Antrag nach Einlangen der Lohnabrechnung am 6.1.2022 den Schadensbetrag ebenfalls minimieren können (§ 1304 ABGB), ist derzeit aufgrund des ausschließlich vom Antragsprinzip geprägten Verfahrens nach dem Vbg SLG 2020 jedoch nicht gedeckt (vgl § 19 Abs 4 Satz 1 Halbsatz 1 Vbg SLG 2020) und bedurfte keiner weiteren Erörterung durch das Erstgericht.
3.: Da somit nicht absehbar ist, welche Verfahrensergebnisse das erneuerte Verfahren erster Instanz erbringen, wie das Erstgericht diese würdigen und in welche ergänzenden Tatsachenfeststellungen es diese überführen wird, ist von der Erledigung der Beweisrüge , die sich auf die aktuelle eingeschränktere Sachverhaltsgrundlage bezieht, mangels Relevanz für den zweiten Rechtsgang abzusehen.
4.: Zum Umfang des erneuerten Verfahrens sei hervorgehoben:
Die Entscheidung über die Gegenforderung – auch die Verneinung ihres Rechtsbestands – wird bei Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung nur bis zur Höhe der Klagsforderung – und nicht darüber hinaus – der Rechtskraft teilhaftig (4 Ob 87/07h ErwGr 5.; 7 Ob 304/04p). Der unangefochtene – allein der Rechtskraft fähige (RIS Justiz RS0040742 [T5, T6]; RS0041026; RS0041347 [T2]) aus den Aussprüchen über den Rechtsbestand der Klags- und der Gegenforderung folgende – Zuspruch von EUR 2.710,60 erledigt daher die erhobene Gegenforderung (insgesamt EUR 2.871,74) nur in diesem Umfang und nicht auch darüber hinaus, also wegen des tatsächlichen und rechtlichen Zusammenhangs nicht im Umfang des angefochtenen Zuspruchs von EUR 1.637,65 und der restlichen Gegenforderung von EUR 161,14 netto. Der Rechtskraft fähig ist nur der angefochtene Zuspruch der Differenz zwischen festgestellter Klagsforderung und Gegenforderung (RIS Justiz RS0041026) und nicht die Entscheidung über das Zurechtbestehen der Klagsforderung (RIS Justiz RS0040742) und der Gegenforderung (7 Ob 91/13b ErwGr I.; RIS Justiz RS0041026). Dies ändert nichts daran, dass mangels konkreter Ausführungen zur Gegenforderung in der Berufung auf diese nicht mehr weiter einzugehen ist (10 Ob 25/22g Rz 28). Der somit von der Aufhebung mitbetroffene Ausspruch über den Sachantrag der Gegenforderung (Nichtbestand im Umfang der restlichen Klagsforderung von EUR 161,14) ist daher im zweiten Rechtsgang als abschließend erledigter Streitpunkt anzusehen (6 Ob 14/23m Rz 32; 10 Ob 25/22g Rz 28 mHa 1 Ob 108/97g), der folglich im fortgesetzten Verfahren auch kein neues Prozessvorbringen mehr erlaubt (1 Ob 108/97g aE).
5.: Der Kostenvorbehalt liegt in den §§ 2 Abs 1 ASGG, 52 ZPO begründet. Angemerkt sei, dass nur der Beklagte, nicht aber die Klägerin im Rechtsmittelverfahren Kosten verzeichnet haben (zur AufwandersatzVO: OLG Innsbruck 11.9.2019, 13 Ra 24/19f ErwGr D. 1.).