23Rs25/23g – OLG Innsbruck Entscheidung
Kopf
Im Namen der Republik
Das Oberlandesgericht Innsbruck hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Oberlandesgerichts Dr. Kohlegger als Vorsitzenden sowie die Richterin des Oberlandesgerichts Dr. Pirchmoser und den Richter des Oberlandesgerichts MMag. Dr. Dobler sowie die fachkundigen Laienrichter:innen Mag. a Sarah Haider (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und AD RR Jürgen Fiedler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Mitglieder des Senats in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geb B*, derzeit ohne Beschäftigung, **-Straße **, **, vertreten durch die C* D*, wider die beklagte Partei E* , F* D*, **gasse **, **, vertreten durch ****, wegen Zuerkennung einer Invaliditätspension in eventu von Rehabilitationsgeld, über die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom 21.3.2023, 36 Cgs 120/22d-37, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird keine Folge gegeben.
Die (ordentliche) Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Der am B* geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag 1.1.2022 arbeitete er als Produktionsmitarbeiter. Ihm kommt kein Berufsschutz zu.
Seit dem Stichtag kann der Kläger unter den üblichen Bedingungen eines Arbeitsverhältnisses – mit in der angefochtenen Entscheidung näher dargestellten Einschränkungen – leichte Arbeiten unter maximal durchschnittlichem Zeitdruck im Gehen, Stehen und Sitzen unter Einhaltung eines stündlichen Wechsels der Arbeitshaltung verrichten. Die tägliche Arbeitszeit kann vier Stunden betragen; für vier Wochen im Jahr kann er bis zu sechs Stunden täglich arbeiten.
Da er eine hochgradig kleinkapazitäre Blase mit ausgeprägter Urge-Symptomatik ohne Inkontinenz hat, ist die Miktionsfrequenz des Klägers erhöht. Bei normaler Trinkmenge tritt zwingend jede halbe Stunde ein plötzlicher und imperativer Harndrang auf. Der Kläger muss dann sofort eine Toilette aufsuchen können. Diese Intervalle für die Toilettengänge sind medizinisch zwingend notwendig und können vom Kläger nicht hinausgezögert, verlängert oder verschoben werden. Hat er nicht die Möglichkeit, jede halbe Stunde eine Toilette zu benutzen, würde er einnässen. Beim Toilettengang muss der Kläger Harn lassen. Es handelt sich dabei um einen normalen Toilettengang, der exklusive Wegzeit ca 1 Minute in Anspruch nimmt. Weitere zusätzliche Pausen benötigt der Kläger nicht.
Aus urologischer Sicht ist eine Besserung des Gesundheitszustands durch eine medikamentöse Behandlung möglich (Verabreichung einer Botoxspritze zur Lähmung der Blase in einem Intervall von sechs bis acht Monaten). Dadurch können sich in zwei bis drei Monaten nach Gabe der Spritze die Miktionsintervalle verlängern. Sofern dieses Medikament nicht anschlägt, könnte auch ein operativer (Routine)Eingriff zur Vergrößerung der Blasenkapazität zu einer Verbesserung des Gesundheitszustandes führen. Im Übrigen ist eine Besserung des Gesundheitszustands nicht möglich.
Dieser gekürzt referierte Sachverhalt steht im Berufungsverfahren unbekämpft und damit für das Berufungsgericht bindend fest (§§ 2 Abs 1 ASGG, 498 Abs 1 ZPO).
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 11.4.2022 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 22.12.2021 auf Gewährung einer Invaliditätspension mit der Begründung ab, dauerhafte Invalidität liege nicht vor. Vorübergehende Invalidität im Ausmaß von mindestens sechs Monaten liege ebenfalls nicht vor, weshalb auch kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung bestehe. Auch ein Anspruch auf medizinische oder berufliche Rehabilitationsmaßnahmen bestehe nicht.
Mit (rechtzeitiger) Bescheidklage vom 9.6.2022 begehrt der Kläger die Zuerkennung einer Invaliditätspension, in eventu von Rehabilitationsgeld. Aufgrund seines Gesundheitszustands sei er nicht mehr in der Lage, eine berufliche Tätigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben.
Die Beklagte bestreitet und beantragt unter Aufrechterhaltung ihres im Anstaltsverfahren eingenommenen Standpunkts Klagsabweisung. Der Kläger sei nicht invalide iSd Gesetzes. Jedenfalls sei sein Gesundheitszustand durch eine medikamentöse Behandlung oder einen kleinen operativen Eingriff binnen einiger Monate besserbar.
Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht das auf Zuerkennung der Invaliditätspension gerichtete Hauptbegehren ab, gab hingegen dem auf Gewährung von Rehabilitationsgeld gerichteten Eventualbegehren statt und sprach aus, die Beklagte sei dem Grunde nach schuldig, dieses dem Kläger ab 1.2.2022 für die Dauer der vorübergehenden Invalidität zu gewähren. Dieser Entscheidung legte es den eingangs zusammengefasst referierten Sachverhalt zu Grunde und traf darüber hinaus nachstehende, im Rechtsmittelverfahren umkämpfte Feststellungen:
Der Kläger ist unter Berücksichtigung dieser dargestellten Einschränkungen, infolge der Miktionsfrequenz, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr in der Lage als Reinigungskraft in Ordinationen und Büros, Portier, Eintrittskassier, oder Museumsaufseher (in Tätigkeiten mit regelmäßigem Publikums- bzw. Kundenkontakt) als Sortierer, Verpackungsarbeiter kleiner Werkstücke, Webgut-Controller, Tischarbeiter in der Werbemittelbranche oder als einfache Bürohilfskraft zu arbeiten. Die festgestellten Miktionsintervalle führen bei einer 4 stündigen Tätigkeit im Halbstunden-Takt zu einem unaufschiebbaren, plötzlichen Verlassen des Arbeitsplatzes somit zu einer sofortigen Unterbrechung der Arbeit, dies sieben Mal an einem 4 stündigen Arbeitstag.
In rechtlicher Beurteilung der Sache führte das Erstgericht aus, das Arbeitszeitgesetz (§ 11 Abs 1 AZG) sehe während einer vierstündigen Arbeitszeit keine Pause vor. Da der Kläger die festgestellten Unterbrechungen zwingend benötige, sei er vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Derartige Unterbrechungen im Rahmen einer Halbtagstätigkeit würden von der Wirtschaft nicht toleriert. Da sein Zustand besserungsfähig sei, habe der Kläger keinen Anspruch auf eine Invaliditätspension, wohl aber auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung für die Dauer der vorübergehenden Invalidität.
Während der Kläger das erstgerichtliche Urteil unbekämpft lässt, wendet sich die (rechtzeitige) Berufung der Beklagten gegen die Zuerkennung des Rehabilitationsgelds. Aus den Rechtsmittelgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung sowie der unrichtigen rechtlichen Beurteilung strebt sie die Abänderung des angefochtenen Urteils im Sinn einer gänzlichen Klagsabweisung an; hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.
Der Kläger beantragt in seiner ebenfalls fristgerecht erstatteten Berufungsbeantwortung, dem gegnerischen Rechtsmittel einen Erfolg zu versagen.
Nach Art und Inhalt der geltend gemachten Rechtsmittelgründe war über die Berufung in nichtöffentlicher Sitzung zu entscheiden (§§ 2 Abs 1 ASGG, 480 Abs 1 ZPO). Diese ist aus nachstehenden Gründen nicht berechtigt:
Rechtliche Beurteilung
A) Verfahrensrechtliches:
1. Der durch die Antragstellung vom 22.12.2021 ausgelöste Stichtag ist im vorliegenden Verfahren der 1. 1 .2022 (§ 223 Abs 1 Z 2 lit b und Abs 2 ASVG). Die Begehren des Klägers waren auf Gewährung der Invaliditätspension oder des Rehabilitationsgelds ab Stichtag, sohin ab 1. 1 .2022, gerichtet. Der Urteilsspruch des Erstgerichts zu Punkt 2. hingegen lautet auf Zuerkennung des Rehabilitationsgelds ab 1. 2 .2022. Eine Abweisung des Begehrens für den Monat Jänner 2022 erfolgte nicht.
2. Nach stRsp scheidet ein Anspruch aus dem Verfahren aus, wenn gegen die Nichterledigung eines Sachantrags weder durch Ergänzungsantrag nach § 423 ZPO noch durch Berufung nach § 496 Abs 1 Z 1 ZPO Abhilfe gesucht wurde (RIS-Justiz RS0042365 insb [T2 – T4]; RS0041490; RS0039435). Beides wurde hier vom Kläger nicht erhoben. Damit ist der Anspruch auf Gewährung von Rehabilitationsgeld für den Monat Jänner 2022 aus dem Verfahren ausgeschieden.
B) Zur Mängelrüge:
1. Unter diesem Rechtsmittelgrund vertritt die Berufung den Standpunkt, das Erstgericht wäre zur amtswegigen Einholung eines berufskundlichen Gutachtens zum Zweck der Überprüfung des Vorliegens von Arbeitsplätzen, bei denen mehrmalige Toilettengänge möglich seien, verpflichtet gewesen. Zudem hätte das Erstgericht die Möglichkeit der Einarbeitung der für die Toilettenpausen benötigten Zeit durch weitergehende Befragung des urologischen Sachverständigen und ebenso Einholung eines berufskundlichen Gutachtens amtswegig klären müssen. Aufgrund dieser Mängel sei das Erstgericht von einem falschen Leistungskalkül und Unverweisbarkeit ausgegangen. Die Einholung eines berufskundlichen Gutachtens hätte ergeben, dass dem Kläger jedenfalls noch die Ausübung einer Verweisungstätigkeit möglich sei. Dieses Ergebnis hätte zu einer Klagsabweisung geführt.
2.1. Der Anfechtungsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens ist nur dann verwirklicht, wenn der im Rechtsmittel behauptete Verstoß gegen ein Verfahrensgesetz abstrakt geeignet war, eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der Streitsache zu hindern (RIS Justiz RS0043049; RS0043027). Daher muss der Rechtsmittelwerber zwar nicht die konkrete Nachteiligkeit des Mangels für seinen Prozessstandpunkt nachweisen (RIS-Justiz RS0043049 [T1]), dennoch aber, wenn dies nicht offenkundig ist, aufzeigen, dass der gerügte Verfahrensfehler abstrakt erheblich und geeignet war, das ihn belastende Ergebnis verursacht zu haben (RIS-Justiz RS0043027 [T1, T6, T10]; RS0043049 [T6]). Der Berufungswerber muss in seiner Verfahrensrüge nachvollziehbar ausführen, welche für ihn günstigen Verfahrensergebnisse zu erwarten gewesen wären, wenn der Verfahrensfehler nicht unterlaufen wäre. Andernfalls ist der Rechtsmittelgrund nicht der Judikatur gemäß ausgeführt (1 Ob 61/18d; 2 Ob 110/17s; 2 Ob 174/12w; RIS-Justiz RS0043039). Wird die Mängelrüge – wie hier – mit dem Ziel einer Änderung der Sachverhaltsgrundlage/Sachverhaltsfeststellungen vorgetragen, muss der Berufungswerber aufzeigen, welche neuen oder abweichenden Feststellungen das Erstgericht ohne Verfahrensmangel getroffen hätte (7 Ob 213/18a; 1 Ob 61/18d; 2 Ob 174/12w; Lovrek in Fasching/Konecny ZPO³ § 503 Rz 45). Der Rechtsmittelwerber muss also darlegen, welchen Verlauf das Verfahren genommen hätte, wenn der gerügte Fehler unterblieben wäre (1 Ob 204/07t),
2.2. Diesen Grundsätzen wird die Mängelrüge nicht gerecht, begnügt sie sich doch mit der Behauptung, die Einholung eines berufskundlichen Gutachtens hätte zur Feststellung geführt, dass dem Kläger die Ausübung einer Verweisungstätigkeit noch möglich wäre. Nach den dargestellten Grundsätzen wäre es Aufgabe des Rechtsmittels gewesen, substanziiert darzutun, welche konkreten für die Entscheidung des Einzelfalls relevanten Ergebnisse – hier also welche mit dem Leistungskalkül des Klägers vereinbaren Verweisungsberufe, die welches Anforderungsprofil aufweisen – die Einholung eines berufskundlichen Gutachtens ergeben hätte (vgl 10 ObS 125/13 z ErwGr 2.4. [dort wies der Oberste Gerichtshof auch auf die mangelnde Benennung von Verweisungstätigkeiten durch das Rechtsmittel hin]; RIS-Justiz RI0100129). Indem die Berufung aber nicht einmal im Ansatz Verweisungstätigkeiten samt deren Anforderungsprofil nennt, deren Ausübbarkeit sich durch ein berufskundliches Gutachten ergeben hätte, bleibt sie die notwendige Darstellung der für ihren Standpunkt günstigeren Verfahrensergebnisse gänzlich schuldig.
2.3. Was die in der Mängelrüge relevierte ergänzende Befragung des urologischen Sachverständigen betrifft, gilt dasselbe wie in Bezug auf das berufskundliche Gutachten. Auch in diesem Zusammenhang legt das Rechtsmittel nicht dar, welche neuen oder abweichenden Feststellungen das Erstgericht ohne Verfahrensmangel getroffen hätte. Für eine rechtsprechungskonforme Ausführung dieses Teils der Verfahrensrüge hätte die Rechtsmittelwerberin darzulegen gehabt, in welchen konkreten Bereichen – also hinsichtlich welcher Einschränkungen – sich eine Änderung des vom Erstgericht angenommenen Leistungskalküls ergeben hätte (RIS-Justiz RI0100129).
2.4. Die Verfahrensrüge scheitert damit schon an einer judikaturkonformen Ausführung.
3. Im Übrigen kommt diesem Berufungsgrund aber auch inhaltlich keine Berechtigung zu:
3.1. Wenn die Berufung vermeint, in einer vom Erstgericht unterlassenen Befragung des urologischen Sachverständigen zur Möglichkeit der Einarbeitung der für die Toilettenpausen benötigten Zeit, liege ein Verfahrensmangel begründet, ist ihr zu entgegnen, dass es der bei der Erörterungstagsatzung durch ihre Mitarbeiterin Mag. a G* vertretenen Beklagten frei gestanden wäre, im Rahmen der vom Erstgericht antragsgemäß durchgeführten mündlichen Gutachtenserörterung den Sachverständigen zu diesem Themenkreis zu befragen. Eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens kann nur durch einen Fehler des Gerichts, nicht aber einen in die Sphäre der Parteien fallenden Fehler begründet werden (RIS-Justiz RS0036581). Da das Erstgericht die Beklagte der mündlichen Gutachtenserörterung ordnungsgemäß beizog, diese dort – wie das Tagsatzungsprotokoll zeigt – ihr Fragerecht auch tatsächlich ausüben konnte und ihre Vertreterin entsprechende Fragen an den Sachverständigen nicht stellte, ist ein Verfahrensmangel in diesem Punkt nicht verwirklicht.
3.2. Entgegen der in der Berufung vertretenen Auffassung war das Erstgericht im vorliegenden Fall auch nicht verpflichtet, von Amts wegen ein berufskundliches Gutachten einzuholen: Zunächst ist darauf zu verweisen, dass die Beklagte im Verfahren erster Instanz nie die Einholung eines solchen Gutachtens beantragte, weshalb sie sich jetzt zu Recht auch nicht auf einen entsprechenden Beweisantrag, sondern lediglich auf § 87 Abs 1 ASGG beruft. Das Erstgericht war auch nicht verpflichtet, die Beklagte zur Stellung eines Beweisantrags anzuleiten, gilt doch die in § 39 Abs 2 Z 1 ASGG verankerte erhöhte Anleitungspflicht weder für Sozial-versicherungsträger, noch die anderen in § 40 Abs 1 ASGG genannten qualifizierten Vertreter (10 ObS 277/02m; RIS-Justiz RS0209684). Die Stellung konkreter Beweisanträge mit entsprechenden Beweisthemen kann vom Gericht grundsätzlich der qualifiziert vertretenen Partei überlassen bleiben (für viele: OLG Innsbruck 23 Rs 24/23k; 23 Rs 11/23y; 23 Rs 11/19t; Rassi in Fasching/Konecny , ZPO³ §§ 182, 182a Rz 73).
3.3. Das sozialgerichtliche Verfahren ist zwar nicht vom Amtswegigkeitsgrundsatz beherrscht; § 87 Abs 1 ASGG ordnet aber die amtswegige Beweisaufnahme an (RIS-Justiz RS0103347; RS0042477). Der Rechtsmittelgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens oder eine im Rahmen der Rechtsrüge geltend zu machende Unvollständigkeit der Sachverhaltsgrundlage (RIS-Justiz RS0042477; RS0053317) kann daher selbst dann vorliegen, wenn kein beantragter Beweis übergangen wurde; das Gericht darf sich nicht immer auf die Aufnahme der beantragten Beweise beschränken ( Neumayr in ZellKomm³ § 87 ASGG Rz 2).
Die Verpflichtung zur amtswegigen Beweisaufnahme besteht jedoch nur hinsichtlich solcher Umstände, für deren Vorliegen sich aus den Ergebnissen des Verfahrens Anhaltspunkte ergeben. Nur dann, wenn sich aus dem Vorbringen der Parteien, aus Beweisergebnissen oder dem Inhalt des Akts Hinweise auf das Vorliegen bestimmter entscheidungswesentlicher Tatumstände ergeben, ist das Gericht verpflichtet, diese in seine Überprüfung miteinzubeziehen (RIS-Justiz RS0086455). Gegenüber qualifiziert vertretenen Parteien hat sich die amtswegige Beweisaufnahme gemäß § 87 Abs 1 ASGG innerhalb der – allerdings weit zu steckenden – Grenzen des Parteivorbringens zu bewegen (10 ObS 46/08z; 10 ObS 69/08g; RIS-Justiz RS0042477 [T8, T14]; RS0086455 [T6]). Die Verpflichtung der Sozialgerichte zur amtswegigen Beweisaufnahme bezieht sich insbesondere nicht auf anspruchsvernichtende Umstände, für die der Sozialversicherungsträger behauptungspflichtig ist, wenn er solche Behauptungen nicht aufgestellt hat. (10 ObS 130/18t; RIS-Justiz RS0086455 [T3]; RS0109126 [T1]).
Bei Prüfung eines Pensionsanspruchs wegen geminderter Arbeitsfähigkeit ist vorerst ein medizinisches Leistungskalkül zu erheben. Sodann ist unter Bedachtnahme auf die Ergebnisse dieses Leistungskalküls das Verweisungsfeld zu prüfen. Sind die Anforderungen an einen Verweisungsberuf gerichtsbekannt, so bedarf es keiner näheren Feststellungen dazu (RIS-Justiz RS0084528; RS0040179). Dies kann auf Grund der besonderen Zusammensetzung der Sozialgerichte bei weit verbreiteten Tätigkeiten, die sich vor den Augen der Öffentlichkeit abspielen und deren Anforderungen daher allgemein bekannt sind, angenommen werden (RS0084528 [T1]; RS0040179). Von der Rsp wurde in der Vergangenheit ausgehend von diesen Prämissen in Bezug auf eine Vielzahl von Berufen, sofern hier relevant beispielsweise in Bezug auf die Tätigkeiten eines Portiers, Wacheorgans, Bürodieners und Aufsehers (RIS-Justiz RS0084528), eines Büroboten (10 ObS 194/98x; 10 ObS 293/90; 10 ObS 77/89) oder für einfache Bürohilfstätigkeiten (10 ObS 87/89) aufgrund deren offenkundiger Anforderungen iSd §§ 2 Abs 1 ASGG, 269 ZPO die Einholung eines berufskundlichen Gutachtens für entbehrlich erachtet.
3.4. Wie oben dargelegt hat die Beklagte hier – auch nach Durchführung der mündlichen Gutachtenserörterung mit dem urologischen Sachverständigen – die Einholung eines berufskundlichen Gutachtens nicht beantragt. Sie beließ es bei der in der Klagebeantwortung vorgetragenen allgemeinen Bestreitung der Klagebegehren und beschränkte sich darauf, auf die den Kläger treffende Mitwirkungspflicht im Sinn der Durchführung zumutbarer Heilbehandlungen hinzuweisen (ON 32 S 5). Ein Prozessvorbringen, welche Verweisungsberufe der Kläger trotz seines insgesamt massiv eingeschränkten Leistungskalküls nach Ansicht der Beklagten noch verrichten könnte, erstattete die Beklagte im Verfahren erster Instanz – insbesondere nach Durchführung der mündlichen Gutachtenserörterung, in der sich die Einschränkungen des Klägers bestätigten – nicht. Eingangs wurde bereits aufgezeigt, dass auch die Berufung solche Behauptungen schuldig bleibt. Angesichts dieses Prozessverhaltens der Beklagten war das Erstgericht im vorliegenden Fall nicht verpflichtet, von Amts wegen ein berufskundliches Gutachten einzuholen.
3.5. Auch aus diesem Blickwinkel ist der Mängelrüge daher kein Erfolg beschieden.
1. In der Beweisrüge bekämpft die Beklagte die oben in Kursivschrift wiedergegebenen Feststellungen und möchte diese durch folgende ersetzt wissen:
„Der Kläger ist trotz der erhöhten Miktionsfrequenz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar und bedarf es kein besonderes Entgegenkommen [sic] des Dienstgebers.“
Begründend führt die Berufung aus, das Erstgericht stütze seine Feststellungen auf die Ausführungen des urologischen Sachverständigen. Bei diesem handle es sich jedoch nicht um einen berufskundlichen Sachverständigen, der das Vorliegen von Arbeitsplätzen beurteilen könne. Es werde auf die Ausführungen in der Rechtsrüge (RMS Pkt 2.) verwiesen. Dort vertritt die Berufung die Auffassung, nach der Judikatur seien kurze Toilettenpausen während der Arbeitszeit nicht als zusätzliche Arbeitspausen zu qualifizieren. Das Aufsuchen der Toilette sei keineswegs nur während der Arbeitspausen üblich. Die Dauer der Toilettengänge würde hier zu keiner längeren Abwesenheit des Klägers vom Arbeitsplatz führen. Nach der Rsp schlössen auch zusätzliche Pausen nicht vom Arbeitsmarkt aus, wenn diese bei der jeweiligen Tätigkeit möglich seien oder eingearbeitet werden könnten. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung seien beispielsweise bei einfachen Bürotätigkeiten ohne besondere Stresssituationen oder Kundenverkehr kurze Unterbrechungen für Toilettengänge ohne besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers üblich. Zudem wäre dem Kläger das Einarbeiten der Pausen möglich. Gegenteiliges ergäbe sich aus dem Akt nicht.
2.1. Im Hinblick auf die von der Beklagten in der Berufung gewählte Vorgehensweise, in der Beweisrüge auf die (Rechts)Ausführungen in der Rechtsrüge zu verweisen, sieht sich das Berufungsgericht zunächst dazu veranlasst, auf folgende für Rechtsmittelschriftsätze geltende Grundsätze zu verweisen:
Nach der Rsp sind die einzelnen Berufungsgründe grundsätzlich getrennt und nicht gemeinsam auszuführen (RIS-Justiz RS0041786). Wenn die Berufung nicht hinreichend klar getrennt ausgeführt ist, kommt eine Verwerfung des Rechtsmittels in nichtöffentlicher Sitzung gemäß §§ 2 Abs 1 ASGG, 474 Abs 2 ZPO in Betracht (4 Ob 268/97h). Dies bedeutet also, dass ein Rechtsmittel, das sich auf mehrere Rechtsmittelgründe stützt, diese sachlich getrennt und nicht inhaltlich miteinander vermengt ausführen muss. Wird ein bestimmter Rechtsmittelgrund ausgeführt, muss dieser hinreichend klar und stringent dargestellt werden und das Rechtsmittel klar (nur) diesem Rechtsmittelgrund zuordenbare Ausführungen enthalten. Lässt sich aus einem Rechtsmittelschriftsatz nicht mit hinreichender Deutlichkeit erkennen, welcher konkrete Rechtsmittelgrund ausgeführt wird oder innerhalb des Rechtsmittels nicht klar zuordnen, welche Ausführungen den systematischen Anforderungen dieses Rechtsmittelgrunds entsprechen, gehen alle dadurch entstehende Unklarheiten zu Lasten des Rechtsmittelwerbers (RIS-Justiz RS0041761; Kodek in Rechberger/Klicka ZPO 5 § 471 Rz 17). Nur soweit die Zugehörigkeit der Ausführung zum einen oder anderen Rechtsmittelgrund klar erkennbar ist, schadet dies nicht (RIS-Justiz RS0041911; RS0041851).
2.2. Indem die Beklagte in ihrer Beweisrüge pauschal auf die Ausführungen in der Rechtsrüge verweist, wird sie diesen Grundsätzen nicht gerecht, verfolgen diese beiden Rechtsmittelgründe doch jeweils einen ganz anderen Zweck. Auf die formalen Erfordernisse einer ordnungsgemäßen Rechts- und Beweisrüge wird im folgenden noch eingegangen.
3.1. Die erfolgreiche Geltendmachung des Berufungsgrunds der unrichtigen Beweiswürdigung erfordert die bestimmte Angabe 1) welche konkrete Feststellung bekämpft wird, 2) infolge welcher unrichtigen Beweiswürdigung sie getroffen wurde, 3) welche Feststellung stattdessen begehrt wird und 4) aufgrund welcher Beweisergebnisse die begehrte Feststellung zu treffen gewesen wäre. In der Berufung muss daher deutlich gemacht werden, welche konkrete Tatsachenfeststellung, dh welchen Satz(teil), der Berufungswerber bekämpft und welche Feststellungen stattdessen begehrt und auf Grund welcher Umwürdigung bestimmter Beweismittel welche vom angefochtenen Urteil abweichenden Feststellungen angestrebt werden. Dies bedingt, dass bekämpfte und gewünschte Feststellungen in einem Austauschverhältnis zueinander stehen, also denkunmöglich nebeneinander existieren können; ein solches Alternativverhältnis ist erforderlich (OLG Innsbruck 3 R 9/23g; 3 R 69/22d; 3 R 71/20w; 1 R 182/20d; 23 Rs 22/20a, 3 R 71/20w; RIS-Justiz RS0041835; RI0100145; Kodek in Rechberger/Klicka 5 § 471 ZPO Rz 15 mwN). Das bedeutet, dass zwischen der bekämpften und der begehrten Feststellung ein derartiger inhaltlicher Widerspruch (Gegensatz) bestehen muss, dass sie nicht nebeneinander bestehen können. Die eine Feststellung muss die andere ausschließen (OLG Wien 13 R 87/22t ErwGr; 13 R 132/16a, 30 R 17/16i, 2 R 175/15t, 12 R 1/22p; RIS-Justiz RI0100145).
3.2. Hier richtet sich die Beweisrüge unter einem sowohl gegen erstgerichtlichen Feststellungen, welche die konkreten Verweisungstätigkeiten der Kläger infolge seiner erhöhten Miktionsfrequenz auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr ausführen kann, als auch die Feststellung, dass die festgestellten halbstündigen und unaufschiebbaren Miktionsintervalle im Rahmen der dem Kläger zumutbaren Halbtagesbeschäftigung zu einer siebenmaligen (sofortigen) Unterbrechung der Arbeitstätigkeit führen würden. Diesen beiden von ihrem Aussagegehalt inhaltlich zu trennenden Feststellungsblöcke stellt die Beklagte pauschal die oben wiedergegebene Ersatzfeststellung gegenüber. Tatsächlich stehen wenn überhaupt aber nur der erster Teil der angefochtenen Feststellungen und die Wunschfeststellung im notwendigen Austauschverhältnis zueinander.
Bei der Anzahl der vom Erstgericht festgestellten Miktionspausen innerhalb einer vierstündigen Beschäftigung (sieben Mal) handelt es sich lediglich um einen vom Erstgericht aus dem urologischen Gutachten (ON 21) samt dessen mündlicher Erörterung in der Tagsatzung vom 21.3.2023 (ON 33) gezogenen Schluss. Dass die Beklagte diesen Schluss und damit die Ergebnisse des urologischen Gutachtens in Zweifel ziehen würde, ergibt sich aus den Ausführungen in der Beweisrüge nicht. Die Beklagte hält diesen Gutachtensergebnissen (auch in ihrer Rechtsrüge) nichts entgegen. Zudem hat das Erstgericht die Miktionsintervalle und den diesen zugrundeliegenden imperativen Harndrang des Klägers an anderer Stelle (US 3) unbekämpft festgestellt. Ein Eingehen auf diesen (medizinischen) Aspekt der angefochtenen Feststellung erübrigt sich daher.
3.3. Hinsichtlich der übrigen angefochtenen Feststellungen begnügt sich die Beweisrüge mit einem pauschalen Verweis auf die Ausführungen in der Rechtsrüge und dem Hinweis, beim urologischen Sachverständigen handle es sich um keinen für das Fachgebiet der Berufskunde. Konkrete Beweisergebnisse aber, die ihre Wunschfeststellung stützen würde, benennt die Berufung nicht. Insofern wird die Beweisrüge den von der Judikatur entwickelten Grundsätzen nicht gerecht und ist daher unbeachtlich. Dass es grundsätzlich an der Beklagten gelegen gewesen wäre, im Verfahren erster Instanz, die Einholung eines berufskundlichen Gutachtens zu beantragen, wurde ebenso bereits dargelegt (vgl ErwGr B 3.) wie der Umstand, dass der diesbezüglichen Verfahrensrüge schon mangels Benennung konkreter für ihren Standpunkt günstigen Verfahrensergebnisse – hier also konkreter mit dem Leistungskalkül des Klägers vereinbarer Verweisungsberufe und zumindest deren grobes Anforderungsprofil – kein Erfolg beschieden sein kann (vgl ErwGr B 2.).
3.4. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die begehrte Ersatzfeststellung auch viel zu allgemein gefasst ist, um den von der Beklagten damit bezweckten Prozesserfolg herbeizuführen. Allein die pauschale Feststellung, es bedürfe trotz der erhöhten Miktionsintervalle keines besonderen Entgegenkommens der Dienstgeber und der Kläger sei auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar, ist hier nicht ausreichend, vielmehr wäre zumindest ein konkreter Verweisungsberuf – der zudem in ausreichender Anzahl vorliegen müsste – notwendig, um eine Verweisbarkeit des Klägers in rechtlicher Hinsicht zu bewirken. Wie bereits aufgezeigt, vermag die Beklagte einen solchen in ihrem Rechtsmittel aber nicht zu benennen. In diesem Zusammenhang ist vor allem auch darauf zu verweisen, dass der Kläger nicht nur durch die – sehr stark verkürzten – Miktionsintervalle eingeschränkt ist, sondern seine Leistungsfähigkeit auch darüber hinaus – sowohl in körperlicher Hinsicht als auch in Bezug auf den ihm zumutbaren Zeitdruck (leichte Arbeiten unter maximal durchschnittlichem Zeitdruck) – in hohem Ausmaß limitiert ist. Würden aber die angefochtene und die begehrte Feststellung zum selben Ergebnis führen, kann der Beweisrüge kein Erfolg beschieden sein. Das Berufungsgericht müsste dazu nicht einmal Stellung nehmen (RIS-Justiz RS0042386; RS0043190).
Letztlich ist festzuhalten, dass die Wunschfeststellung der von der Berufung nicht tangierten – vom Erstgericht allerdings disloziert in der rechtlichen Beurteilung getroffenen – Sachverhaltsfeststellung diametral entgegenstünde, wonach derartige – also halbstündige – Unterbrechungen von der Wirtschaft nicht toleriert werden und es hiefür eines besonderen Entgegenkommens des Arbeitgebers bedürfte, was zum Ausschluss vom allgemeinen Arbeitsmarkt führen würde. Tatsächlich stünde nämlich die begehrte Alternativfeststellung zu dieser dislozierten Sachverhaltsannahme in dem für eine erfolgreiche Beweisrüge erforderlichen Austauschverhältnis (vgl ErwGr B) 3.1.) und nicht zu der in der Berufung angeführten. Die Zuordnung einzelner Teile eines Urteils zu den Feststellungen hängt nämlich nicht vom Aufbau des Urteils ab (RIS-Justiz RS0043110). Bei dislozierten Tatsachenfeststellungen (9 ObA 67/16t; RIS-Justiz RS0043110) – die teilweise auch als verborgene Sachverhaltsfeststellungen bezeichnet werden (8 Ob 98/13i; 10 Ob 46/11d) – handelt es sich um Tatsachenfeststellungen, die nicht in dem vom Erstgericht als solches bezeichneten Urteilsabschnitt enthalten sind, sondern zB in der Beweiswürdigung (3 Ob 39/17g; 3 Ob 26/17w; RIS-Justiz RS0043110 [T3]) oder in der rechtlichen Beurteilung (9 ObA 67/16t; 1 Ob 85/15d; RIS-Justiz RS0043110 [T2]) eingefügt sind, die jedoch eindeutig dem Tatsachenbereich zugeordnet werden müssen. Für die Beurteilung, ob es sich bei außerhalb der Feststellungen befindlichen Urteilsausführungen um Tatsachenfeststellungen handelt (oder nicht), kommt es auf die Qualität der Aussage in diesen Entscheidungsgründen an (10 ObS 60/21b; 10 ObS 67/17a; 9 ObA 67/16t; 7 Ob 148/08b). Dass es sich bei den angeführten Passagen in der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts tatsächlich um Sachverhaltsfeststellungen handelt, zeigt sich schon darin, dass die Berufungswerberin mittels Beweisrüge die Feststellung des Gegenteils erreichen will.
4. Im Ergebnis ist daher auch die Beweisrüge nicht berechtigt.
1. Die von der Berufungswerberin in der Rechtsrüge inhaltlich vorgetragenen Argumente wurden in der Beweisrüge bereits dargestellt (vgl ErwGr C) 1). Als sekundären Feststellungsmangel macht die Berufung geltend, das Erstgericht habe es unterlassen, festzustellen, dass der Kläger trotz mehrmaliger Toilettengänge nicht auf ein besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers angewiesen sei, zumal kurze Arbeitsunterbrechungen in der Wirtschaft toleriert würden und beim Kläger zusätzlich die Möglichkeit des Einarbeitens bestünde.
2. Eine ordnungsgemäß ausgeführte Rechtsrüge erfordert, dass sie auf dem von den Vorinstanzen festgestellten und nicht auf einem vom Rechtsmittelwerber für richtig gehaltenen Sachverhalt („Wunschsachverhalt“) aufbaut. Der Rechtsmittelgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung ist also nur verwirklicht, wenn ausgehend vom festgestellten Sachverhalt aufgezeigt wird, dass dem Untergericht bei der Beurteilung des Sachverhalts ein Rechtsirrtum unterlaufen ist. Weichen die Rechtsmittelausführungen von den Tatsachenfeststellungen der Vorinstanzen ab, können sie insoweit einer weiteren Behandlung nicht zugeführt werden, dh das Berufungsgericht kann auf den Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung nicht eingehen (RIS-Justiz RS0043312; RS0041585; RS0043603; zum Revisionsverfahren: Lovrek in Fasching/Konecny 3 § 503 ZPO Rz 134).
3. Insoweit die Berufung unter diesem Rechtsmittelgrund ausführt, es entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, dass kurze Unterbrechungen für Toilettengänge etwa bei einfachen Bürotätigkeiten üblich seien und hiefür kein besonderes Entgegenkommen des Arbeitgebers einzuholen sei, weicht sie in unzulässiger Weise vom bindend festgestellten Sachverhalt ab, hat doch das Erstgericht festgestellt, dass der Kläger infolge der Miktionsfrequenz am allgemeinen Arbeitsmarkt ua die Tätigkeit einer einfachen Bürohilfskraft nicht mehr ausüben kann (US 4 vierter Absatz). Insofern ist die Rechtsrüge nicht judikaturkonform ausgeführt und daher unbeachtlich.
4.1. Gleiches gilt für das Argument, dem Kläger wäre das Einarbeiten der Pausen und damit das Aufholen der für die Toilettenpausen genutzt Zeit möglich, weil er täglich vier Stunden arbeiten könne. Richtig ist, dass der Kläger vier Stunden täglich arbeiten kann. Dass ihm darüber hinaus das Einarbeiten der während dieser Zeit zu absolvierenden – insgesamt sieben – Toilettenpausen möglich wäre, ergibt sich aus dem festgestellten Sachverhalt gerade nicht, kann der Kläger doch nur für vier Wochen pro Jahr die tägliche Arbeitszeit um bis zu zwei Stunden überschreiten. Dass er also regelmäßig länger als vier Stunden täglich arbeiten könnte, steht nicht fest.
4.2. Wenn die Berufung in diesem Zusammenhang weitere Feststellungen vermisst und dafür das Erstgericht verantwortlich macht (RMS 3 letzter Absatz), ist ihr zunächst entgegen zu halten, dass es ihr im Verfahren erster Instanz unbenommen war, selbst entsprechende Fragen an (alle) medizinischen Sachverständigen zu richten, was sie jedoch offenkundig nicht für erforderlich erachtete. Dies mag auch auf den Umstand zurückzuführen sein, dass sie im erstinstanzlichen Verfahren kein Vorbringen in diese Richtung, nämlich wonach dem Kläger das Einarbeiten der für die Toilettengänge notwendigen Pausen möglich und er daher nicht vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sei, erstattete.
Ein sekundärer (= rechtlicher) Feststellungsmangel iSd §§ 2 Abs 1 ASGG, 496 Abs 1 Z 3 ZPO ist aber nur dann verwirklicht, wenn Tatsachen fehlen, die für die rechtliche Beurteilung wesentlich sind und die Umstände betreffen, die nach dem Vorbringen der Parteien und den Ergebnissen des Verfahrens zu prüfen waren (RIS-Justiz RS0053317). Feststellungsmängel setzen also voraus, dass bereits im Verfahren erster Instanz ein entsprechendes Tatsachenvorbringen erstattet wurde. Wurde ein bestimmter Sachverhalt nicht behauptet, dann bewirkt die Unterlassung entsprechender – wenn auch aufgrund von Beweisergebnissen allenfalls möglicher – Feststellungen keinen rechtlichen Feststellungsmangel. Ein solcher Mangel ist daher nur dann denkbar, wenn die verfahrensrelevante Feststellung von einem ausreichend konkreten Tatsachenvorbringen der Partei erfasst ist (6 Ob 241/06v; RIS-Justiz RS0053317 [T2 und T4]; Kodek in Rechberger/Klicka ZPO 5 § 496 Rz Rz 11) .
Ein im Rahmen der rechtlichen Beurteilung aufzugreifender sekundärer Feststellungsmangel liegt hier also schon deshalb nicht vor, weil es an einem entsprechenden – hier anspruchsvernichtenden – Tatsachenvorbringen der Beklagten mangelt.
4.3. Im Übrigen kann der Vorwurf eines rechtlichen Feststellungsmangels dann nicht mehr mit Erfolg erhoben werden, wenn das Erstgericht zu einem bestimmten Thema ohnehin Feststellungen getroffen hat, mögen diese auch den Vorstellungen des Rechtsmittelwerbers zuwiderlaufen (RIS-Justiz RS0043320 [T18]; RS0043480 [T15]; RS0053317 [T1]). Hier aber hat das Erstgericht – zum Teil disloziert in der rechtlichen Beurteilung (vgl ErwGr C) 3.4.) – festgestellt, dass die hohe Miktionsfrequenz von der Wirtschaft nicht toleriert wird, sondern es eines besonderen Entgegenkommens des Arbeitgebers bedürfte und der Kläger daher vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist. Auch aus diesem Grund liegt kein Mangel iSd §§ 2 Abs 1 ASGG, 496 Abs 1 Z 3 ZPO vor.
5. Die erstgerichtliche rechtliche Beurteilung hält im hier zu beurteilenden Einzelfall aber auch einer inhaltlichen Überprüfung stand:
5.1. Richtig ist zwar, dass (behinderungsbedingte) zusätzliche Kurzpausen in einer täglichen Gesamtdauer bis zu etwa zwanzig Minuten im allgemeinen in der Wirtschaft toleriert werden, sodass es diesfalls keines besonderes Entgegenkommens des Arbeitgebers bedarf und damit kein Ausschluss vom allgemeinen Arbeitsmarkt bewirkt ist (RIS-Justiz RS0084414; RS0084389 [T3]). Wie von der Berufung ins Treffen geführt, hielt der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 ObS 119/05f fest, dass das Aufsuchen einer Toilette nicht nur während der Arbeitspausen üblich ist, sodass sich die Frage stelle, inwieweit dafür überhaupt „zusätzliche Arbeitspausen" erforderlich seien. Im Allgemeinen sei es üblich, jedenfalls kurze Toilettenpausen während der Arbeitszeit zu tolerieren und diese nicht als zusätzliche Arbeitspausen zu qualifizieren (10 Obs 106/11b). Dieser Entscheidung lagen jedoch insofern grundlegend andere Sachverhalte zu Grunde, als die dortigen Kläger „nur“ alle zwei (10 ObS 119/05f) oder 1,5 Stunden (10 ObS 106/11b) die Möglichkeit haben mussten, eine Toilette aufzusuchen. Nach der Rsp bewirkt auch stündlich notwendiges Aufsuchen der Toilette bei einer Reinigungskraft keinen Ausschluss vom Arbeitsmarkt (10 ObS 110/11s). Anders verhält es sich allerdings mit den Tätigkeiten eines Portiers oder eines (Eintrittskarten)Kassieres. Da diese Tätigkeiten mit regelmäßigem Publikumsverkehr verbunden sind, führen stündliche Miktionsintervalle und die damit einhergehenden stündlichen Unterbrechungen der Arbeit auch nur für wenige Minuten zu einer massiven Störung des Arbeitsauflaufs. Erst bei eineinhalbstündigen Miktionsintervallen wäre das nicht mehr der Fall (10 ObS 125/13w). Das Oberlandesgericht Wien bejahte zu 34 Rs 161/91 (= SVSlg 38.278) bei Miktionsintervallen von 40 bis 50 Minuten einen Ausschluss vom allgemeinen Arbeitsmarkt für Ganztagsbeschäftigungen mit der Begründung, dass dies während eines achtstündigen Arbeitstags zu etwa 10 bis 12maligem Aufsuchen der Toilette führen würde. Unter diesen Gegebenheiten sei die Klägerin auf ein besonderes Entgegenkommen eines Dienstgebers angewiesen (Umgelegt auf die hier relevante Halbtagsbeschäftigung wären das 5 bis 6 Toilettenpausen).
5.2. Der vorliegende Sachverhalt ist durch die besondere Häufigkeit der Toilettengänge bzw die sehr kurzen Miktionsintervalle (halbstündig) und zudem dadurch gekennzeichnet, dass der Kläger die Toilettengänge aufgrund des imperativen Harndrangs – auch bei normaler Trinkmenge – zeitlich nicht hinauszögern, verlängern oder verschieben kann, sondern sofort eine in der Nähe befindliche Toilette aufsuchen muss, ansonsten er einnässen würde. Auch wenn die einzelnen Toilettengänge für sich betrachtet – ohne Wegzeit – nur relativ wenig Zeit (1 Min) in Anspruch nehmen, bedarf es keiner eingehenden Erörterung, dass die Notwendigkeit einer zeitlich nicht verschiebbaren siebenmaligen Arbeitsunterbrechung während einer Halbtagsbeschäftigung eine massive Einschränkung der Arbeitskapazität des Klägers und vor allem des Arbeitsablaufs bewirkt. Die maßgebliche Einschränkung liegt hier also nicht allein im zeitlichen Ausmaß der Arbeitsunterbrechungen dar. Vielmehr sind die gravierensten Einschränkungen in der Häufigkeit und der mangelnden Steuerungsmöglichkeit der Arbeitsunterbrechungen begründet. Angesichts dieser Voraussetzungen und der oben dargestellten Rechtsprechung, wonach bereits wesentlich längere Miktionsintervalle – je nach Tätigkeit eine Stunde oder 40 bis 50 Minuten – vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließen, ist die erstgerichtliche rechtliche Beurteilung im vorliegenden Einzelfall nicht zu beanstanden.
6. Es bleibt daher auch die Rechtsrüge erfolglos, weshalb der Berufung der Beklagten insgesamt der Erfolg zu versagen war.
E) Verfahrensrechtliches:
1. Die Streitteile haben im Rechtsmittelverfahren keine Kosten verzeichnet. Eine Kostenentscheidung konnte daher entfallen.
2. Sofern Rechtsfragen zu lösen waren, konnte sich das Berufungsgericht auf eine herrschende Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs stützen, von der es nicht abgewichen ist. Eine erhebliche Rechtsfrage iSd §§ 2 Abs 1 ASGG, 502 Abs 1 und Abs 5 Z 4 ZPO stand daher nicht zur Beurteilung an. Der weitere Rechtszug an das Höchstgericht nach dieser Gesetzesstelle erweist sich damit als nicht zulässig, worüber gemäß den §§ 2 Abs 1 ASGG, 500 Abs 2 Z 3 ZPO ein eigener Ausspruch in den Tenor der Berufungsentscheidung aufzunehmen war.