JudikaturOLG Innsbruck

23Rs6/23p – OLG Innsbruck Entscheidung

Entscheidung
25. April 2023

Kopf

Das Oberlandesgericht Innsbruck hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Oberlandesgerichts Dr. Kohlegger als Vorsitzenden und die Richterin des Oberlandesgerichts Dr. Pirchmoser sowie den Richter des Oberlandesgerichts MMag. Dr. Dobler sowie die fachkundigen Laienrichter AD in RR in Irene Rapp (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und AD in RR in Sabine Weber (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Mitglieder des Senats in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geb am **, ohne Beschäftigungsbezeichnung, B*, **gasse **, vertreten durch Mag. N. Lehner, Mitarbeiter der Arbeiterkammer Vorarlberg, Abteilung Sozialrecht, 6800 Feldkirch, Widnau 2 4, gegen die beklagte Partei C* D* , E*, B*, **gasse **, vertreten durch Mag. Klaus Heim, ebendort, wegen Krankengeld, über die Berufung der beklagten Partei (ON 9) gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom 5.12.2022, 60 Cgs 135/22m 7, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird k e i n e Folge gegeben.

Die (ordentliche) Revision ist n i c h t zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger war bis 6.3.2022 gemäß § 6 Abs 2 Z 1 iVm § 40 AlVG bei der F* D* krankenversichert. Anschließend war er wieder ab dem 23.5.2022 beim AMS gemeldet.

Im Zeitraum vom 24.8.2021 bis 6.3.2022 und vom 28.3.2022 bis 10.8.2022 war der Kläger infolge Krankheit arbeitsunfähig.

Vom 27.8.2021 bis 6.3.2022 erhielt der Kläger Krankengeld in Höhe von EUR 20,38 pro Tag.

Mit Bescheid vom 20.10.2022 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 25.8.2022 auf Zuerkennung des Krankengelds für den Zeitraum 7.3.2022 bis 22.5.2022 ab. Der Kläger sei bis 6.3. bei der Beklagten krankenversichert gewesen. Im Zeitraum vom 28.3.2022 bis 10.8.2022 sei er arbeitsunfähig infolge Krankheit gemeldet gewesen. Die Arbeitsunfähigkeit sei daher nicht innerhalb der dreiwöchigen Schutzfrist ab dem 6.3.2022 eingetreten.

Diesen Bescheid bekämpft der Kläger mit seiner rechtzeitigen vorliegenden Bescheidklage und dem Antrag, die Beklagte dazu zu verpflichten, ihm von 31.3. bis 22.5.2022 Krankengeld zu gewähren. Er bringt dazu im Wesentlichen vor, die Arbeitsunfähigkeit sei in der dreiwöchigen Schutzfrist im Sinn des § 138 Abs 1 ASVG eingetreten. Bei der Fristberechnung sei nämlich das Europäische Übereinkommen über die Berechnung von Fristen, EuFrÜb, anzuwenden. Falle demnach der Tag des Ablaufs einer Frist, vor deren Ende eine Handlung vorzunehmen sei, auf einen unter anderem Sonntag, werde die Frist um den nächstfolgenden Werktag verlängert. Da der 27.3.2022 ein Sonntag gewesen sei, verlängere sich die Frist auf den 28.3.2022, an dem die Arbeitsunfähigkeit des Klägers infolge Krankheit eingetreten sei.

Die Beklagte bestreitet, beantragt Klagsabweisung und wendet zusammengefasst ein, Art 5 des EuFrÜb sei nur auf verfahrensrechtliche Fristen anwendbar. Bei § 138 Abs 1 ASVG handle es sich um keine verfahrensrechtliche Frist. Außerdem habe die dreiwöchige Schutzfrist hier am 27.3.2022 geendet. Die Arbeitsunfähigkeit sei aber erst danach, nämlich am 28.3.2022 eingetreten. Somit habe der Kläger keinen Anspruch auf Krankengeld.

Mit dem bekämpften Urteil gab das Erstgericht dem Klagebegehren statt. Es legte dieser Entscheidung den eingangs der Berufungsentscheidung wiedergegebenen, im Rechtsmittelverfahren unstrittigen Sachverhalt zugrunde.

Rechtliche Beurteilung

In rechtlicher Beurteilung vertrat das Erstgericht die Auffassung, § 138 Abs 1 ASVG verlange für den Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung, dass die Arbeitsunfähigkeit vor Ablauf der dreiwöchigen Schutzfrist eingetreten sei. In Anwendung des Art 5 EuFrÜb sei jedoch der letzte Tag dieser dreiwöchigen Schutzfrist der Sonntag, der 27.3.2022 gewesen, sodass sich die Frist um den nachfolgenden Werktag, den 28.3.2022 verlängert habe. An diesem Tag sei die Arbeitsunfähigkeit des Klägers infolge Krankheit eingetreten. Er habe daher Anspruch auf Krankengeld ab dem vierten Tag seiner Arbeitsunfähigkeit, somit ab dem 31.3.2022. Dem Klagebegehren sei daher stattzugeben.

Gegen diese Entscheidung wendet sich nunmehr die (rechtzeitige) Berufung der Beklagten aus dem Rechtsmittelgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die bekämpfte Entscheidung im Sinn einer vollständigen Klagsabweisung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag sowie der Ausspruch, dass dem Berufungsgegner kein Anspruch auf Ersatz der Verfahrenskosten zukomme, verlangt (ON 9 S 4 f).

Der Kläger hat sich am Berufungsverfahren nicht beteiligt.

Nach Art und Inhalt der geltend gemachten Anfechtungsgründe war die Anberaumung einer öffentlichen, mündlichen Berufungsverhandlung entbehrlich. Über die Berufung war daher in nichtöffentlicher Sitzung zu befinden (§§ 2 Abs 1 ASGG, 480 Abs 1 ZPO). Dabei erwies sie sich aus nachstehenden Erwägungen als unberechtigt:

1.: Zunächst ist dem Erstgericht und der Berufungswerberin in der Überlegung beizupflichten, wonach es nicht von der formalen Stellung der Rechtsvorschrift abhängt, ob diese als eine verfahrens- oder materiell-rechtliche Frist anzusehen ist, sondern davon, ob an ihre Einhaltung verfahrens- oder materiell-rechtliche Folgen geknüpft sind. Fristen des materiellen Rechts sind Zeiträume, an deren Beachtung das Gesetz bestimmte materielle Rechtsfolgen knüpft (10 ObS 160/20g Rn 15; RIS Justiz RS0038465 [T1]). Eine prozessuale Frist ist nur eine solche, die entweder durch ein Verfahren ausgelöst wird, oder in einem Verfahren läuft (10 ObS 160/20g ErwGr 2.1.; 10 ObS 125/19h ErwGr 1.; RIS Justiz RS0123438). Die Wertung einer Frist als materiell-rechtlich muss vom Gesetz unzweifelhaft zum Ausdruck gebracht werden. Daher ist im Zweifel von einer verfahrensrechtlichen Frist auszugehen (10 ObS 160/20g Rn 15; VwGH 26.4.2011, GZ 2011/03/0017, VwSlg 18.108 A/2011).

2.: Danach haben sowohl das Erstgericht als auch die Berufungswerberin die Frist des § 138 Abs 1 ASVG mit Fug als eine materiell-rechtliche Frist eingestuft. Denn dort ist - ua und im Fall des Klägers relevant - vorgesehen, dass der Eintritt des Versicherungsfalls der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit davon abhängt, ob innerhalb der ersten drei Wochen nach Ausscheiden des Anspruchsberechtigten aus der Pflichtversicherung im Sinn des § 122 ASVG der Versicherungsfall der Arbeitsunfähigkeit tatsächlich eintritt. Dieser dargelegte Teil der Regelung des § 138 ASVG knüpft also an die Versäumung der Frist die materielle Rechtsfolge des Verlusts des Anspruchs auf Krankengeld. Es liegt also ein der Entscheidung 10 ObS 160/20g Rn 16 vergleichbarer Fall vor: Dort war § 24c Abs 2 Z 2 KBGG betroffen, an deren Versäumung das Gesetz die materielle Rechtsfolge des teilweisen Anspruchsverlusts auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens knüpft (vgl auch 10 ObS 90/20p Rn 11 zur Frist des § 5a Abs 2 KBGG und 10 ObS 125/19h ErwGr 3. zu § 3 Abs 3 Satz 2 FamZeitBG).

3.: Das Europäische Fristenberechnungsübereinkommen (EuFrÜb) des Europarats vom 16.5.1972 (SEV NR. 076, Basel 16/05/1972, in Österreich ratifiziert durch BGBl 102/1983 und damit mangels Vorbehalts nach Art 50 Abs 2 B VG unmittelbar durch Adoption im österreichischen Rechtsbereich anwendbar) erfasst nicht nur materielle und formelle Fristen des Zivilrechts (für viele Aichberger-Beig in Fenyves/Kerschner/Vonkilch in Klang ³ § 902 Rz 19), sondern auch solche des Verwaltungs- und Verwaltungsverfahrensrechts (10 ObS 121/20x Rn 13; 10 ObS 148/14h ErwGr 4.3.). Es ist auch auf Sachverhalte ohne Auslandsbezug anwendbar. Sondergesetzliche Abweichungen sind unzulässig (10 ObS 121/20x Rn 13; 5 Ob 147/98y; Reischauer in Rummel/Lukas ABGB 4 § 902 ABGB Rz 1). Daher ist das EuFrÜb grundsätzlich auch auf die dreiwöchige Schutzfrist des § 138 ASVG anwendbar (Art 1 Abs 1 in der österreichischen Übersetzung laut BGBl 254/1983). Dem Explanatory Report (den amtlichen Erläuterungen) zu diesem Übereinkommen kommt kein autoritiver Charakter zu. Er bildet jedoch eine wichtige Auslegungshilfe, weil er von den Verfassern des europäischen Fristenberechnungsübereinkommens stammt und in der elektronischen Liste der Dokumente des Europarats (www.coe.int) des Vertragsbüros zu SEV Nr. 076 erfasst und eingepflegt ist (10 ObS 160/20g Rn 18; 10 ObS 148/14h ErwGr 4.3.). Nach Punkt 11 der Allgemeinen Erwägungen des Explanatory Report gilt das EuFrÜb nicht für Zeitspannen, für die Sozialleistungen wie etwa Arbeitslosengeld (während dessen Bezug der Berechtigte krankenversichert ist: §§ 6 Abs 2 ASVG, 40 AlVG) oder Wochengeld zustehen (ebenso 10 ObS 148/14h ErwGr 4.3.), ebenso wenig für (zwingende) Vordienstzeiten oder Praxiszeiten für öffentliche Ämter ( Explanatory Report Punkt 10 f). Diese sind keine Fristen im Sinn des Übereinkommens (siehe 10 ObS 148/14h ErwGr 4.3. zu Sozialleistungen). Beim Anspruch auf Krankengeld handelt es sich aber um eine Sozialleistung , zB iSd Art 3 Abs 1 lit a VO (EG) Nr. 883/2004, die nach den vorzitierten Quellen nicht unter das EuFrÜb fällt .

4.: Zur Unanwendbarkeit des EuFrÜb gelangt man aber auch noch durch folgende weitere Überlegung: Nicht jede Zeitspanne, die rechtlich relevant ist, stellt auch eine Frist im Sinn dieses Übereinkommens dar ( Aichberger-Beig § 902 Rz 21). Punkt 10 des Explanatory Report (der amtlichen Erläuterungen) zum EuFrÜb nimmt selbst eine Abgrenzung des Begriffs der Frist vor und verfügt im Punkt 10, dass dieses Übereinkommen für die Vertragsdauer nicht gilt (vgl Aichberger-Beig aaO). Auch hier geht es um eine Frage der Leistungsdauer bzw des Deckungszeitraums der Krankenversicherung: Fraglich ist hier, ob der Kläger bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit am 28.3.2022 noch kranken(nach)versichert war oder nicht. Daraus ergibt sich, dass es sich hier nicht um eine „Frist“ im engeren Sinn handelt, sondern um die Dauer einer Laufzeit , nämlich der Nachversicherungszeit während der genannten dreiwöchigen Schutzfrist des § 138 Abs 1 ASVG (vgl 10 ObS 49/15a ErwGr 3.). Deshalb wird unter anderem vertreten, dass § 7 VersVG, der den Deckungszeitraum der Versicherung regelt und anordnet, dass dieser von Mittag bis Mittag läuft, die Leistungsdauer betrifft und daher vom EuFrÜb nicht berührt wird ( Aichberger-Beig Rz 22; aA Reischauer § 902 Rz 18). Daher wird auch die Mutterschutzfrist nach der Geburt nicht als Frist iSd EuFrÜb angesehen ( Aichberger-Beig § 902 Rz 22 S 169 bei FN 44). Dies harmoniert mit der herrschender Auffassung, wonach die Berechnung der Leistungsdauer in Dauerschuldverhältnissen aufgrund der Ausnahme vom Anwendungsbereich laut Punkt 10 des Explanatory Report der erste Tag der Leistungserbringung auch dann in die Fristberechnung einzubeziehen ist, wenn er gleichzeitig der ereignisauslösende Tag ist (10 ObS 148/14h ErwGr 4.3.; Binder/Kollmasch in Schwimann/Kodek ABGB 4 §§ 902 f Rz 3 und 30; Reischauer in Rummel/Lukas ABGB 4 § 902 Rz 47).

5.: Zusammengefasst ist daher das EuFrÜb auf die Nachversicherungszeit in der Schutzfrist, also den die Leistungsdauer betreffenden Deckungszeitraum der Krankenversicherung nach § 138 Abs 1 ASVG nicht anzuwenden.

6.: Nach der in der Berufung nicht gesondert angesprochenen Ablaufhemmung des § 903 Satz 3 ABGB ist aber dann, wenn das Fristende auf einen Sonntag fällt (hier: 27.3.2022), die Frist um den darauf folgenden Werktag verlängert (hier der 28.3.2022; Aichberger-Beig § 903 Rz 12; Reischauer § 903 Rz 12). Der Eintritt der Arbeitsunfähigkeit des Klägers fiel somit in den Deckungszeitraum der Nachversicherung des § 138 Abs 1 ASVG ( Drs in SV Komm § 138 ASVG [248. Lfg 5/2020] Rz 12; Schober in Sonntag [Hrsg] ASVG 13 [2022] § 138 Rz 3; vgl 10 ObS 57/01g zur Rechtslage vor dem SRÄG 2015).

Die bekämpfte Entscheidung war daher entgegen dem Standpunkt der Berufung als rechtsrichtig zu bestätigen.

7.: Eine Kostenentscheidung konnte entfallen, weil Kostenersatz in der Berufung nicht angesprochen wurde.

8.: Das Berufungsgericht konnte sich - wie durch mehrere Zitate belegt - zumindest in der Hauptbegründung auf eine einheitliche Rechtsprechung des Höchstgerichts in Sozialrechtssachen stützen, von der es nicht abgewichen ist. Eine erhebliche Rechtsfrage in der von §§ 2 Abs 1 ASGG, 502 Abs 1 ZPO geforderten Qualität war daher in diesem Berufungsverfahren nicht zu klären. Der weitere Rechtszug nach dieser Gesetzesstelle erweist sich daher als nicht zulässig, worüber gemäß den §§ 2 Abs 1 ASGG, 500 Abs 2 Z 3 ZPO ein eigener Ausspruch in den Tenor der Berufungsentscheidung aufzunehmen war.

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