JudikaturOLG Innsbruck

23Rs31/22p – OLG Innsbruck Entscheidung

Entscheidung
22. Februar 2023

Kopf

Das Oberlandesgericht Innsbruck hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Oberlandesgerichts Dr. Kohlegger als Vorsitzenden sowie den Richter des Oberlandesgerichts Dr. Engers und die Richterin des Oberlandesgerichts Dr. Pirchmoser und die fachkundigen Laienrichter Mag. Stefan Wanner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. a Dr. in Sylvia Zangerle-Leberer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Mitglieder des Senats in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geb am **, ohne Berufsangabe, ** B*, **, vertreten durch Mag. Alexander Nußbaumer, Mitarbeiter der C* D*, gegen die beklagte Partei E* , F* D*, **, **gasse **, vertreten durch deren Mitarbeiter Mag. Klaus Heim, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom 12.7.2022, 36 Cgs 35/22d 10, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird k e i n e Folge gegeben.

Die (ordentliche) Revision ist n i c h t zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin ist seit 1.11.2015 in Liechtenstein unselbstständig erwerbstätig; sie ließ sich seither von der Pflichtversicherung in der Krankenversicherung im Fürstentum Liechtenstein befreien und versicherte sich für den Krankheitsfall privat bei einem österreichischen Versicherungsunternehmen. Ihr Lebensgefährte ist in Österreich unselbstständig erwerbstätig. Am G* wurde deren gemeinsames Kind H* geboren. Alle drei sind österreichische Staatsbürger, die Familie hat ihren Hauptwohnsitz und Lebensmittelpunkt in B*, die Tochter seit G*, die Eltern seit 2.10.2020. Die Klägerin pendelte jeweils täglich von ihrem Wohnort in Vorarlberg nach Liechtenstein zu ihrem Arbeitsplatz.

Vom Tag der Geburt des Kindes bis 3.2.2022 befand sich die Klägerin in Mutterschaftsurlaub, vom G* bis 2.10.2022 in Karenz. Bis 9.12.2021 bezog sie hiebei 100 % des Erwerbseinkommens und ab 10.12.2021 bis einschließlich 3.2.2020 80 % dieses Einkommens von ihrer Arbeitgeberin.

Seit Oktober 2021 hat die Klägerin für ihr Kind Anspruch auf Familienbeihilfe und bezieht diese auch vom Finanzamt Österreich.

Mit Bescheid vom 16.2.2022 lehnte die Beklagte den auf die Zuerkennung des Kindesbetreuungsgelds als Ersatz des Erwerbseinkommens für die Zeit vom 4.2. bis 2.10.2022 gerichteten Antrag der Klägerin vom 14.12.2021 ab.

Dieser Sachverhalt steht im Berufungsverfahren unbekämpft fest (§§ 2 Abs 1 ASGG, 498 Abs 1 ZPO).

Gegen den vorgenannten Bescheid hat die Klägerin rechtzeitig Klage mit dem Begehren, die Beklagte zur Leistung des Kinderbetreuungsgeldes, wie am 14.12.2021 beantragt, zu verpflichten und dazu im Wesentlichen vorgebracht, aufgrund der unionsrechtlichen Koordinationsregeln in der VO (EG) Nr. 883/2004 sei Österreich vorrangig für die Gewährung des als Familienleistung zu qualifizierenden Kinderbetreuungsgelds verpflichtet, die Klägerin erhalte ja auch die österreichische Familienbeihilfe für ihr Kind. Sie unterliege in Liechtenstein wie alle dort erwerbstätigen Personen der Krankenversicherungspflicht, die Klägerin habe lediglich von ihrem Optionsrecht Gebrauch gemacht und eine gleichwertige private Krankenversicherung abgeschlossen. Damit lägen die Voraussetzungen im Sinn des § 24 Abs 2 KBGG vor, zumal der Oberste Gerichtshof bereits klargestellt habe, dass die dort normierte Voraussetzung einer lediglich in Österreich ausgeübten sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit unionsrechtswidrig sei und damit unbeachtet zu bleiben habe.

Die Beklagte bestreitet, vertritt die Auffassung, zufolge Art 11 Abs 3 iVm Art 68 Abs 1 lit a und b sublit i erster Fall der von der Klägerin genannten Verordnung sei Österreich für die Erbringung der verfahrensgegenständlichen Familienleistung vorrangig zuständig, und hält dem zusammengefasst entgegen, lediglich eine Beschränkung auf eine in Österreich ausgeübte sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit sei unionswidrig, nicht aber das Abstellen auf eine sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit an sich. Die Klägerin gehe aber in Liechtenstein in diesem Sinn nicht einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nach, da sie sich von der Pflichtversicherung in der Krankenversicherung befreien habe lassen und bei einem österreichischen Versicherungsunternehmen privat krankenversichert sei. Damit mangle es an der in § 24 Abs 2 KBGG verankerten Anspruchsvoraussetzung.

Mit Urteil vom 12.7.2022 wies das Erstgericht das Begehren der Klägerin ab. Hiebei ging es vom eingangs referierten Sachverhalt aus und folgte in rechtlicher Hinsicht dem Standpunkt der Beklagten.

Gegen diese Entscheidung wendet sich die rechtzeitige Berufung der Klägerin aus dem Rechtsmittelgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das bekämpfte Urteil im Sinn einer Klagsstattgebung abzuändern.

Die Beklagte beantragt in ihrer rechtzeitigen Berufungsbeantwortung , dem Rechtsmittel der Gegenseite den Erfolg zu versagen.

Nach Art und Inhalt des geltend gemachten Rechtsmittelgrunds war über die Berufung in nichtöffentlicher Sitzung zu befinden (§§ 2 Abs 1 ASGG, 480 Abs 1 ZPO). Hiebei erwies sie sich aufgrund nachstehender Erwägungen als nicht berechtigt :

Rechtliche Beurteilung

1. Unstrittig ist auf den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch die VO (EG) Nr. 883/2004 (Koordinierungsverordnung) anzuwenden; nicht in Zweifel gezogen wird beidseits zutreffend auch, dass das österreichische Kinderbetreuungsgeld eine zu koordinierende Familienleistung im Sinn des Art 1 lit z dieser Verordnung ist (10 ObS 146/16t; RIS Justiz RS0122905 [T4]).

2. Die Berufungswerberin kommt in ihrem Rechtsmittel zunächst auf ihren erstinstanzlichen Standpunkt zurück, Österreich sei aufgrund der unionsrechtlichen Koordinationsregeln der VO (EG) Nr. 883/2004 für die Erbringung der hier verfahrensgegenständlichen Familienleistung zuständig, da sie Familienbeihilfe in Österreich für ihr Kind beziehe. Außerdem verficht sie unter Berufung auf Art 68 Abs 1 lit b sublit i der VO (EG) Nr. 883/2004 diesen Standpunkt, weil für den Fall, dass Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten jeweils aus dem gleichen Grund zur Anwendung kämen, diese Regelung jenen Staat als vorrangig zuständig qualifiziere, in dem auch die Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalten haben. Schließlich sei der Anspruch der Klägerin nicht nur aufgrund des Wohnsitzes des Kindes nach österreichischen Vorschriften zu beurteilen, sondern auch aufgrund des Beschäftigungsstaates des Kindesvaters; zum einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld habe der Oberste Gerichtshof (10 ObS 148/14h) bereits ausgesprochen, dass die in § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG enthaltene Beschränkung auf eine in Österreich ausgeübte sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit unionsrechtswidrig und damit nicht anzuwenden sei.

3. Dem ist zunächst voranzustellen, dass im Rechtsmittelverfahren in Sozialrechtssachen ausnahmslos das Neuerungsverbot des § 482 Abs 2 ZPO gilt (RIS Justiz RS0042049). Auf den Beschäftigungsort des Vaters des Kindes in Österreich hat die Klägerin ihren Anspruch im erstinstanzlichen Verfahren aber nie gegründet, sodass ihre nunmehrige Argumentation an sich schon aus formellen Gründen unbeachtlich ist. Im Übrigen wurde gerade jüngst zu einem vergleichbaren Sachverhalt (Wohnsitz der Familie in Österreich, Beschäftigungsort der klagenden Mutter in der Schweiz und Pflichtversicherung des zweiten Elternteils nach GSVG/ASVG) klargestellt, dass die angesprochene Familienbetrachtungweise schon nach dem Wortlaut des Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO (EG) Nr. 987/2009 nur bei Anwendung von Art 67 und 68 der genannten Verordnung eine Rolle spielt und die Bestimmung des Art 68 (auf die sich auch die Klägerin hier allein beruft) nur für den Fall der Kumulierung von Anspruchsberechtigungen festlegt, welche Staaten vorrangig zuständig sind; diese Prioritätsregeln gelten jedoch nur für den Fall, dass für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Ansprüche auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind. Besteht hingegen in einem der beiden Staaten kein Anspruch auf eine mit dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Familienleistung, erfolgt die Anknüpfung nach den allgemeinen Regeln zur Ermittlung des anzuwendenden Rechts nach Art 11 VO (EG) Nr. 883/2004 (10 ObS 133/22i ErwGr 2.2.1 und 2.2.2). Die Klägerin hat aber weder in erster Instanz noch nunmehr in ihrer Berufung auch nur erkennbar behauptet, Liechtenstein gewähre (ihr) eine mit dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Familienleistung.

4. Dem Standpunkt der Berufungswerberin zuwider ist Österreich hier auch gar nicht vorrangig leistungszuständig:

4.1 Zuständig für die Erbringung von Familienleistungen ist jener Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften gemäß Art 11 ff der genannten Verordnung anwendbar sind. Nach dieser Regelung unterliegen Personen, für die die Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Für Personen, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben, sind dies die Rechtsvorschriften dieses Beschäftigungsstaats (Art 11 Abs 3 lit a VO [EG] Nr. 883/2004) und zwar unabhängig davon, wo die Person ihren Wohnsitz hat (10 ObS 133/22i ErwGr 2.1). Im Fall der Klägerin ist sohin Liechtenstein der für die Erbringung der Leistung zuständige „Mitgliedstaat“.

4.2 Wieso aus der bloßen Tatsache des Bezugs der Familienbeihilfe eine vorrangige Zuständigkeit Österreichs abgeleitet werden könnte, hat die Klägerin bereits im erstinstanzlichen Verfahren nicht näher aufgezeigt und kann sie auch in ihrer Rechtsmittelschrift nicht begründen. Damit genügt der Hinweis darauf, dass aus dieser Tatsache für das gerichtliche Verfahren nicht bindend geschlossen werden kann, dass Österreich vorrangig für die Erbringung von Familienleistungen zuständig wäre (OLG Innsbruck 23 Rs 19/22y ErwGr 5.3: ao Revision der dortigen Klägerin zurückgewiesen zu 10 ObS 133/22i).

5. Die von der Klägerin für die Begründung ihres Standpunkts herangezogene Entscheidung 10 ObS 148/14h, nach der die Beschränkung des § 24 Abs 1 Z 2 iVm Abs 2 KBGG auf eine lediglich in Österreich (und nicht auch in einem anderen EU Mitgliedstaat) ausgeübte sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit als unionsrechtswidrig zu qualifizieren und daher unbeachtet zu lassen ist, ist nicht einschlägig, weil eine solche Sachverhaltsgleichstellung im Sinn des Art 5 der Koordinierungsverordnung voraussetzen würde, dass die österreichischen Rechtsvorschriften (vorrangig oder auch bloß nachrangig) zur Anwendung gelangen (10 ObS 133/22i ErwGr 2.3.2). Dies ist hier aber auch aus dem Blickwinkel des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes nicht der Fall, weil gerade nicht davon ausgegangen werden kann, dass Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten jeweils aus dem gleichen Grund zur Anwendung gelangen (ErwGr 3. oben).

6. Zusammengefasst ist der Berufung somit ein Erfolg zu versagen.

7. Eine Kostenentscheidung konnte entfallen, weil Kosten beiderseits nicht verzeichnet wurden.

8. Im Hinblick auf eine vom Obersten Gerichtshof geklärte Rechtslage (10 ObS 133/22i) war eine Rechtsfrage mit der von § 502 Abs 1 ZPO geforderten Qualität nicht zu lösen. Damit ist auszusprechen, dass die ordentliche Revision nicht zulässig ist (§§ 2 Abs 1 ASGG, 500 Abs 2 Z 3, 502 Abs 5 Z 4 ZPO).

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