JudikaturOLG Innsbruck

13Ra24/22k – OLG Innsbruck Entscheidung

Entscheidung
24. August 2022

Kopf

Beschluss

Das Oberlandesgericht Innsbruck hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Oberlandesgerichts Dr. Kohlegger als Vorsitzenden und den Richter des Oberlandesgerichts Dr. Engers sowie die Richterin des Oberlandesgerichts Dr. Vetter und die fachkundigen Laienrichter Mag. Oswald Wolkenstein (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und MMag. a BEd Claudia Wacker-Bruckner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Mitglieder des Senats in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei A* B* , Buschauffeur in ** C*, **straße **, vertreten durch Mag. Bernd Widerin, Dr. Martin Sam, Rechtsanwälte in 6700 Bludenz, gegen die beklagte Partei D* GmbH , E*straße **, ** F*, vertreten durch Welte Rechtsanwalt GmbH in 6830 Rankweil, wegen EUR 3.420,48 s.Ng., über die Berufung der klagenden Partei (ON 24) gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom 3.12.2021, 36 Cga 7/21i 22, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen:

Spruch

Der Berufung wird dahin F o l g e gegeben, dass die bekämpfte Entscheidung aufgehoben und die Arbeitsrechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung z u r ü c k v e r w i e s e n wird.

Die Kosten des Berufungsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten erster Instanz.

Text

Begründung:

Der Kläger ist seit 19.10.2009 (unbefristet) bei der Beklagten als Autobuslenker (Arbeiter) beschäftigt. Auf dieses Arbeitsverhältnis ist der Kollektivvertrag für Dienstnehmer in privaten Autobusbetrieben in der jeweils gültigen Fassung anwendbar.

Der Kläger verrichtete am 23.1.2021 seinen Dienst bei der Beklagten. Dabei lenkte er am Morgen des 23.1.2021 den öffentlichen Bus mit dem amtlichen Kennzeichen ** auf der Linie 1 mit der Strecke Bahnhof F* nach C*/G*. Er absolvierte gerade die zweite Runde von C*/G* kommend in Richtung F* E*. H* I*, ebenfalls Buslenker bei der Beklagten, war auf dem Weg zur Arbeit. Sein Buslenkdienst bei der Beklagten begann um 8:30 Uhr. Er wartete an der J* „K*platz“ um mit der Linie 1 eine Station zur Haltestelle „L*“ zu fahren, welche sich in der Nähe der Firma der Beklagten befindet. Der Kläger hielt den Bus an, öffnete die hintere Türe und H* I* stieg ein. Er setzte sich wortlos auf den ersten Sitz links nach dem hinteren Eingang. Weitere Fahrgäste befanden sich nicht im Bus. Der Kläger fuhr mit dem Bus los und rief zweimal nach hinten in Richtung H* I*: „Normalerweise sagt man guten Morgen oder Grüaß di!“ H* I* antwortete daraufhin etwas, was der Kläger aber akustisch nicht verstehen konnte, weil er zu weit weg und hinter einer Sicherheitsscheibe am Fahrersitz saß. An der Haltestelle „L*“, wo H* I* - wie der Kläger wusste - aussteigen musste, hielt der Kläger den Bus an. H* I* wartete bei der hinteren Türe, um dort auszusteigen. Der Kläger öffnete die hintere Türe aber nicht, weil er von H* I* eine Antwort auf seine Frage wollte, warum dieser ihn beim Einsteigen nicht gegrüßt hatte. Der Kläger äußerte eine ihrem Inhalt nach im Berufungsverfahren strittige Bemerkung.

Ob der Kläger sich dabei bereits vom Fahrersitz erhoben hatte und bis zur Absperrung vorgegangen war, ist nicht feststellbar.

H* I* antwortete „Was hast du gesagt?“

H* I* rannte im Gang des Busses nach vorne bis zur an der Rückenlehne der ersten Fahrgastsitzreihe waagrecht angebrachten, den Gang überspannenden, rot-weiss-roten Nylonbandabsperrung. Die Beiden standen sich Auge in Auge gegenüber, zwischen ihnen das Nylonabsperrband. H* I* sagte zum Kläger: „B* machst du Probleme?“

In der Folge kam es zu im Berufungsverfahren zum Teil strittigen gegenseitigen Tätlichkeiten.

H* I* beteiligte sich an diesem gegenseitigen Schlagabtausch, indem er dem Kläger mit der rechten Faust gegen sein linkes Unterkiefer schlug, wodurch dieser in der Folge einen Tinnitus, Kopfschmerzen mit Schwindel und eine HWS Distorsion erlitt.

H* I* rief seinen Vorgesetzten A* M* an und sagte ihm er solle schnell in die Garage kommen, weil der Kläger in geschlagen habe. Wer zuerst geschlagen hatte sagte I* nicht.

Kurze Zeit später rief auch der Kläger A* M* an und sagte ihm, dass H* I* auf ihn losgegangen sei und es nicht sein könne, dass H* I* von hinten nach vorne komme und ihm eine auflege. Der Kläger sagte zu M*, dass er sich gewehrt habe und er H* I* auch geschlagen habe.

A* M* hielt mit dem Geschäftsführer der Beklagten, Mag. N*, Rücksprache und berichtete ihm, dass beide Mitarbeiter behaupteten sich gegenseitig geschlagen zu haben und dass H* I*´s Lippe blutete.

Daraufhin beschloss die Beklagte die Dienstverhältnisse mit dem Kläger und H* I* sofort zu beenden. Dies teilte A* M* unmittelbar nach dem Vorfall dem Kläger und H* I* mit. Zeitgleich übergab er dem Kläger ein Schreiben mit folgendem Inhalt: (Beilage ./C)

„(…) Fristlose Entlassung

Der Arbeitnehmer B* A* wird hiermit, wie bereits persönlich mündlich am 23.01.2021 mitgeteilt, per sofort fristlos entlassen.

Entlassungsgrund: Schlagabtausch mit Arbeitskollegen

F*, am 23.01.2021 (…)“

Das gegen die Beschuldigten H* I* und den Kläger wegen § 83 StGB eingeleitete Strafverfahren wurde gemäß § 190 Z 2 StPO eingestellt.

[…]

Zwischen dem Kläger und H* I* gab es bereits vor dem Vorfall vom 23.1.2021 Meinungsverschiedenheiten und verbale Auseinandersetzungen, wie oft und von wem ausgehend ist nicht feststellbar. Die Beklagte trug den beiden Mitarbeitern daher auf, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen und sich in Ruhe zu lassen.

H* I* hat seine Entlassung ebenfalls beim Landesgericht Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht angefochten. Dort schlossen die Parteien einen Vergleich wonach das Arbeitsverhältnis zum 23.1.2021 einvernehmlich beendet wurde.

Der Betrieb der Beklagten ist betriebsratspflichtig. Der Betriebsrat wurde rechtzeitig über die Entlassung des Klägers in Kenntnis gesetzt. Er hat keine Stellungnahme dazu abgegeben.

Die (letztgültige) Klagsforderung ist der Höhe nach mit folgenden Beträgen unstrittig:

Kündigungsentschädigung brutto EUR 2.964,42

Urlaubszuschuss brutto EUR    228,03

Weihnachtsgeld brutto EUR    288,03

insgesamt EUR 3.420,48

Mit der am 29.1.2021 beim Erstgericht eingelangten und im Schriftsatz ON 12 - von der ursprünglich erhobenen Entlassungsanfechtung (die in der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 10.8.2021 bereits um ein Eventualbegehren auf Leistung erweitert worden war [ON 11 S 6]) - auf ein Leistungsbegehren geänderten Klage begehrt der Kläger brutto EUR 3.420,48 s.Ng. mit der Behauptung (zum Leistungsbegehren), er sei am 23.1.2021 unberechtigt entlassen worden, weil er tatsächlich keinen Entlassungsgrund gesetzt habe. Er habe während der 11 jährigen Dienstzeit weder eine schriftliche noch eine mündliche Abmahnung erhalten, sei nie zu spät zur Arbeit erschienen und habe seinen Dienst immer zur vollen Zufriedenheit der Beklagten verrichtet. Er habe nie Schäden an Bussen oder Arbeitsmaterialien verursacht und sei immer bereit gewesen, Einspringdienste zu verrichten, wenn dies erforderlich gewesen wäre.

Am 23.1.2021 sei der Kläger von H* I*, einem anderen bei der Beklagten beschäftigten Autobuslenker, tätlich attackiert worden.

H* I* sei grußlos durch den hinteren Eingang in den Bus eingestiegen und habe auch auf die zweimaligen Aufforderungen des Klägers, dass man normalerweise einen Morgengruß entbiete, nicht reagiert. Die Antwort des H* I* habe der Kläger aufgrund der pandemiebedingt angebrachten Sicherheitsscheiben nicht verstanden. Bei der J* F* L* habe er den Bus angehalten und nur die vordere Türe geöffnet, weil er H* I* fragen habe wollen, warum er ihn nicht gegrüßt habe. Dazu sei er vom Fahrersitz aufgestanden, habe die Sicherheitsglastüre geöffnet und sei bis zur Absperrung bei der ersten Fahrgastsitzreihe nach hinten gegangen. Von dort aus habe er H* I* erneut gefragt, warum er nicht grüßen könne. Daraufhin sei dieser wie ein „Kugelblitz“ nach vorne gestürmt, habe seine Arbeitstasche auf die zweite Sitzreihe geworfen und sei ganz knapp an den Kläger herangetreten. Deshalb habe er I* mit beiden Händen zurückgeschoben, um Abstand zu gewinnen. H* I* sei daraufhin nach hinten ausgewichen und habe gleichzeitig mit seiner rechten Faust ausgeholt und diese dem Kläger mit voller Wucht gegen den linken Unterkiefer geschlagen. Der Kläger habe sich nur verteidigt. Er habe keinen Anlass für die Angriffe gegeben. Der Kläger habe sich im Bereich des Unterkiefers verletzt und einen Tinnitus sowie Kopfschmerzen mit Schwindel erlitten.

Die Beklagte bestreitet, beantragt kostenpflichtige Klagsabweisung und wendet - soweit für das Verständnis der Entscheidung über das Leistungsbegehren noch relevant - ein: Der Kläger und H* I* seien von der Geschäftsleitung wiederholt aufgefordert worden, interne Streitigkeiten und verbale Auseinandersetzungen, zu denen es bereits wiederholt gekommen sei, zu unterlassen. Die Verkehrsleitung der Beklagten habe darauf geachtet, dass sich die beiden aufgrund unterschiedlicher Dienstzeiten nicht persönlich antreffen. Dennoch sei es zwischen den beiden ständig zu verbalen Auseinandersetzungen gekommen. Am 17.12.2019 habe H* I* aufgrund eines solchen Vorfalls dienstfrei gestellt werden müssen, am 23.1.2021 sei der ständige Streit eskaliert. H* I* sei auf dem Weg zum Dienstantritt bei der J* K*platz beim hinteren Eingang in den Bus eingestiegen. Gegenseitig seien keine Grußworte erfolgt. Bei der J* F* L* habe der Kläger den Bus angehalten, aber die Hintertüre nicht geöffnet, sodass es beim Aussteigen des H* I* durch die Vordertür zunächst zu einer verbalen und letztlich zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung gekommen sei. Beide hätten sich gegenseitig beschimpft und mit Fäusten aufeinander eingeschlagen. Beide hätten den Vorfall bei einem Mitarbeiter der Beklagten gemeldet. Aufgrund dieses untragbaren Verhaltens und der tätlichen Auseinandersetzung sowie des Umstands, dass beide Mitarbeiter den Vorfall jeweils bei der O* F* wegen vorsätzlicher Körperverletzung angezeigt hätten, habe die Beklagte gegenüber beiden Mitarbeitern die fristlose Entlassung ausgesprochen. Diese Entlassung sei auch von H* I* mit Klage bekämpft worden. In diesem Verfahren habe H* I* den Behauptungen des Klägers, dieser habe sich nur aus Notwehr verteidigt, widersprochen und den hier von der Beklagten vertretenen Ablauf vorgetragen. In diesem Verfahren sei es zu einem Vergleich gekommen. Das strafbare Verhalten des Klägers während der Dienstzeit in einem öffentlichen Bus der Beklagten sei unverantwortlich, untragbar und rechtfertige die Entlassung.

Mit dem bekämpften Urteil wies das Erstgericht das Klagebegehren für den Kläger kostenpflichtig ab. Diesem Erkenntnis legte das Erstgericht den eingangs der Berufungsentscheidung wiedergegebenen, im Berufungsverfahren unstrittigen Sachverhalt zugrunde. Darüber hinaus gelangte das Erstgericht ua in Würdigung des unmittelbaren Eindrucks der beiden Streitbeteiligten zu folgenden weiteren im Rechtsmittelverfahren umkämpften Urteilsannahmen:

[a.] „Der Kläger rief nach hinten zu H* I*: ‚Du Trottel musst guten Morgen sagen!‘ … und der Kläger wiederholte: ‚Du Trottel musst guten Morgen sagen!‘“

[b.] „In der Folge kam es zwischen den beiden zu einem gegenseitigen Schlagabtausch. dabei ist nicht feststellbar, wer zuerst wen wie angegriffen und/oder geschlagen hat.

[…] Der Kläger beteiligte sich an diesem gegenseitigen Schlagabtausch, indem er den H* I* am Hals würgte, ihm mit der Faust ins Gesicht schlug, dabei traf der Schlag des Klägers die Lippe, welche dadurch aufplatzte und blutete. Weiters drückte der Kläger den H* I* in den Sitz, wo dieser in Kauerstellung ging. Dabei versuchte der Kläger den H* I*, der seine Hände schützend vor sein Gesicht hielt, zu schlagen. Er traf dabei die Hände des H* I*, wodurch dieser sich am rechten Daumen und am Rücken verletzte. Der Kläger drückte ihn in den Sitz und drückte ihm seinen Ellenbogen ins Genick, sodass sich H* I* nicht mehr bewegen konnte. Dergestalt fixierte der Kläger den H* I* ca 20 Sekunden lang. Dann ließ der Kläger wieder von H* I* ab, nahm die Tasche des H* I*, warf sie zur geöffneten vorderen Türe hinaus auf die Straße und sagte zu H* I*: ‚Schau dass du hinauskommst!‘“

In rechtlicher Beurteilung vertrat das Erstgericht die Auffassung, dass die Beschimpfung mit der Bezeichnung „Trottel“ und die während des Dienstes geführte tätliche Auseinandersetzung inklusive eines Schlags mit Verletzungsfolgen gegen einen mitbeschäftigten Arbeiter zur Entlassung nach § 82 lit g GewO 1859 berechtigte, weil für die Beklagte unter den konkreten Umständen die Weiterbeschäftigung unzumutbar gewesen sei.

Im Rahmen der Kostenentscheidung führte das Erstgericht (zutreffend) aus, dass im ersten Verfahrensabschnitt bis zur Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 10.8.2021 nur eine Entlassungsanfechtung streitgegenständlich gewesen sei und daher gemäß § 58 Abs 1 ASGG ein wechselseitiger Kostenersatzanspruch nicht in Betracht komme. Mit dem danach in das Verfahren eingebrachten Leistungsbegehren sei die Beklagte obsiegt und habe - in teilweiser Berücksichtigung der Einwendungen des Klägers - einen Kostenersatzanspruch in Höhe von EUR 1.965,41.

Gegen diese Entscheidung wendet sich nunmehr die (rechtzeitige) Berufung des Klägers aus den Rechtsmittelgründen der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung sowie der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die bekämpfte Entscheidung im Sinn einer vollständigen und kostenpflichtigen Klagsstattgebung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Rückverweisungsantrag gestellt (ON 24 S 5).

In ihrer (fristgerechten) Berufungsbeantwortung beantragt die Beklagte , dem gegnerischen Rechtsmittel kostenpflichtig den Erfolg zu versagen (ON 25 S 4).

Nach Art und Inhalt der geltend gemachten Anfechtungsgründe war die Anberaumung einer öffentlichen, mündlichen Berufungsverhandlung entbehrlich. Über das Rechtsmittel war daher in nichtöffentlicher Sitzung zu befinden (§§ 2 Abs 1 ASGG, 480 Abs 1 ZPO). Dabei erwies es sich aus nachstehenden Erwägungen im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsbegehrens als berechtigt:

Rechtliche Beurteilung

A) Zur Beweisrüge:

1.: Die Berufung bekämpft in ihrer Beweisrüge die oben in der Darstellung des erstinstanzlichen Sachverhalts mit [a.] und [b.] bezeichneten kursiv gedruckten Passagen. Das Rechtsmittel verlangt anstelle dessen die in ON 24 S 2 und 3 wiedergegebenen Ersatzfeststellungen, auf deren Wiederholungen aus verfahrensökonomischen Gründen hier verzichtet wird.

2.: Im Rahmen der Begründung der Beweisrüge stützt sich der Kläger zusammengefasst darauf, das Erstgericht hätte als Grundlage seiner bekämpften Feststellungen nur die „zeitfern“ vor dem Urteil stattgefundene Einvernahme des Zeugen H* I* vor der P* F* vom 2.2.2021 herangezogen, die eine bloße Schutzbehauptung darstellte und die Angaben des Klägers als Partei nicht hinreichend gewichtet. Mit diesen Argumenten vermag die Berufung ihrem Standpunkt auf der Tatsachenebene aber nicht zum Erfolg zu verhelfen:

3.: Vorab festzuhalten ist, dass auch im Rahmen der Behandlung einer Beweisrüge einer Berufung nur zu überprüfen ist, ob das Erstgericht die ihm vorgelegten Beweisergebnisse nach der Aktenlage schlüssig gewürdigt hat, nicht aber, ob seine Feststellungen mit der objektiven Wirklichkeit tatsächlich übereinstimmen (3 Ob 2004/96v; OLG Wien 10 Rs 160/11i, SVSlg 62.438; OLG Innsbruck 25 Rs 135/12g, SVSlg 62.419; A. Kodek in Rechberger/Klicka ZPO 5 [2018] § 482 Rz 6 aE; Petschek/Stagel Der österreichische Zivilprozess [1963] 367). Gemäß den §§ 2 Abs 1 ASGG, 272 ZPO obliegt die Beweiswürdigung primär dem erkennenden Gericht. Dieses hat nach sorgfältiger Überzeugung unter Berücksichtigung der Ergebnisse des gesamten Verfahrens zu beurteilen, ob eine Tatsache als erwiesen anzusehen ist oder nicht. Der bloße Umstand, dass nach den Beweisergebnissen allenfalls auch andere Feststellungen möglich gewesen wären, oder dass in den Akten einzelne Beweisergebnisse existieren, die für den Prozessstandpunkt des Berufungswerbers sprechen, reicht im Allgemeinen noch nicht aus, eine unrichtige oder bedenkliche Beweiswürdigung mit dem Ergebnis aufzuzeigen, dass die erstinstanzlichen Feststellungen abgeändert werden müssen (OLG Wien 133 R 80/18i ErwGr 2.1. [veröffentlicht unter RIS Justiz RW0000815]; LG Eisenstadt 13 R 93/03d, RIS Justiz RES0000012; OLG Innsbruck wie vor). Die Beweisrüge muss also überzeugend darlegen, dass die getroffenen Feststellungen zwingend unrichtig sind (OLG Wien 8 Rs 47/12b, SVSlg 62.416; 7 Ra 80/11b, ZAS-Judikatur 2012/95; LG Feldkirch 3 R 11/17s; 2 R 99/13v) oder wenigstens bedeutend überzeugendere Beweisergebnisse für andere Feststellungen vorliegen (OLG Wien wie vor; LGZ Wien 38 R 161/14d, MietSlg 66.718; LG Feldkirch wie vor; vgl auch LG Linz 15 R 201/09y, EFSlg 124.958). Auch das Berufungsgericht ist im Rahmen der Überprüfung der vom Erstgericht getroffenen Sachverhaltsfeststellungen nicht dazu verpflichtet, sich mit jedem einzelnen Beweisergebnis und/oder mit jedem einzelnen Argument des Berufungswerbers auseinanderzusetzen (RIS Justiz RS0043162; OLG Innsbruck zB 2 R 72/18g ErwGr II. 1.2.). Solche zumindest bedeutend überzeugendere Beweisergebnisse für die in der Berufung gewünschten anderen Feststellungen vermag die Berufung aber aus nachstehenden Erwägungen nicht aufzuzeigen:

4.: Unrichtig ist zunächst der Standpunkt der Berufung, das Erstgericht hätte nur die Angaben des Zeugen H* I* vor der P* F* vom 2.2.2021 verwertet. Wie sich aus der Beweiswürdigung des Erstgerichts eindeutig ergibt, hat dieses unter anderem zutreffend erwähnt, dass sich der Zeuge H* I* in der Einvernahme vor dem Erstgericht in der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 3.12.2021 ua zusätzlich auf diese ihm im Detail vorgehaltenen Angaben berufen, diese als richtig bezeichnet und zum Gegenstand seiner gerichtlichen Vernehmung gemacht hat (ON 17 S 16). Es kann daher keine Rede davon sein, dass sich das Erstgericht nur auf eine mittelbare Einvernahme dieses Zeugen gestützt hätte (ON 24 S 2 vorletzter Absatz).

5.: Nicht nachvollziehbar ist das Argument der Berufung, der Angabe des Zeugen H* I* sei schon deshalb kein Glaube zu schenken, weil dieser - gemeint bei der P* F* - „zuerst einen Rechtsanwalt konsultiert hat, der auch bei dieser Einvernahme teilnahm“ (aaO). Zu Ende gedacht würde dieser Gedanke bedeuten, dass einerseits entgegen den Grundsätzen der freien Beweiswürdigung nach den §§ 2 Abs 1 ASGG, 272 ZPO eine Art - tatsächlich nicht existierende ( Rechberger in Fasching/Konecny ZPO³ III/1 [2017] § 272 Rz 4 mwH) - „bindende Beweisregel“ eingeführt würde, nach dem den Angaben einer Person bloß deshalb, weil sie vorher einen Rechtsanwalt konsultierte und dieser der Vernehmung beiwohnte, immer ein geringerer Beweiswert zukäme als den Angaben einer Person, auf die diese Kriterien nicht zuträfen. Eine nähere Stellungnahme zu dieser - von der Berufung wohl selbst gar nicht zu Ende gedachten - Argumentation erübrigt sich, weil gesetzliche/bindende Beweisregeln nicht existieren.

6.: Schließlich übergeht die Berufung die Tatsache, dass der Zeuge H* I* anlässlich seiner unmittelbaren gerichtlichen Einvernahme vor dem Erstgericht (ON 17 S 15 ff) immerhin der Wahrheitspflicht des § 338 Abs 1 ZPO und - im Fall ihrer Verletzung - der strafgerichtlichen Sanktion des § 288 StGB unterlag, während der Kläger im Rahmen seiner Einvernahme als Partei diesen Pflichten und Sanktionen (mangels Beeidigung) nicht unterworfen war. Wenn das Erstgericht daher den Angaben des Zeugen - der im Fall einer zumindest bedingt vorsätzlichen Falschaussage auch strafgerichtliche Konsequenzen befürchten musste - gefolgt ist, findet dies die Billigung des Berufungssenats.

7.: Abschließend ist noch zu bemerken, dass das Erstgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung in einem ganz erheblichen Umfang auch den persönlichen Eindruck , den der Kläger gegenüber dem erkennenden Senat anlässlich seiner Parteienvernehmung vermittelt hat, in die freie Beweiswürdigung des § 272 ZPO (hier iVm § 2 Abs 1 ASGG) einfließen ließ (ON 22 S 8). Es gehört zum Wesen der freien richterlichen Beweiswürdigung, dass die Tatsacheninstanz den persönlichen Eindruck, den sie von den vernommenen Personen gewinnt, aufgrund ihrer persönlichen Überzeugung verwertet und sich für jene Darstellung entscheidet, die nach ihrer Gesamteinschätzung eine höhere Glaubwürdigkeit beanspruchen kann (RIS Justiz RS0043175 [T1]; OLG Wien 133 R 80/18i ErwGr 2.2. [veröffentlicht unter RIS Justiz RW0000815]; Klauser/Kodek ZPO 18 [2018] § 272 ZPO E 24/1). Auf die aufgrund des persönlichen Eindrucks des Klägers gewonnenen Argumente des Erstgerichts zur spürbaren Aggression des Klägers gegenüber dem Zeugen geht die Berufung nicht ausreichend ein, sodass dieser für die richtige Beweiswürdigung des Erstgerichts sprechende maßgebliche Aspekt durch die Beweisrüge gar nicht widerlegt werden kann.

8.: Gesamthaft betrachtet muss daher die Beweisrüge der Berufung versagen.

B) Zur Rechtsrüge:

1.: Im ersten Schwerpunkt seiner Rechtsrüge vertritt der Kläger zusammengefasst den Standpunkt, H* I* sei vom Schutzzweck des § 82 lit g GewO 1859 nicht umfasst, weil er „zum Vorfallszeitpunkt nicht“ mit dem Kläger zusammengearbeitet habe, sondern „lediglich als Fahrgast im Bus“ mitgefahren sei (ON 24 S 5). Diesem Standpunkt vermag sich der Berufungssenat aus folgenden Überlegungen nicht anzuschließen:

1.1.: Richtig ist, dass der vom § 82 lit g GewO 1859 geschützte Personenkreis auf die dort Genannten beschränkt ist: Dies bedeutet, dass nicht beim selben Arbeitgeber beschäftigte Personen , etwa Lieferanten oder Geschäftspartner, nicht den „übrigen Hilfsarbeitern“ im Sinn des § 82 lit g GewO 1859 gleichgehalten werden können, weil den Arbeitgeber diesen Personen gegenüber nicht dieselben Fürsorge- und Schutzpflichten treffen, sondern nur die aus den sonstigen, nicht durch einen Arbeitsvertrag begründeten Vertragsbeziehungen entstehenden Sorgfaltspflichten wie etwa im Rahmen von Werk-, Kauf- oder Bestandverträgen (8 ObA 22/19x ErwGr 2.; 9 ObA 207/90). Damit harmoniert auch der Entlassungstatbestand des § 27 Z 6 AngG, in dem der geschützte Personenkreis ebenfalls auf den Dienstgeber, dessen Stellvertreter, deren Angehörige und Mitbedienstete beschränkt ist, sodass Kunden nicht darunter fallen (8 ObA 67/18p). Der Umstand, dass H* I* zum Vorfallzeitpunkt am 23.1.2021 ebenfalls im Betrieb der Beklagten als Autobusfahrer beschäftigt war, ergibt sich aber eindeutig aus den Urteilsfeststellungen (ON 22 S 5 f). Die Tatsache, dass H* I* den vom Kläger gelenkten Autobus der Beklagten „nur“ zur Fahrt an die eigene Arbeitsstelle bei der Beklagten benutzte (ON 22 S 5), ändert daher nichts daran, dass es sich bei ihm aus der Sicht des Klägers um einen von § 82 lit g GewO 1859 erfassten „übrigen Hilfsarbeiter“ handelte. Dass eine unmittelbare Zusammenarbeit gefordert wäre, ergibt sich aus dem Gesetz nicht. Die Berufung zielt möglicherweise auf den Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis ab. Auch diese liegt aber vor.

1.2.: Da § 82 lit g GewO 1859 unter anderem dazu dient, die Ruhe und Ordnung im Betrieb aufrecht zu erhalten (8 ObA 22/19x ErwGr 1 und 3.1.; RIS Justiz RS0060920), wird bei allen Begehungsarten (Tatbeständen) des § 82 lit g GewO 1859 immerhin ein Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis des Entlassenen verlangt (8 ObA 13/13z; RIS Justiz RS0060920). Die Tatsache, dass es zwischen dem Kläger und H* I* bereits vor dem 23.1.2021 Meinungsverschiedenheiten und verbale Auseinandersetzungen gab, wobei nicht feststellbar ist, wie oft und von wem diese ausgingen, und die Beklagte beiden Mitarbeitern daher auftrug, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen und sich in Ruhe zu lassen (ON 22 S 7 drittletzter Absatz), ändert an der Mitarbeitereigenschaft des H* I* und - wie noch gleich darzustellen sein wird - auch am Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis nichts, weil es trotz dieser Vorfälle und dieser Anordnungen der Beklagten neuerlich zu dem Vorfall vom 23.1.2021 an der Arbeitsstelle des Klägers kam. Aus der Sicht des Klägers stellte sich die Auseinandersetzung mit H* I* jedenfalls als Teil der von ihm geschuldeten Arbeitsleistung gegenüber der Beklagten dar, sodass der Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis unmittelbar gegeben ist. Selbst ein außerdienstliches im Sinn des § 82 lit g GewO 1859 tatbeständliches Verhalten des Dienstnehmers kann eine mittelbare oder unmittelbare Auswirkung auf das Dienstverhältnis haben (RIS Justiz RS0060920). Im Verfahren 8 ObA 13/13z wurde dieser Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis nur deshalb verneint, weil der entlassene Arbeitnehmer zwar einen anderen Arbeitnehmer des Betriebs mit einem Faustschlag verletzt hatte, die Auseinandersetzung aber in der Freizeit erfolgte und nicht in wenigstens mittelbarem Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis ( Kuderna Entlassungsrecht² [1994] 139 f). Im Verfahren 14 ObA 31/87 wurde der zumindest mittelbare Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis deshalb verneint, weil die Auseinandersetzung zwischen zwei Arbeitern in einem vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Arbeiterwohnheim und damit in einem der Privatsphäre der Arbeitnehmer zuzurechnenden Bereich erfolgte, wobei es der Oberste Gerichtshof für belanglos hielt, ob sich das Arbeiterwohnhaus auf dem Betriebsgelände des Arbeitgebers befand (wie das dort zutraf) oder nicht. Im vorliegenden Fall erfolgte die verbale und tätliche Auseinandersetzung vom 23.1.2021 jedenfalls in einem Autobus der Beklagten , der vom Kläger in Ausübung seiner geschuldeten Arbeitsleistung auf der sogenannten Linie 1 gelenkt wurde und den der wie erwähnt zu dieser Zeit ebenfalls bei der Beklagten beschäftigte H* I* für auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle bei der Beklagten benützte (um seinen Autobuslenkdienst bei der Beklagten an der Haltestelle „L*“ um 8:30 Uhr aufzunehmen). Dem Erstgericht ist daher in der implizierten Erwägung beizupflichten, dass unter diesen Umständen auch der in der Rechtsprechung geforderte Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis nicht bestritten werden kann.

1.3.: Das erste Argument der Berufung schlägt daher nicht durch.

2.: In einem zweiten Schwerpunkt ihrer Rechtsausführungen wendet sich der Berufungswerber dagegen, dass dem Kläger kein schuldhaftes Verhalten nachgewiesen worden sei (ON 24 S 4). Dieser Standpunkt erweist sich mit nachstehender Argumentation als teilweise berechtigt:

2.1.: Die in § 82 lit g erster Tatbestand GewO 1859 genannte „grobe Ehrenbeleidigung“ entspricht der erheblichen Ehrverletzung im Sinn des § 27 Z 6 dritter Tatbestand AngG ( Burger-Ehrnhofer/Drs Beendigung von Arbeitsverhältnissen [2014] 109). Daher sind erhebliche Beschimpfungen, die bei einem durchschnittlich empfindsamen Menschen mit dem sofortigen Abbruch einer privaten Bekanntschaft/Beziehung quittiert werden würden, jedenfalls als solche „grobe Ehrenbeleidigungen“ zu verstehen. Demgemäß hat der Oberste Gerichtshof zB im Verfahren 8 ObA 64/19y ErwGr 2. die Bezeichnung „Arschloch“ , „schwul“ und „kleiner Mann“ jedenfalls als solche grobe Ehrenbeleidigungen aufgefasst. Die vom Kläger auch hier zweimal geäußerte Bezeichnung „Trottel“ rechtfertigt nach der Entscheidung des OLG Wien vom 25.7.2006, 7 Ra 74/06p, jedenfalls auch eine Entlassung nach § 82 lit g erster Tatbestand GewO 1859 (zustimmend kommentiert zB in Burger-Ehrnhofer/Drs 110). Dazu kommt noch, dass tätliche Ehrenbeleidigungen durch Arbeiter zwar nicht unter den zweiten Tatbestand des § 82 lit g GewO 1859 (Körperverletzung), wohl aber unter jenen der groben Ehrenbeleidigung im Sinn des ersten Tatbestands dieser Bestimmung fallen und daher ebenfalls eine Entlassung rechtfertigen können ( Burger-Ehrnhofer/Drs 110). Demgemäß werden Tätlichkeiten wie unter anderem Ohrfeigen oder Fußtritte in der Regel als grobe Ehrenbeleidigungen qualifiziert (8 ObA 21/06f; 8 ObA 221/02m; RIS Justiz RS0060957; RS0029821). Die Schläge in das Gesicht (die eine aufgeplatzte Lippe zur Folge hatten), das Würgen am Hals und das Drücken des Ellbogens in das Genick des H* I*, die das Erstgericht festgestellt hat (ON 22 S 6 fünfter Absatz), stellen daher jedenfalls auch „grobe Ehrenbeleidigungen“ im Sinn des ersten Tatbestands des § 82 lit g GewO 1859 dar.

2.2.: Richtig ist allerdings der Einwand der Berufung, wonach § 82 lit g GewO 1859 in allen drei Erscheinungsformen - ebenso wie der Entlassungstatbestand des § 27 Z 6 AngG - ein vorsätzliches Handeln des Arbeitnehmers verlangt ( Burger-Ehrnhofer/Drs 109, 111; Kuderna 140). In der bekämpften Entscheidung fehlt es jedoch sowohl was die zweifache Beleidigung mit dem Schimpfwort „Trottel“ als auch was die (zumindest) grobe Ehrenbeleidigung durch Tätlichkeiten anlangt, an Feststellungen zum - hier relevanten - zumindest (bedingten) Beleidigungs-/Tätlichkeitsvorsatz des Klägers. Verlangt ein Entlassungstatbestand Vorsatz, muss der Arbeitnehmer zu seiner (vollen) Verwirklichung alle Tatumstände erkennen , aus denen rechtlich die Erfüllung aller Tatbestandselemente abgeleitet wird und deren Herbeiführung auch gewollt haben . Denn der Arbeitnehmer muss den Entlassungsgrund mit Wissen und Willen im Sinn des § 1294 ABGB begangen haben ( Kuderna 71). Folglich muss ihm auch die Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens - anders formuliert der Verstoß gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten im weiteren Sinn - bewusst gewesen sein (RIS Justiz RS0060748). Für den Vorsatz ist auf § 5 Abs 1 StGB abzustellen. Es genügt, dass der Täter die Verwirklichung eines Sachverhalts, der einem gesetzlichen Entlassungstatbestand (wenn man so will: „Tatbild“) entspricht, ernstlich für möglich hält und sich mit ihr abfindet ( Kuderna 72; 9 ObA 67/18w ErwGr II. 5.; 9 ObA 23/06g ErwGr 5.). Der Arbeiter („Täter“) hat die Verwirklichung des Entlassungstatbestands („Tatbildverwirklichung“) ernstlich für möglich gehalten, wenn er das mit seinem Handeln verbundene Risiko dieser Verwirklichung erkannt und als so hoch veranschlagt hat, dass er sie als naheliegend ansieht. Damit kommt es auf die vom Arbeiter („Täter“) erkannte objektive Größe und Nähe der Gefahr der Verwirklichung des Entlassungstatbestands an. Nicht jede Gefahr einer solchen genügt, sondern nur eine solche, die als akut eingestuft wird. Das Erfordernis der Ernstlichkeit des Für-möglich-Haltens betrifft demnach den Grad der Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung des Entlassungstatbestands („Tatbildverwirklichung“; Stricker in Leukauf/Steininger StGB 4 § 5 Rz 16). Die Feststellung, dass der Täter die Pflichtwidrigkeit ernstlich für möglich gehalten hat, besagt aber nur, dass er die für den Vorsatz erforderliche Wissenskomponente erfüllt hat, ohne etwas über die gleichermaßen erforderliche Willenskomponente in Ansehung des Entlassungstatbestands (der „Tatbildverwirklichung“) auszusagen. Für sich allein kann sie daher Ausgangspunkt sowohl für bedingt vorsätzliches als auch für bewusst fahrlässiges Handeln sein. Der Unterschied liegt erst in der Fortsetzung des Willensbildungsprozesses: Entschließt sich der Arbeiter („Täter“) dennoch zur Tat, weil er einen den Entlassungstatbestand (das „Tatbild“) verwirklichenden Ereignisablauf hinnehmen gewillt ist, weil er sich mithin mit diesem abfindet, dann handelt er bedingt vorsätzlich (vgl 9 ObA 23/06g ErwGr 5.), erst damit ist auch die erforderliche Willensreaktion zwischen einem Verhalten und der Pflichtwidrigkeit gegeben. Das Sich-Abfinden mit der Verwirklichung des Entlassungstatbestands kennzeichnet für den voluntativen Bereich die Mindestanforderungen für das Vorliegen des Vorsatzes ( Stricker Rz 16a). Die Abgrenzung des bedingten Vorsatzes von der bewussten Fahrlässigkeit (§ 6 Abs 2 StGB) vollzieht sich somit vorwiegend auf der Ebene der Willenskomponente: Will der Täter den nachteiligen Ereignisablauf hinnehmen, findet er sich mit ihm ab, dann handelt er bedingt vorsätzlich. Will er das nicht, sondern vertraut er (wenn auch leichtfertig) darauf, dass es nicht zur Verwirklichung des Entlassungstatbestands kommen werde, dann handelt er bewusst fahrlässig (14 Ob 129/96 zum Vertrauen auf einen tatsächlich geänderten Dienstplan). Bloßer Unbedacht oder Leichtsinn, Gedankenlosigkeit oder falsche Hoffnung reichen für die Annahme bedingten Vorsatzes nicht aus ( Stricker Rz 17; zu alledem auch OLG Innsbruck 13 Ra 8/22g). Dass diese Äußerungen/Tätlichkeiten wie erforderlich jedenfalls auch vorsätzlich ( Berger-Ehrnhofer/Drs 109, 111) in Beleidigungs(Tätlichkeits)absicht im Sinn der dargestellten Voraussetzungen gesetzt wurden, ergibt sich jedoch nicht hinreichend klar aus den Urteilsfeststellungen erster Instanz: Das Erstgericht hat festgestellt, dass der Kläger beim Halt an der Haltestelle „Grüt“, an der - wie dem Kläger bekannt war - H* I* aussteigen musste, die hintere Bustür, an der dieser wartete, nicht öffnete, weil er von H* I* eine Antwort auf seine Frage erzwingen wollte, warum dieser ihn beim Einsteigen nicht gegrüßt hatte (ON 22 S 5 letzter Absatz). Dass der Kläger unter anderem mit dem Nichtöffnen der Tür einen Gruß von H* I* „erzwingen“ wollte, ergibt sich außerdem aus den - insoweit als „dislozierte Tatsachenfeststellungen“ zu wertenden - Ausführungen in der Beweiswürdigung (ON 22 S 7 letzter Absatz). Mangels solcher Tatsachenfeststellungen zur Beleidigungs(Tätlichkeits) absicht war daher die bekämpfte Entscheidung aufzuheben und die Rechtssache - weil durch eine Beweiswiederholung vor dem Berufungsgericht eine erheblich höhere Kostenbelastung für die Parteien resultieren und ein wesentlicher Teil des Prozesses in die zweite Instanz verlagert würde - aufzuheben und die Arbeitsrechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung zurückzuverweisen (§§ 2 Abs 1 ASGG, 496 Abs 3 ZPO).

3.: Im erneuerten Verfahren wird außerdem noch auf den sinngemäßen bereits in erster Instanz erhobenen Einwand des Klägers einzugehen sein, bei der Bezeichnung „Trottel“ handle es sich im konkreten Fall um eine nicht tatbeständliche bloße Unmutsäußerung . In rechtlicher Hinsicht ist dazu festzuhalten, dass einer groben Ehrenbeleidigung im Sinn des § 82 lit g erster Tatbestand GewO 1859 nur dann das jedem Entlassungstatbestand immanente Element der Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung fehlt, wenn die Äußerung infolge einer gerechtfertigten Entrüstung des entlassenen Arbeitnehmers über ein unmittelbar vorausgegangenes Verhalten des Beleidigten in einer den Umständen nach entschuldbaren oder wenigstens verständlichen Weise erfolgt. Nur in diesem Fall einer verständlichen Erregung oder Entrüstung ist die Schuldintensität derart gering, dass dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des betreffenden Arbeitnehmers zumutbar ist (RIS Justiz RS0060929). Dies gilt sinngemäß auch für die hier festgestellten Beleidigungen durch Tätlichkeiten. Selbst wenn man aber hier berücksichtigt, dass sich H* I* nach Betreten des Busses durch die hintere Türe wortlos auf den ersten Sitz links nach dem hinteren Eingang setzte und den Kläger nicht - wie dieser offenbar voraussetzte - grüßte, kann dieses Verhalten keineswegs eine Rechtfertigung für das nachfolgende Verhalten des Klägers - nämlich die zweimalige Beleidigung mit dem Schimpfwort „Trottel“ und die späteren groben Ehrenbeleidigungen durch Schläge, Würgen und Attackieren mit dem Ellenbogen im Nacken verstanden werden. Nach den vom Erstgericht getroffenen, insoweit von der Beweisrüge (nach den Beweisergebnissen zu Recht) nicht erfassten Feststellungen kann daher dem dritten und letzten Argument der Berufung nicht beigepflichtet werden, bei den Handlungen des Klägers handle es sich nur um die Weiterbeschäftigung nicht unzumutbar machende gerechtfertigte Entrüstungsreaktionen.

4.: Nur der Vollständigkeit halber sei für das erneuerte Verfahren noch folgende Überlegung eingebracht:

4.1.: Der Entlassungsgrund der Körperverletzung nach § 82 lit g zweiter Tatbestand 1859, dessen Verwirklichung ebenfalls Vorsatz voraussetzt ( Burger-Ehrnhofer/Drs 110; Kuderna 139 f), ist nur ein Spezialtatbestand zum Entlassungstatbestand der Vertrauensunwürdigkeit aufgrund strafbaren Verhaltens im Sinn des § 82 lit d erster Tatbestand GewO 1859, weil Körperverletzungen (§ 82 lit g zweiter Tatbestand) auch ohne dadurch bewirkte Vertrauensunwürdigkeit (§ 82 lit d erster Tatbestand) zur Entlassung berechtigen ( Burger-Ehrnhofer/Drs 110; Kuderna 139). Mangels Feststellung eines auch nur bedingten Verletzungsvorsatzes des Klägers kann von der Verwirklichung dieses - sachlich vorgebrachten - Entlassungstatbestands (§ 82 lit g zweiter Tatbestand GewO 1859) aber derzeit ebenfalls nicht ausgegangen werden. Auch dazu bedarf es noch ergänzender Feststellungen zum allfälligen zumindest bedingten Verletzungsvorsatz des Klägers.

4.2.: Der Entlassungstatbestand des § 82 lit d dritter Tatbestand GewO 1859 „ sonstige strafbare Handlung “ verlangt zu seiner Verwirklichung die Begehung einer nach den Normen des Strafrechts (9 ObA 14/98v) strafbaren Handlung: Dabei ist es egal, ob es sich um ein Privatanklagedelikt (9 ObA 58/10k ErwGr 2.; RIS Justiz RS0060357), um eine verwaltungsbehördlich strafbare Handlung (9 ObA 58/10k ErwGr 1. und 2.; RIS Justiz RS0060397) oder um eine gerichtlich strafbare Handlung handelt (RIS Justiz RS0060357). Daher kommen zur Verwirklichung diese Tatbestands (lit d dritter Tatbestand GewO 1859) sowohl die grobe Ehrenbeleidigung „Trottel“ als auch - insbesondere - die Verletzungshandlungen des Klägers zu Lasten des H* I* in Betracht. Nicht erforderlich ist, dass der Arbeiter wegen der strafbaren Handlung auch tatsächlich verurteilt wird (8 ObA 218/99p; 9 ObA 14/98v; RIS Justiz RS0060397 [T1]; Kuderna 134 f). Es genügt, wenn der Straftatbestand im Zeitpunkt des Ausspruchs der Entlassung verwirklicht wurde (8 ObA 124/02x). Eine Einstellung des Strafverfahrens - oder hier ein Freispruch - hebt daher die Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung genau so wenig zwingend auf (8 ObA 33/97d; RIS Justiz RS0060373) wie die zum Zeitpunkt der Entlassungserklärung noch nicht erfolgte Verurteilung wegen dieses zB gerichtlichen Straftatbestands (8 ObA 32/03v; 8 ObA 124/02x; 9 ObA 14/98v; RIS Justiz RS0116692). Auch dieser Entlassungstatbestand scheitert aber derzeit an den fehlenden Feststellungen der zumindest bedingten Verletzungs-/Beleidigungsabsicht des Klägers anlässlich der vom Erstgericht in ON 22 S 6 insbesondere fünfter Absatz festgestellten Verletzungshandlungen des Klägers.

4.3.: Beim Entlassungstatbestand des § 82 lit d dritter Tatbestand GewO 1859 in der Ausgestaltung „sonstige strafbare Handlungen“ reicht ebenfalls ein strafbares Verhalten gegen Arbeitskollegen (8 ObA 13/03z), aber auch gegenüber Kunden ( Burger-Ehrnhofer/Drs 95; Kuderna 133) oder sonstige Personen (9 ObA 355/93: Ladendiebstähle gegenüber Dritten), sofern sich die Tat zumindest mittelbar auf das Arbeitsverhältnis auswirkt (9 ObA 58/10k ErwGr 3.2.). Zur zumindest mittelbaren Auswirkung auf das Arbeitsverhältnis kann auf die obigen Ausführungen zu B) 1.2. verwiesen werden. Dieser Entlassungstatbestand (§ 82 lit d dritter Tatbestand GewO 1859) ist daher jedenfalls auch dann verwirklicht, wenn man H* I* - so wie die Berufung allerdings vergeblich - lediglich als Kunden der Beklagten einstufen würde.

4.4.: Für die - gegenüber § 82 lit g erster und zweiter Tatbestand GewO 1859 zusätzlich vorzunehmenden - Beurteilung, ob durch eine „sonstige strafbare Handlung“ Vertrauensunwürdigkeit des Arbeitnehmers (§ 82 lit d erster Tatbestand GewO 1859) bewirkt wurde, ist auf die konkreten objektiven Auswirkungen , welche die Tat auf das Arbeitsverhältnis hatte, abzustellen (9 ObA 58/10k ErwGr 3.1.; RIS Justiz RS0114536). Dabei haben sowohl die Tatumstände, die vom Arbeitnehmer verrichtete Arbeit (8 ObA 124/02x; RIS Justiz RS0114536 [T1]), das bisherige Verhalten des Arbeitnehmers (9 ObA 58/10k ErwGr 3.1.; 8 ObA 124/02x; RIS Justiz RS0060363) sowie das Betriebsklima, der Ruf des Arbeitgebers/seines Unternehmens und sonstige Interessen und Belange des Arbeitgebers Berücksichtigung zu finden (9 ObA 58/10x ErwGr 3.1.). Nach den bisher getroffenen Feststellungen hatte der Kläger bereits in der Vergangenheit (vor dem 23.1.2021) Meinungsverschiedenheiten und verbale Auseinandersetzungen mit H* I*, auch wenn nicht festgestellt werden kann, wie oft und von wem diese ausgingen. Jedenfalls trug die Beklagte beiden Mitarbeitern auf, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen und sich in Ruhe zu lassen (ON 22 S 7 drittletzter Absatz). Trotz dieser unmissverständlichen Anweisung ließ sich der Kläger am 23.1.2021 mit dem im hintersten Teil des Autobusses zugestiegenen H* I* neuerlich in eine verbale und tätliche Auseinandersetzung in einem Autobus der Beklagten während der Dienstverrichtung ein: Nach den Feststellungen hat er diese unmittelbar erzwungen: H* I* bestieg den Bus durch die hintere Tür und setzte sich im hinteren Teil des Busses nieder. Er wollte den Autobus auch wieder durch die hintere Eingangstür verlassen und stellte sich dort zum Aussteigen auf. Der Kläger ließ ihn jedoch nicht aussteigen, indem er die hintere Türe nicht öffnete, obwohl offensichtlich war und er demnach erkennen konnte, dass H* I* diese zum Verlassen des Autobusses benützen wollte. Damit zwang er H* I* zu einer Annäherung auf geringe Distanz. Ausgehend von diesen Feststellungen stellt das Verhalten des Klägers daher jedenfalls ein solches dar, das objektiv nach den gewöhnlichen Anschauungen der beteiligten Verkehrskreise Vertrauensunwürdigkeit in dem Sinn bewirkt, dass dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung eines derart aggressiven Mitarbeiters inklusive dem Führen von Autobussen, den Kontakt mit anderen Mitarbeitern und mit (anderen) Fahrgästen auch lediglich für die Kündigungsfrist nicht zugemutet werden konnte.

4.5.: Angemerkt sei im Zusammenhang mit der Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung nur noch, dass H* I* ebenfalls aufgrund desselben Vorfalls vom 23.1.2021 entlassen wurde. Dass diese während des Entlassungsanfechtungsprozesses mit H* I* in eine einvernehmliche Beendigung umgewandelt wurde, schadet der dokumentierten Unzumutbarkeit und der Gleichbehandlung nicht, wenn dies auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass die Beklagte während des Verfahrens den - auch mit den Feststellungen harmonisierbaren - Eindruck gewann, der Kläger sei der Hauptverursacher des Vorfalls. Auch dazu bedarf es jedoch noch ergänzender Feststellungen, weil die Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung jedem Entlassungstatbestand immanente Voraussetzung ist.

5.: Die Kosten entscheidung beruht auf den §§ 2 Abs 1 ASGG, 52 ZPO.

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