JudikaturOLG Innsbruck

4R9/18g – OLG Innsbruck Entscheidung

Entscheidung
13. März 2018

Kopf

Das Oberlandesgericht Innsbruck als Berufungsgericht hat durch den Senatspräsidenten Dr. Hoffmann als Vorsitzenden sowie die Richter Dr. Huber und Dr. Gosch als weitere Mitglieder des Senats in der Rechtssache der klagenden Partei A***** M***** , vertreten durch Dr. Dieter Brandstätter, Rechtsanwalt in Innsbruck, wider die beklagte Partei L***** T***** , vertreten durch Föger Pall Rechtsanwaltspartnerschaft in Wörgl, wegen EUR 748,51 s.A., über die Berufung der beklagten Partei (Berufungsinteresse: EUR 696,96) gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 21.11.2017, 11 Cg 33/17a-14, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird k e i n e Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei zu Handen ihres Vertreters binnen 14 Tagen die mit EUR 210,84 (darin enthalten EUR 35,14 an USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens zu ersetzen.

Die Revision ist gemäß § 502 Abs 2 ZPO jedenfalls u n z u l ä s s i g .

Text

Entscheidungsgründe:

Am 15.5.2015 ereignete sich gegen 17.45 Uhr in Innsbruck auf der Weingartnerstraße auf Höhe Speickweg (Verbindungsweg zwischen Sieglangerufer und Weingartnerstraße) ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker des Fahrzeugs mit dem amtlichen Kennzeichen I***** und R***** als Lenker des Fahrzeugs mit dem amtlichen Kennzeichen I***** beteiligt waren.

Auf Basis des Abschlussberichts des Stadtpolizeikommandos Innsbruck, Verkehrsinspektion, vom 10.6.2015 zu C1/26050/2015 wurde bei der Staatsanwaltschaft Innsbruck zu 83 BAZI 524/15y ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts nach § 88 Abs 1 StGB gegen den Kläger und seinen Unfallsgegner geführt. Das Verfahren gegen den Kläger wurde am 18. Juni 2015 mit der Begründung, dass die Dauer der Gesundheitsstörung des in seinem PKW mitgefahrenen Opfers M***** unter 14 Tagen gelegen habe (§ 88 Abs 2 Z 3 StGB), gemäß § 190 Z 1 StPO eingestellt.

Der gleiche polizeiliche Abschlussbericht wurde auch an die Landespolizeidirektion Tirol übermittelt. Der dort zuständige Referent ***** erließ nach der am 23.6.2015 eingelangten Benachrichtigung der Staatsanwaltschaft Innsbruck von der Einstellung des Verfahrens am 24.6.2015 zu GZ VStV/915300915951/2015 gegen den Kläger eine Strafverfügung folgenden Inhalts:

Sie haben am 15.05.2015 um ca 17.55 Uhr in Innsbruck, Weingartnerstraße 106 Kreuzung Speickweg, den PKW I***** in Richtung Westen gelenkt. Ein Fahrzeuglenker befuhr den Speickweg in Richtung Süden und beabsichtigte an der Kreuzung mit der Weingartnerstraße nach links in diese einzubiegen. Sie missachteten die Rechtsregel, wodurch es zum Zusammenstoß zwischen den beiden Fahrzeugen kam und Ihre im Fahrzeug befindliche Tochter M***** leicht verletzt wurde.

Sie haben dadurch folgende Rechtsvorschrift verletzt: § 19 Abs 1 StVO

Wegen dieser Verwaltungsübertretung wird über Sie folgende Strafe verhängt: EUR 100,-- …. gemäß § 99 Abs 3 lit. a StVO

Vor Erlassung dieser Strafverfügung nahm ***** zwar den Akt zur Hand, sah sich dabei aber weder Lichtbilder, welche dem Abschlussbericht angefügt waren, noch die Sachverhaltsdarstellung auf S 6 des Abschlussberichts, insbesondere jenen Absatz bezüglich der Verletzungen der Tochter des Klägers an. Seit der Übermittlung des Abschlussberichts vom 7.6.2015 an die Landespolizeidirektion Tirol war keinerlei Erweiterung bzw Ergänzung des Akts erfolgt. Lediglich die Einstellungsbenachrichtigung der Staatsanwaltschaft Innsbruck war eingelegt worden. Weitere Ermittlungstätigkeiten waren seitens der Strafbehörde nicht erfolgt.

Gegen die Strafverfügung erhob der Kläger, vertreten durch seinen nunmehrigen Rechtsvertreter, Einspruch, welcher am 2.7.2015 um 13.49 Uhr per E-Mail an die LPD Tirol gesendet und am selben Tag um 13.57 Uhr von der Mitarbeiterin der LPD Tirol, Frau *****, empfangen wurde. Diese leitete den Einspruch an ***** weiter, welcher diesen um 14.43 Uhr erhielt. Nach Erhalt des Einspruchs nahm ***** neuerlich Einsicht in den Akt, wobei gegenüber dem Zeitpunkt der Erlassung der Strafverfügung keine wie auch immer geartete Veränderung des Akteninhalts erfolgt war. Nach neuerlicher Durchsicht des Akts kam er zum Schluss, dass aufgrund des Passus „eine Verletzungsanzeige liegt nicht vor, da an der Unfallambulanz der Klinik keine Behandlung durchgeführt wurde“ in der Sachverhaltsdarstellung auf S 6 des Abschlussberichts der LPD Tirol eine Verletzung der Tochter des Klägers aufgrund des gegenständlichen Verkehrsunfalls unwahrscheinlich sei. Das Verwaltungsstrafverfahren gegen den Kläger wurde sodann am gleichen Tag von ***** eingestellt, wobei der Kläger davon vorerst nicht informiert wurde.

Zwischen dem Einlangen des Einspruchs und der Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens wurden keinerlei Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt.

Hätte ***** bereits vor Erlassung der Strafverfügung am 24.6.2015 den Passus bezüglich der Verletzungen der Tochter des Klägers auf S 6 des Abschlussberichts gelesen, hätte er die Strafverfügung nicht erlassen, sondern das Verwaltungsstrafverfahren eingestellt.

Mit Schreiben vom 20.1.2016 stellte der Rechtsvertreter des Klägers - in Unkenntnis der bereits erfolgten Einstellung - neuerlich den Antrag an die LPD Tirol auf Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens. ***** teilte daraufhin dem Klagsvertreter am 22.1.2016 per E-Mail mit, dass das Verwaltungsstrafverfahren gegen den Kläger bereits eingestellt wurde. Am 3.2.2016 stellte der Rechtsvertreter des Klägers einen Antrag an die LPD Tirol auf Begründung der Einstellung, wobei diesem Begründungsantrag nicht entsprochen wurde.

Die dem Kläger erwachsenen Kosten für seine Vertretung durch den Klagsvertreter im gegenständlichen Verwaltungsstrafverfahren beliefen sich auf EUR 748,51 brutto, wovon EUR 51,55 brutto auf den Antrag vom 3.2.2016 entfielen.

Dieser Verkehrsunfall war auch Gegenstand eines vor dem Bezirksgericht Innsbruck zu 31 C 307/15h geführten Zivilrechtsstreit, in welchem dem vom Kläger auch bereits in seinem Einspruch gegen die Strafverfügung vertretenen Standpunkt, er sei auf der bevorrangten Straße unterwegs gewesen und sein Unfallgegner sei von einer abgewerteten Verkehrsfläche gekommen, in zwei Instanzen gefolgt wurde.

Mit seiner Mahnklage begehrte der Kläger von der Beklagten aus dem Titel der Amtshaftung die Zahlung von EUR 748,51 s.A. an ihm entstandenen Vertretungskosten im Verwaltungsstrafverfahren. Er brachte dazu zusammengefasst vor, den Organen der beklagten Partei sei insbesondere vorzuwerfen, dass sie ohne Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen eine Strafverfügung erlassen hätten, weiters trotz beendeten Strafverfahrens eine Strafverfügung erlassen hätten, wofür sie nicht zuständig gewesen seien und darüber hinaus ohne weitere Prüfung, ob nun tatsächlich jemand verletzt worden ist oder nicht, eine Strafverfügung erlassen worden sei. Zudem sei auch die Annahme eines Rechtsvorrangs unvertretbar gewesen. Mit dem von ihm gegen die Strafverfügung erhobenen Einspruch sei ohne weitere Sachverhaltserweiterung das Verwaltungsstrafverfahren eingestellt worden. Darüber hinaus sei der Kläger über ein halbes Jahr nicht davon verständigt worden, was mit seinem Einspruch geschehen sei, sodass er mit Schriftsatz vom 20.1.2016 nochmals darauf hingewiesen habe, dass er keine Vorrangverletzung begangen habe und habe er neuerlich die Verfahrenseinstellung beantragt. Erst dann sei ihm mitgeteilt worden, dass das Verfahren eingestellt worden sei. Die Beklagte habe daher dem Kläger den ihm daraus resultierenden Schaden, der in den aufgewendeten Vertretungskosten für seinen Rechtsvertreter bestehe, zu ersetzen.

Gegen den vom Erstgericht antragsgemäß erlassenen Zahlungsbefehl erhob die beklagte Partei fristgerecht Einspruch, beantragte Klagsabweisung und wendete im Wesentlichen ein, das Unfallgeschehen sei ordnungsgemäß durch die Polizei aufgenommen und ein Abschlussbericht verfasst worden, welcher die Grundlage des Verwaltungsstrafverfahrens gebildet habe. Dieses sei zur Gänze rechtskonform und fehlerfrei in Übereinstimmung mit den einschlägigen materiell-rechtlichen verfahrensrechtlichen Bestimmungen durchgeführt worden. Insbesondere sei aus dem Abschlussbericht hervorgekommen, dass der Kläger eine Vorrangverletzung begangen habe. Zu einer Einstellung sei es letztlich nur deshalb gekommen, weil nicht festgestellt habe werden können, ob die Schmerzen der Tochter des Klägers aus dem Unfall resultierten. Zum Zeitpunkt der Erlassung der Strafverfügung sei kein Strafverfahren wegen Körperverletzung gegen den Kläger anhängig gewesen, vielmehr sei dieses bereits mit der Begründung eingestellt gewesen, dass die Dauer der Gesundheitsschädigung der Tochter des Klägers unter 14 Tagen gelegen habe. Insgesamt liegt keine unvertretbare Rechtsansicht seitens der Verwaltungsbehörde vor und seien sowohl die sachlichen als auch die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen zur Erlassung der Strafverfügung gegeben gewesen.

Mit dem nunmehr angefochtenen Urteil gab das Erstgericht dem Klagebegehren im Umfang von EUR 696,96 s.A. statt und wies das darüber hinausgehende Mehrbegehren ab. Es legte seiner Entscheidung den eingangs zusammengefasst dargestellten Sachverhalt zugrunde und führte in rechtlicher Hinsicht aus, gemäß § 1 Abs 1 AHG hätten unter anderem die Länder nach den Bestimmungen des bürgerlichen Rechts für den Schaden am Vermögen oder an der Person, den die als ihre Organe handelnden Personen in Vollzug der Gesetze durch ein rechtswidriges Verhalten - wem immer - schuldhaft zugefügt haben, zu haften. Der Polizeibeamte ***** sei jedenfalls Organ im Sinne des § 1 Abs 2 AHG, welches der beklagten Partei als Organträger zuzurechnen sei, darüber hinaus sei die Führung des Verwaltungsstrafverfahrens in Vollziehung der Gesetze erfolgt. Maßstab hinsichtlich des Verschuldens des Organs sei § 1299 ABGB. Ein ersatzfähiger Schade sei jeder Nachteil, welcher jemandem am Vermögen, seinen Rechten oder seiner Person zugefügt werde. Auch der Verfahrenskostenaufwand könne bei Zutreffen der sonstigen Voraussetzungen Gegenstand eines Amtshaftungsanspruchs sein, selbst wenn die in Betracht kommende Verfahrensordnung keine Kostenersatzpflicht kennt, sofern ein solcher Aufwand zur Herstellung des rechtmäßigen Zustands tatsächlich erforderlich ist.

Gemäß § 99 Abs 6 lit. c StVO liege eine Verwaltungsübertretung nicht vor, wenn eine Tat nach diesem Bundesgesetz den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallende strafbare Handlung verwirklicht. Das sogenannte Doppelbestrafungsverbot oder „ne bis in idem“-Prinzip sei in Art 4 Abs 1 des 7. ZPMRK manifestiert. Die Rechtsprechung des EGMR sowie des VfGH sehe eine Verletzung des Art 4 Abs 1 des 7. ZPMRK dann als gegeben an, wenn eine gesonderte Verfolgung teils bereits rechtskräftig geahndeter ideal konkurrierender strafbarer Handlungen stattfindet, wenn die zusammentreffenden Delikte, deren eines den Unrechtsgehalt des anderen in jeder Beziehung mitumfasst, dieselben wesentlichen Tatbestandsmerkmale aufweisen, somit strafbares Verhalten unter dem gleichen wesentlichen unrechtsbegründenden Gesichtspunkt eines bereits geahndeten tateinheitlich verwirklichten Straftatbestands einer neuerlichen Verfolgung und Bestrafung zu unterziehen ist. Der OGH erachte eine Verletzung des Doppelbestrafungsverbots im Sinne der Rechtsprechung von EGMR und VfGH unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Falle der Überlagerung der normativ zu ermittelnden wesentlichen Tatbestandselemente der in Rede stehenden Normen als gegeben, nicht hingegen wenn zur vollen Auswertung ihres Unrechtsgehalts ihre Betrachtung unter dem Aspekt mehrerer einander ergänzender Tatbestände erforderlich ist.

Demnach sei eine Strafdrohung oder Strafverfolgung wegen einer strafbaren Handlung unzulässig, wenn sie bereits Gegenstand eines Strafverfahrens war und in diesem der herangezogene Deliktstypus den Unrechts- und Schuldgehalt eines Täterverhaltens vollständig erschöpft. Das Doppelbestrafungsverbot sei wechselseitig auch im Verhältnis zwischen gerichtlichem (staatsanwaltschaftlichem) und verwaltungsbehördlichem Strafverfahren zu beachten. Die Art der Erledigung des vorangegangenen Strafverfahrens habe nur eine bedingte Bedeutung, aber nicht jede Verfahrenseinstellung könne einem rechtskräftigem Freispruch im Sinne des Art 4 des 7. ZPMRK gleichgehalten werden. So habe eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft nur dann eine „Sperrwirkung im Sinne des ne bis in idem-Prinzips“, wenn die verfahrensbeendende Entscheidung Bestand hat und nicht bloß aus formalen Gründen erfolgte, sondern auf einer inhaltlichen Prüfung des Vorwurfs basierte. Dies werde jedenfalls dann anzunehmen sein, wenn der Beschuldigte im Sinne des § 193 Abs 2 Z 1 (gemeint: StPO) in das Verfahren eingebunden wurde, wodurch der Staatsanwaltschaft eine „formlose Fortführung“ des Strafverfahrens verwehrt ist.

Gegenständlich sei gegen den Kläger sowohl das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Innsbruck als auch das Verwaltungsstrafverfahren bei der LPD Tirol aufgrund desselben Lebenssachverhalts geführt worden. Beiden Verfahren sei der Abschlussbericht des Stadtpolizeikommandos Innsbruck vom 7.6.2015 über den Verkehrsunfall vom 15.5.2015 zugrundegelegen. Die Staatsanwaltschaft habe gegen den Kläger wegen des Verdachts des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 StGB ermittelt, das Verwaltungsstrafverfahren sei aufgrund des Verdachts einer Verletzung der Vorrangregel nach § 19 Abs 1 StVO geführt worden, welche zur Verletzung einer Person geführt haben soll und deshalb nach § 99 Abs 3 lit. a StVO zu bestrafen sei. In beiden Tatbeständen liege der Unrechtsgehalt in einer objektiven Sorgfaltswidrigkeit des Klägers, nämlich der Verletzung einer Bestimmung der Straßenverkehrsordnung, aufgrund welcher seine Tochter verletzt worden sei. Im Sinne des Art 4 Abs 1 des 7. ZPMRK sei daher bei diesen beiden Delikten jedenfalls wechselseitig der Unrechts- und Schuldgehalt der jeweils anderen Tat umfasst.

Der Kläger sei zum Sachverhalt vom Stadtpolizeikommando Innsbruck am 24.5.2015 als Beschuldigter einvernommen worden, weiters habe die Staatsanwaltschaft Innsbruck das Ermittlungsverfahren aufgrund einer inhaltlichen Prüfung des Vorwurfs der fahrlässigen Körperverletzung eingestellt, weil sie zur Ansicht gelangt sei, dass beim Opfer eine Verletzungsdauer von 14 Tagen nicht gegeben sei. Diese Einstellung des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Innsbruck sei einem rechtskräftigen Freispruch im Sinne des Art 4 des 7. ZPMRK gleich zu halten.

In der Folge habe die Erlassung der Strafverfügung vom 24.6.2015 im Verwaltungsstrafverfahren der LPD Tirol gegen den Kläger dem Doppelbestrafungsverbot widersprochen und sei daher rechtswidrig gewesen. Für § 99 Abs 6 lit. c StVO gelte dies analog.

***** hätte aufgrund des bei ihm anzulegenden strengen Sorgfaltsmaßstabs des § 1299 ABGB die diesbezügliche ständige Rechtsprechung anzuwenden gehabt und aufgrund seiner Kenntnis vom eingestellten Ermittlungsverfahren wegen § 88 StGB die Strafverfügung in der Folge nicht erlassen dürfen. Die rechtswidrige Erlassung der Strafverfügung sei demnach auch schuldhaft, sodass eine Haftung der Beklagten gemäß § 1 Abs 1 AHG zu bejahen sei.

Abgesehen davon wäre von einem gewissenhaften Polizeibeamten zu erwarten gewesen, dass er den vorliegenden Abschlussbericht, welcher lediglich aus 20 Seiten bestand, bereits vor Erlassung der Strafverfügung vollständig durchliest. Wie er selbst einräumte, hätte er bei Kenntnis des vollständigen Abschlussberichts die Strafverfügung keinesfalls erlassen. Die diesbezügliche Unkenntnis könne nicht entschuldigt werden, zumal sich die entsprechenden Unterlagen bereits im ohnedies nicht unübersichtlichen Akt befunden hätten und der Polizeibeamte auch bei Vorliegen der Voraussetzungen zur Erlassung einer Strafverfügung nach § 47 VStG im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht sich zumindest den Akt ansehen hätte müssen. Dies werde auch dadurch dokumentiert, dass - unstrittigerweise - ohne jegliche weitere Ermittlungstätigkeiten nach Vorliegen des Einspruchs das Verwaltungsstrafverfahren unverzüglich eingestellt wurde.

Bei den dem Kläger entstandenen Vertretungskosten handle es sich um einen Schaden in seinem Vermögen im Sinne des § 1 AHG, welcher durch die rechtswidrige und schuldhafte Erlassung der Strafverfügung vom 24.6.2015 entstanden sei. Zur Herstellung des rechtmäßigen Zustands sei es jedenfalls erforderlich gewesen, Einspruch zu erheben, wodurch die rechtswidrige Strafverfügung erst außer Kraft gesetzt werden konnte. Zudem sei er über die am 2.7.2015 bereits erfolgte Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens bis zum 22.1.2016 entgegen der ausdrücklichen Bestimmung des § 45 Abs 2 VStG nicht informiert worden. Die Beklagte habe ihm daher die Kosten für den Einspruch und den weiteren Schriftsatz vom 20.1.2016 zu ersetzen. Die dafür geltend gemachten Honorare seien angemessen, wobei die herangezogene Bemessungsgrundlage von EUR 5.200,-- zutreffend sei. Lediglich die Kosten des Begründungsantrags vom 3.2.2016 seien nicht zu ersetzen, da dieser nicht erforderlich gewesen sei.

Während der klagsabweisende Teil dieser Entscheidung unangefochten in Rechtskraft erwuchs, erhob die beklagte Partei gegen den klagsstattgebenden Teil dieses Urteils fristgerecht Berufung aus dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung, die im Antrag mündet, in Stattgebung der Berufung das angefochtene Urteil im Sinne einer gänzlichen Klagsabweisung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger beantragt in seiner Berufungsbeantwortung, der Berufung keine Folge zu geben.

Die Berufung ist nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Der Argumentation der beklagten Partei in ihrer Rechtsrüge, wonach kein Verstoß gegen das Doppelbestrafungs(verfolgungs)verbot des Art 4 des 7. ZP zur EMRK vorliege, ist grundsätzlich beizupflichten: Nach Art 4 des 7. ZPMRK darf niemand „wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz oder dem Strafverfahrensrecht eines Staats rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staats erneut vor Gerichte gestellt oder bestraft werden“. Daraus folgt zunächst, dass Art 4 des 7. ZPMRK nicht bloß ein Doppelbestrafungsverbot, sondern auch ein Doppelverfolgungsverbot enthält, das heißt im Fall eines Freispruchs tritt die Sperrwirkung für künftige Strafverfahren ein. Nicht von der Sperrwirkung betroffen sind zwei Verfahren wegen derselben Tat, die gleichzeitig anhängig sind, wobei allerdings nach Abschluss des ersten Verfahrens das zweite Verfahren nicht weitergeführt werden darf. Voraussetzung für die „Sperrwirkung“ des Art 4 des 7. ZPMRK ist ein durch rechtskräftiges Urteil oder Freispruch endgültig abgeschlossenes strafrechtliches Verfahren. Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens nach § 190 StPO bildet keinen solchen Verfahrensabschluss ( Grabenwarter/Pabel , EMRK 6 , § 24 Rz 163 f mwN), wobei dies hinsichtlich der Einstellung des Ermittlungsverfahrens nach § 190 Z 1 StPO schon deshalb unzweifelhaft ist, weil nach dieser Gesetzesstelle die Einstellung darauf beruht, dass die dem Ermittlungsverfahren zugrundeliegende Tat nicht mit gerichtlicher Strafe bedroht ist oder sonst die weitere Verfolgung des Beschuldigten aus rechtlichen Gründen unzulässig wäre. Im gegenständlichen Fall erfolgte die Einstellung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen den Kläger ausschließlich und allein aus dem Grund, weil kein mit gerichtlicher Strafe bedrohter Tatbestand vorlag, nachdem aus der Tat keine Gesundheitsschädigung der Tochter des Klägers von mehr als 14 tägiger Dauer folgte, wie dies in § 88 Abs 2 Z 3 StGB in der zum Unfallszeitpunkt gültigen Fassung (nunmehr § 88 Abs 2 Z 2 StGB) ausdrücklich normiert war (ist). Ob nun dem Kläger tatsächlich eine Vorrangverletzung anzulasten war, wurde im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gar nicht geprüft. Ergänzend dazu, nicht jedoch in Konkurrenz dazu stehend, normiert § 99 Abs 3 lit. a StVO, dass eine Verwaltungsübertretung derjenige begeht und mit einer Geldstrafe zu bestrafen ist, wer als Lenker eines Fahrzeugs gegen die Vorschriften der StVO verstößt, also etwa gegen die Vorrangbestimmungen des § 19 Abs 1 StVO verstößt. Der Kläger hätte also im Falle einer Vorrangverletzung, wie dies im polizeilichen Abschlussbericht angezeigt wurde, sehr wohl nach § 99 Abs 3 lit. a StVO bestraft werden können. Allerdings normiert § 99 Abs 6 lit. a StVO, dass dann keine Verwaltungsübertretung vorliegt, wenn durch die Tat lediglich Sachschaden entstanden ist, die Bestimmungen über das Verhalten bei einem Verkehrsunfall mit bloßem Sachschaden (§ 4 Abs 5) eingehalten worden sind und nicht eine Übertretung nach Abs 1, 1a oder 1b (Lenkung eines Fahrzeugs in einem durch Alkohol oder Suchtgift beeinträchtigten Zustand) vorliegt.

Der vom Erstgericht vertretenen Ansicht, mit der gegen den Kläger erlassenen Strafverfügung wegen Verstoßes gegen § 19 Abs 1 StVO sei in unvertretbarer Weise gegen das Doppelbestrafungs(verfolgungs)verbot des Art 4 Abs 1 des 7. ZPMRK verstoßen worden, kann daher nicht beigepflichtet werden.

Dem Erstgericht ist allerdings beizupflichten, dass die Vorgangsweise des Referenten der Landespolizeidirektion Tirol, gegen den Kläger ohne Studium und Prüfung der Anzeige eine Strafverfügung zu erlassen, obwohl die Voraussetzungen des § 99 Abs 6 lit. a StVO vorlagen, eine unvertretbare und daher haftungsbegründende Vorgangsweise darstellt. Denn es steht fest, hätte der Referent vor Erlassung der Strafverfügung die Anzeige studiert, hätte er festgestellt, dass gar keine Verletzung einer Person vorliegt (dokumentiert ist), sondern bei der Kollision der beiden Fahrzeuge offenbar lediglich Sachschaden entstand, sodass tatsächlich keine Verwaltungsübertretung iSd § 99 Abs 6 lit. a StVO vorlag. Es kann nicht angehen, dass im Zweifel eine Strafverfügung erlassen wird und erst im Falle eines (fristgerechten) Einspruchs eine Überprüfung des angezeigten Sachverhalts im Sinne eines Studiums der Anzeige stattfindet, um dann festzustellen, dass gar keine Verwaltungsübertretung und somit Strafbarkeit vorliegt, weil diese Vorgangsweise dem Grundrecht der Unschuldsvermutung widerspricht. Schon allein deshalb haftet die beklagte Partei für das unvertretbare Verhalten ihres Organs und die dadurch dem Kläger entstandenen Vertretungskosten für die Erhebung eines Einspruchs, um sich gegen die gesetzwidrige Bestrafung zu wehren.

Auf die Frage, ob tatsächlich eine Verletzung des Rechtsvorrangs seitens des Klägers vorlag, braucht daher ebenso wenig nicht näher eingegangen zu werden wie auf die allenfalls weitere Frage, ob die Beurteilung der Vorrangsituation unvertretbar war.

Ebenso unvertretbar ist allerdings auch die Vorgangsweise der Organe der beklagten Partei, die entgegen der - ausdrücklichen - Regelung des § 45 Abs 2 VStG den Kläger bzw seinen Rechtsvertreter von der infolge des Einspruchs verfügten Einstellung des Verfahrens nicht verständigten. Dieser Verstoß gegen eine ausdrückliche gesetzliche Anordnung ist ebenfalls haftungsbegründend insoweit, als dem Kläger dadurch nochmals Kosten für das Einschreiten durch seinen Rechtsvertreter entstanden, nachdem dieser sechs Monate nach Erhebung des Einspruchs eine Erledigung seines Antrags auf Einstellung des Verfahrens urgierte.

Die Höhe des dem Kläger zuerkannten Schadenersatzes wird in der Berufung nicht releviert, sodass sich ein Eingehen darauf erübrigt. Der Berufung gegen den klagsstattgebenden Teil des Ersturteils war daher im Ergebnis keine Folge zu geben, vielmehr das angefochtene Urteil im Umfang der Anfechtung zu bestätigen.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens stützt sich auf §§ 50 Abs 1, 41 Abs 1 ZPO. Die Kosten wurden vom Kläger tarifmäßig verzeichnet.

Oberlandesgericht Innsbruck, Abteilung 4

Innsbruck, am 13. März 2018

Dr. Georg Hoffmann, Senatspräsident

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