7Rs33/25i – OLG Graz Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Graz hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Kraschowetz-Kandolf (Vorsitz), die Richter Mag. Russegger und Mag. Reautschnig sowie die fachkundigen Laienrichter:innen Färber (aus dem Kreis der Arbeitgeber:innen) und Zimmermann (aus dem Kreis der Arbeitnehmer:innen) als weitere Senatsmitglieder in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geboren am **, **, vertreten durch Dr. Birgit Fetz, Rechtsanwältin in Leoben als bestellte Verfahrenshilfevertreterin, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt , Landesstelle **, **, vertreten durch ihre Angestellte MMag a . B*, ebendort, wegen Invaliditätspension, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Leoben als Arbeits- und Sozialgericht vom 13. März 2025, GZ: **-35, in nicht-öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Ein Kostenersatz findet nicht statt.
Die Revision ist nicht nach § 502 Abs 1 ZPO zulässig .
Text
Entscheidungsgründe:
Der am ** geborene Kläger war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag überwiegend als Produktionsmitarbeiter beschäftigt.
Aufgrund der bei ihm aus internistischer, orthopädischer und neurologisch-psychiatrischer Sicht bestehenden Leidenszustände (Diagnosen), die das Erstgericht auf Urteil Seite 2 und 3 ausführlich feststellt, kann der Kläger alle leichten und mittelschweren Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen verrichten, unabhängig davon, ob diese im Freien oder in geschlossenen Räumen stattfinden.
Ausgenommen bzw. zu reduzieren sind:
Einem normalen Arbeitstempo ist der Kläger ganztägig gewachsen. Darüber hinaus ist ein forciertes Arbeitstempo ganztägig zumutbar.
Akkord- und Fließbandarbeiten sind ebenfalls zumutbar. Gegen eine Nachtarbeit besteht kein Einwand.
Der Kläger ist in der Lage, Tätigkeiten, welche er im maßgeblichen Zeitraum ausgeübt hat, auch weiterhin im Hinblick auf die geistigen Fähigkeiten vollumfänglich auszuüben.
Kundenkontakt: im Durchschnitt
Geistiges Anforderungsprofil: mäßig schwierig
Durchsetzungsfähigkeit: im Durchschnitt
Führungsfähigkeit: im Durchschnitt.
Es besteht eine Unterweisbarkeit auf andere als bisher geleistete Tätigkeitsbereiche. Diesen Arbeitsanweisungen ist der Kläger vollumfänglich gewachsen. Er ist außerdem in der Lage, sich neue Kenntnisse zu Anlernzwecken anzueignen, wobei beim Erlernen von zusätzlichen Fähigkeiten mit normalen Anpassungszeiten zu rechnen ist. Schulbarkeit und Umschulbarkeit sind gegeben. Es ist durchaus zumutbar, ein Verkehrsmittel zum Erreichen der Arbeitsstätte zu benutzen, wobei auch ein Wochenpendeln möglich ist. Ein Ortswechsel ist zumutbar.
Die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln ist zumutbar.
Eine Verschlechterung des erstellten Leistungskalküls ist in den nächsten 18 Monaten sowohl aus internistischer, orthopädischer als auch aus nervenfachärztlicher Sicht nicht zu erwarten.
Aus internistischer und neurologisch-psychiatrischer Sicht ist bei Einhaltung des Leistungskalküls mit keinen leidensbedingten Krankenständen zu rechnen. Aus orthopädischer Sicht ist mit zusätzlichen Krankenständen im Ausmaß von einer Woche pro Jahr zu rechnen.
Es besteht keine gegenseitige Leidensbeeinflussung oder Potenzierung. Der Kläger ist nicht mehr in der Lage, allen Anforderungen, die an einen Produktionsmitarbeiter, dessen Berufsbild und Anforderungsprofil das Erstgericht auf Urteil Seite 5 bis 7 feststellt, weiterhin gerecht zu werden, zumal er den damit verbundenen mittelschweren körperlichen Belastungen im erforderlichen Ausmaß nicht mehr gewachsen ist.
Trotz der eingeschränkten Leistungsfähigkeit kommen für den Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter anderem noch Tätigkeiten wie die eines Verpackers, eines Portiers, eines Arbeitnehmers bei Adressverlagen, eines Kontrollarbeiters in der Elektronikindustrie, eines Adjustierers, eines Parkgaragenkassiers, eines Telefonisten sowie eines Pächters im Standpostendienst etc. in Betracht. Berufsbild und Anforderungsprofil von Verpackern und Portieren stellt das Erstgericht auf Urteil Seite 7 bis 10 fest.
Mit Bescheid vom 24. Oktober 2023 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 5. Oktober 2023 auf Gewährung einer Invaliditätspension mangels Vorliegens dauerhafter Invalidität ab. Weiters sprach sie aus, dass vorübergehende Invalidität im Ausmaß von mindestens sechs Monaten ebenfalls nicht vorliege und kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung sowie auf medizinische und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe.
Der Kläger begehrt die Zahlung einer Invaliditätspension in der gesetzlichen Höhe und führt zur Begründung aus, er sei aufgrund seines Leidenszustandes nicht mehr in der Lage, eine seinem bisherigen beruflichen Werdegang entsprechende zumutbare Erwerbstätigkeit auszuüben.
Die Beklagte bestreitet unter Aufrechterhaltung ihres im Bescheid eingenommenen Standpunkts und ergänzt, dass Invalidität nach § 255 Abs 3 ASVG nicht vorliege. Der Kläger sei in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag 72 Monate als Produktionsmitarbeiter beschäftigt gewesen.
Mit dem angefochtenen Urteil weist das Erstgericht das Klagebegehren nunmehr auch im zweiten Rechtsgang auf der Grundlage des eingangs dargestellten Sachverhalts ab. In rechtlicher Hinsicht folgert es, dass der Kläger nicht invalid im Sinne des § 255 Abs 3 ASVG sei. Zwar sei er nicht mehr in der Lage, allen Anforderungen, die an einen Produktionsmitarbeiter gestellt würden, weiterhin gerecht zu werden. Trotzdem kämen für ihn die festgestellten Verweisungstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers aus den Berufungsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Klagsstattgegebung abzuändern. Hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.
Die Beklagte erstattet keine Berufungsbeantwortung, beantragt jedoch, der Berufung nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Berufung, über die gemäß § 480 Abs 1 ZPO in Verbindung mit § 2 Abs 1 ASGG in nicht-öffentlicher Sitzung entschieden werden konnte, ist nicht berechtigt.
1. Zum Berufungsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens:
1.1. Eine Mangelhaftigkeit erblickt der Berufungswerber zunächst darin, dass das Erstgericht seinen Antrag auf erneute Begutachtung durch andere Sachverständige aus den Bereichen Orthopädie und Neurologie abgelehnt hat.
Das Erstgericht begründet die Abweisung dieses Antrags damit, dass kein Grund bestehe, an den profunden Ausführungen der Sachverständigen Dr. C* und Univ. Prof. Dr. D* zu zweifeln. Der Kläger habe auch nicht substantiiert dargetan, warum er die Gutachten als ungenügend erachte. Die neuerliche Begutachtung durch andere Sachverständige komme nur dann in Betracht, wenn dies zur Behebung von Mängeln im Gutachten, bei Unklarheiten oder Unschlüssigkeit notwendig sei. Die eingeholten Gutachten seien jedoch weder unklar noch unschlüssig. Außerdem lägen keine Widersprüchlichkeiten vor.
Auch in der Berufung stützt sich der Kläger darauf, dass die Gutachten unvollständig und unschlüssig seien, zumal die Diagnosen gar nicht bis zur schriftlichen Gutachtenserstattung vorgelegen seien und daher auch von den Sachverständigen nicht hätten berücksichtigt werden können. Es seien auch noch weitere Diagnosen angeführt worden, die nicht berücksichtigt worden seien. Der Kläger könne das von den Sachverständigen festgestellte Leistungskalkül aufgrund seines Gesundheitszustandes und der Diagnosen keinesfalls erfüllen; das Gutachten sei für den Kläger unschlüssig, weshalb weitere Gutachten eingeholt werden hätten müssen. Der Kläger sei weder physisch noch psychisch in der Lage, Arbeiten wie im Gutachten von Dr. C* umschrieben, nachzugehen.
Erscheint ein abgegebenes Gutachten ungenügend oder wurden von (mehreren) Sachverständigen verschiedene Ansichten ausgesprochen, kann das Gericht gemäß § 362 Abs 2 ZPO (hier iVm § 2 Abs 1 ASGG) auf Antrag oder von Amts wegen anordnen, dass eine neuerliche Begutachtung durch denselben oder durch andere Sachverständige oder mit Zuziehung anderer Sachverständiger stattfinde. Die Frage der Notwendigkeit eines Vorgehens nach § 362 Abs 2 ZPO, dh ob ein weiteres Sachverständigengutachten eingeholt werden soll oder nicht, fällt zwar in der Regel in den Bereich der Beweiswürdigung ( RS0043320, RS0113643, RS0043414 insb [T18]). Eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens kann aber dann vorliegen, wenn der beigezogene Sachverständige nicht in der Lage ist, sämtliche für die abschließende Beurteilung der Sache notwendigen Fragen zu beantworten und das Gericht einem relevanten Beweisantrag zu ungeklärt gebliebenen Bereichen (regelmäßig in Form der Einholung eines Gutachtens aus einem anderen Fachgebiet) nicht entspricht.
Das ist hier nicht der Fall. Um beurteilen zu können, ob ein Versicherter Anspruch auf eine Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit hat, ist es notwendig, das Leistungskalkül, also das Ausmaß seiner Restarbeitsfähigkeit, festzustellen (RS0084398). Entscheidend für die Frage der Verweisbarkeit ist die aufgrund des ärztlichen Leistungskalküls getroffene Feststellung, in welchem Umfang der Pensionswerber im Hinblick auf die bestehenden Einschränkungen behindert ist bzw. welche Tätigkeiten er ausführen kann. Die von den Sachverständigen erhobene Diagnose bildet nur die Grundlage für das von ihnen zu erstellende Leistungskalkül. Mangels eigener medizinischer Fachkenntnisse könnte das Gericht aus einer festgestellten Diagnose keinerlei Schlussfolgerungen ableiten, zumal je nach dem Schweregrad eines Leidens bei gleicher Diagnose der Umfang der Einschränkungen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit ganz unterschiedlich sein kann. Wesentlich ist daher nur die Feststellung des Leistungskalküls (RS0084399; Sonntag in Sonntag ASVG 16 § 255 Rz 16).
Aus dem Umstand, dass nicht sämtliche Diagnosen und Feststellungen aus den vom Kläger vorgelegten Urkunden, wie etwa der Beilage./K (radiologischer Befund), in den Gutachten festgehalten wurden, lässt sich eine Unvollständigkeit der Gutachten demgemäß nicht ableiten. Auch die subjektive Meinung des Klägers, er könne das von den Sachverständigen festgestellte Leistungskalkül nicht einhalten, macht die Sachverständigengutachten nicht unschlüssig. Der Entlassungsbrief nach dem Aufenthalt des Klägers im Krankenhaus E* vom 9. Jänner bis 15. Jänner 2025, Beilage./O, wurde sowohl mit dem orthopädischen als auch mit dem neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen in der Tagsatzung vom 13. März 2025 erörtert (Protokoll ON 32), sodass auch unter diesem Gesichtspunkt eine Unvollständigkeit nicht vorliegt.
1.2. Die weiters vom Berufungswerber gerügte Mangelhaftigkeit, die er in der Nichtdurchführung der Parteieneinvernahme im Zusammenhang mit seinen Krankheiten und Beschwerden erblickt, liegt ebenfalls nicht vor. Wie bereits in der Entscheidung des Berufungsgerichts vom 23. Jänner 2025, 7 Rs 5/25x, ausgeführt entspricht es der ständigen Rechtsprechung in Sozialrechtssachen, dass die Parteienvernehmung kein geeignetes Beweismittel darstellt, um Feststellungen zum Bestand und Ausmaß eines Leidenszustandes zu gewinnen. Diese ist insbesondere dann entbehrlich, wenn der Kläger, wie im vorliegenden Fall, im Rahmen der Anamnese und Untersuchung bei den gerichtlichen Sachverständigen Gelegenheit hatte, seine Leidenszustände zu schildern (SVSlg 65.833, 63.534, 61.096, 52.442).
Zusammenfassend ist daher der Berufungsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens nicht gegeben.
2. Zur Rechtsrüge:
Soweit der Berufungswerber unter diesem Berufungsgrund fehlende Feststellungen im Sinne eines sekundären Feststellungsmangels geltend macht, weil noch weitere, im Einzelnen angeführte Diagnosen vom Erstgericht hätten festgestellt werden müssen, ist darauf zu verweisen, dass es – wie im Vorpunkt bereits ausgeführt – auf die Feststellung von Diagnosen nicht ankommt, sondern ausschließlich auf das vom Erstgericht auch festgestellte medizinische Leistungskalkül.
Im Übrigen wurde eine Rechtsrüge ausgehend vom festgestellten Sachverhalt nicht erhoben, weshalb auf die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts nicht weiter einzugehen ist.
Zusammenfassend war der Berufung daher ein Erfolg zu versagen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen ausnahmsweisen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden weder behauptet, noch liegen sie vor. Der Kostenausspruch ergibt sich daraus, dass der Kläger aufgrund der bewilligten Verfahrenshilfe von der Kostentragung befreit ist.
Da Rechtsfragen von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO nicht zu lösen waren, war die ordentliche Revision nicht zuzulassen.