1Bs80/25m – OLG Graz Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Graz hat durch den Richter Mag. Redtenbacher als Vorsitzenden sowie die Richterin Mag a . Schwingenschuh und den Richter Mag. Wieland in der Strafsache gegen A* B* und andere Personen wegen des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen über dessen Beschwerde gegen den Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt vom 27. Mai 2025, GZ **-1430, in nichtöffentlicher Sitzung den
BESCHLUSS
gefasst:
Spruch
Der Beschwerde wird nicht Folge gegeben.
Die mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 18. März 2024 über A* B* verhängte Untersuchungshaft wird aus den Haftgründen der Flucht- und Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 und Z 3 lit b StPO fortgesetzt.
Die Wirksamkeit dieses Beschlusses ist durch eine Haftfrist nicht mehr begrenzt.
Text
BEGRÜNDUNG:
Mit Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Schöffengericht vom 23. Oktober 2024, GZ **-1363, das auch zahlreiche Adhäsionserkenntnisse und Verfallsaussprüche (siehe US 138ff) enthält, wurde – soweit für die Beschwerde relevant – der am ** in ** geborene, italienische Staatsbürger, A* B* des Verbrechens des gewerbsmäßig schweren Betruges nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall StGB (zu I.) und des Vergehens der kriminellen Vereinigung nach § 278 Abs 1 erster und zweiter Fall StGB (zu V.) schuldig erkannt und hierfür unter Bedachtnahme auf § 28 Abs 1 StGB nach dem Strafsatz des § 147 Abs 3 StGB zur Freiheitsstrafe von fünf Jahren sowie gemäß § 389 Abs 1 StPO zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens verurteilt. Gemäß § 38Abs 1 Z 1 StGB wurde die Zeit von 23. April 2023, 12:00 Uhr, bis 23. Oktober 2024, 11:30 Uhr, auf die verhängte Freiheitsstrafe angerechnet.
Dem Schuldspruch zufolge hat der Angeklagte A* B*
Auf die vom Erstgericht getroffenen Konstatierungen, dessen Beweiswürdigung und rechtliche Beurteilung (US 151 bis 631) wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen (RIS-Justiz RS0124017 [T3]).
Gegen dieses Urteil wurde vom Angeklagten unmittelbar nach dessen Verkündung das Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung angemeldet (ON 1362,23). Die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption (WKStA) meldete in Bezug auf A* B* das Rechtsmittel der Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe an (ON 1369) und führte dieses bereits aus (ON 1410). Mit Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt vom 16. April 2025 (ON 1408) wurde dem Angeklagten A* B* gemäß § 285 Abs 2 StPO eine Fristverlängerung von drei Monaten für die Ausführung der angemeldeten Rechtsmittel gewährt.
Zum vorgelagerten Verfahrensgang wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz vom 26. September 2024, AZ 1 Bs 127/24x (ON 1325), sowie auf den angefochtenen Beschluss (BS 1 f) verwiesen (RIS-Justiz RS0124017 [T3]).
Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss vom 27. Mai 2025 (ON 1430) wurde die über A* B* am 18. März 2024 verhängte Untersuchungshaft (ON 1087.947) entgegen seinem Enthaftungsantrag (ON 1424), konform der Stellungnahme der Anklagebehörde (ON 1.975) nach Durchführung einer Haftprüfungsverhandlung (ON 1429) wegen des dem erstinstanzlichen Schuldspruch zu Grunde liegenden, als dringend eingeschätzten Verdachts aus den Haftgründen der Flucht- und Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 und Z 3 lit b StPO ohne Begrenzung durch eine Haftfrist fortgesetzt.
Dagegen wurde noch in der Haftprüfungsverhandlung Beschwerde angemeldet (ON 1429,5), die in weiterer Folge ausgeführt wurde(ON 1434).
Die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption (WKStA) verzichtete auf eine Stellungnahme.
Rechtliche Beurteilung
Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
Dringender Tatverdacht in Ansehung des eingangs bezeichneten Tatgeschehens und die daraus resultierende Subsumtion ergeben sich aus dem oben ersichtlichen (nicht rechtskräftigen) Schuldspruch des Kollegialgerichts (RIS-Justiz RS0061107, RS0108486; Kier in WK 2 GRBG § 2 Rz 37; Kirchbacher/Rami in WK-StPO § 173 Rz 4). Der nach Durchführung eines kontradiktorischen Beweisverfahrens ergangene Schuldspruch begründet den für die Verhängung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft erforderlichen dringenden Tatverdacht in objektiver und subjektiver Hinsicht jedenfalls hinreichend (RIS- Justiz RS0108486 [T3], Nimmervoll, Haftrecht³, E 411), womit sich eine weitere Prüfung des Tatverdachts hier erübrigt (RIS-Justiz RS0061112). Überlegungen zu Erfolgsaussichten von Rechtsmitteln sind unzulässig, auch was das Strafmaß betrifft (RIS-Justiz RS0108401).
Obgleich nicht verkannt wird, dass die Fluchtgefahr iSd § 173 Abs 2 Z 1 StPO mit der Dauer einer bereits laufenden Untersuchungshaft stetig abnimmt ( Kier, aaO § 2 Rz 37) besteht diese fallbezogen bei A* B* doch weiterhin fort. Unter Fluchtgefahr ist die Gefahr zu verstehen, der Beschuldigte werde sich der Strafverfolgung als solcher entziehen, also dem Strafverfahren insgesamt oder zumindest der ihm allenfalls drohenden Strafe. Zu berücksichtigen sind, wenn auch keineswegs allein, Art und Ausmaß der dem Beschuldigten voraussichtlich bevorstehenden Strafe. Liegt bereits ein Urteil erster Instanz vor, so ist bei Beurteilung der Gewichtigkeit des Haftgrundes der Fluchtgefahr die im Urteil verhängte Strafe mit heranzuziehen (13 Os 130/01; 12 Os 57/15x). Bei der Beurteilung der Fluchtgefahr müssen auch die in § 173 Abs 3 erster Satz StPO genannten Umstände in Rechnung gestellt werden ( Kirchbacher/Rami, aaO § 173 Rz 31 f mwN).
Entgegen der Beschwerde kann von einer festen Integration des Angeklagten in Österreich nicht ausgegangen werden. Die letzte Meldung im Bundesgebiet datiert aus dem Jahr 2017 (ON 298). Danach lebte der Angeklagte in ** und seit September 2022 bis zu seiner Festnahme in Brasilien (ON 1261,4). In Österreich hielt er sich seit dem Jahr 2020 nur mehr selten auf (US 227). Der Angeklagte verfügt über zahlreiche Auslandskontakte und wies eine rege internationale Reisetätigkeit auf, was sich letztlich dadurch dokumentiert, dass seine Festnahme anlässlich seiner versuchten Ausreise von Brasilien nach Mexiko effektuiert werden konnte. Diesbezüglich wird auch auf die Ausführungen im Beschluss des Oberlandesgerichts Graz vom 26. September 2024, AZ 1 Bs 127/24x (BS 14), verwiesen. Die minderjährigen Kinder des Angeklagten, Y* und Z* B*, sind weiterhin bei der Mutter (BA*) in Südtirol wohnhaft. Das Kontaktrecht (Umgangsrecht) ist bis zur Haftentlassung ausgesetzt (ON 1434,44). Die ehemalige Lebensgefährtin (BB*) sowie die gemeinsame Tochter befinden sich nach wie vor in Brasilien, wobei sie und ihre Familie bereit wären den Angeklagten hier (gemeint Brasilien) mit offenen Armen zu Hause willkommen zu heißen (ON 1434,41). Demgegenüber stehen eine Einstellungszusage (ON 1434,13 [Bruttogehalt: EUR 2.350,00 = Nettogehalt: ca. EUR 1.810,00; Schulden von ca. EUR 1,5 bis 2 Millionen [ON 1087.949, 1; ON 1094,3; ON 1096,24; ON 1434,19] sowie Unterhaltsverpflichtungen [siehe auch ON 1434,45]) und eine für die Dauer von sechs Monaten unentgeltlich, sodann für die Dauer von sechs Monate mit geregelten Mietvertrag (ON 1434,14) von einem langjährigen Freund (ON 1429,3) zur Verfügung gestellte Wohnung in **. Zieht man ins Kalkül, dass die familiäre Bindung zu seinen in Italien lebenden Kindern den Angeklagten bislang nicht davon abhalten konnte, seinen Lebensmittelpunkt nach Brasilien zu verlegen, um danach (mutmaßlich [§ 8 StPO]) schwere Straftaten zu begehen, der Kontakt zu seinen beiden älteren Kindern sich seit zwei Jahren auf (ortsungebundene) Telefongespräche beschränkte (ON 1434,16 und 43) und er seine jüngste in Brasilien lebende Tochter noch nie sah (ON 1434,40), so vermag die nun bekundete Einstellungsumkehr weder eine soziale Integration in Österreich zu begründen, noch den Haftgrund der Fluchtgefahr zu beseitigen. Hinzu kommt, dass er gegenüber einer Psychiaterin noch im März 2025 angab, überhaupt nicht zu wissen, warum er eigentlich im Gefängnis sei, das Urteil als Unrecht und nicht korrekt empfinde und bis zum Schluss kämpfen werde (ON 1434,17 und 19). Dies lässt im Übrigen auch die Ausführungen im Punkt „Distanzierung von früherem Verhalten und kritischer Reflexion“ in der Beschwerde (ON 1434,7) unglaubwürdig erscheinen (siehe auch seine Angaben in ON 1359,41ff). Zudem ergibt sich angesichts der verhängten fünfjährigen Freiheitsstrafe, die auch zum Nachteil des Angeklagten bekämpft wurde, ein entsprechender Fluchtanreiz (siehe auch 14 Os 108/03). Angesichts der Massivität der Tathandlungen und des langen Deliktzeitraums sowie seines weiterhin bestehenden Netzes internationaler Kontakte (ON 1434,18; siehe auch RIS-Justiz RS0115056), was auch die unentgeltliche Zuverfügungstellung der Wohnung durch einen „langjährigen Freund“ dokumentiert, bzw. seines selbst gepriesenen Talents, Netzwerke aufzubauen (ON 1434,19) in Kombination mit dem Umstand, dass gegen weitere Mitbeschuldigte nach wie vor ermittelt wird, ist bei einer Gesamtwürdigung der Umstände der Haftgrund der Fluchtgefahr zwar gemindert, aber noch immer so stark ausgeprägt, dass eine Aufenthaltsverlegung als jedenfalls realisierbar und wahrscheinlich erachtet werden muss ( Kirchbacher/Rami, aaO § 173 Rz 31ff; OLG Graz 8 Bs 156/23m). Entgegen der Beschwerde ist auf Grund der fehlenden obligatorischen Grenzkontrollen für EU-Bürger innerhalb des Schengenraumes eine neuerliche Reise des Angeklagten in diesem Raum gerade nicht zu verhindern (OLG Graz, 8 Bs 293/24k; OLG Linz, 10 Bs 141/23s; OLG Wien, 21 Bs 197/22g). Die Abnahme des Reisepasses (ON 1087.939,3) wurde schon im vorgenannten Beschluss des Oberlandesgerichts Graz (BS 15) als nicht ausreichend erachtet, um eine Flucht hintan zu halten. Gerade das „weltumspannende“ Netzwerk des Angeklagten schließt die Erlangung von gefälschten Dokumenten, allenfalls unter Ausnützung weiterhin bestehender Kontakte in der kriminellen Vereinigung, nicht aus. Der Verweis auf die präventive Wirkung der als Belastung erlebten Auslieferungshaft in Brasilien dringt ebenso wenig durch, sind die Haftbedingungen doch weltweit unterschiedlich und besteht nicht mit allen Ländern ein Auslieferungsübereinkommen. Zudem setzt eine antizipierte (weitere) Auslieferungshaft gedanklich voraus, dass eine Flucht erfolglos verläuft, was angesichts der frei abrufbaren Fahndungslisten (siehe etwa **) nicht immer der Fall sein muss.
Auch der Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO liegt weiterhin vor. Die Untersuchungshaft wegen Tatbegehungsgefahr ist ihrem Wesen nach eine vorbeugende Maßnahme zum Schutz der Allgemeinheit vor weiteren (erheblichen) Straftaten (besonders) gefährlicher Straftäter ( Kirchbacher/Rami aaO § 173 Rz 38). Die Haft wegen Tatbegehungsgefahr ist danach zulässig, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, dass der Beschuldigte/Angeklagte ohne Haftverhängung ungeachtet des Eindrucks des gegen ihn wegen einer mit mehr als sechs Monaten Freiheitsstrafe bedrohten Straftat geführten Strafverfahrens eine strafbare Handlung begehen werde, die gegen dasselbe Rechtsgut gerichtet ist, wie die ihm angelastete Tat. Die Annahme einer solchen Gefahr muss sich stets auf bestimmte Tatsachen stützen, welche die Gefahr einer Wiederholung begründen (15 Os 168/13i). Es genügt keineswegs, dass die Möglichkeit eines Rückfalls nicht ausgeschlossen ist, diese Möglichkeit muss vielmehr durch bestimmte Tatsachen in greifbare Nähe gerückt sein. Zu berücksichtigen ist auch, ob die Tatbegehungsgefahr durch eine Änderung der Verhältnisse, unter denen die Anlasstat begangen wurde, gemindert ist ( Kirchbacher/Rami, aaO § 173 Rz 39).
Die Variante der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO verlangt neben einer Anlasstat (bezüglich der das Gesetz nicht auf bestimmte Folgen abstellt) und einer gegen dasselbe Rechtsgut gerichteten strafbaren Handlung mit nicht bloß leichten Folgen als Prognosetat eine Zusatzbedingung, nämlich dass der Beschuldigte/Angeklagte entweder wegen einer solchen strafbaren Handlung bereits verurteilt worden ist, oder nicht nur wegen einer, sondern wegen „wiederholter“ oder „fortgesetzter“ strafbarer Handlungen im dringenden Tatverdacht steht ( Kirchbacher/Rami aaO Rz 45).
Der in § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO aufscheinende Begriff der „fortgesetzten“ Handlung ist auf Fälle anzuwenden, in denen – wie hier (US 210) – eine tatbestandliche Handlungseinheit gebildet wird (zu diesem Begriff zB Ratz in WK 2 StGB Vor §§ 28–31 Rz 9 ff; zum Betrug siehe auch 13 Os 90/24w), die Gegenstand des dringenden Tatverdachts ist ( Kirchbacher/Rami, aaO § 173 Rz 49 mwN).
Entgegen den Beschwerdeausführungen ist in einer Gesamtschau tatsächlich von einer konkreten Gefahr auszugehen, der Angeklagte werde ungeachtet des gegen ihn wegen einer mit mehr als sechs Monaten Freiheitsstrafe bedrohten Straftat geführten Strafverfahrens auf freiem Fuß eine strafbare Handlung mit nicht bloß leichten Folgen begehen, die gegen dasselbe Rechtsgut (Vermögen) gerichtet ist, wie die ihm verdachtsmäßig angelasteten Straftaten. An den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Angeklagten sowie seiner Einbindung in ein kriminelles Vertriebssystem hat sich seit der letzten Entscheidung des Oberlandesgerichts Graz, AZ 1 Bs 127/24x, nichts Wesentliches geändert, sodass auf die diesbezüglichen Ausführungen verwiesen werden kann (BS 15 und 16). Vielmehr hat sich die damals angenommene Schadenshöhe (siehe BS 13) nunmehr exorbitant gesteigert, wurde er doch wegen einer Schadenssumme von EUR 20 Millionen verurteilt (US 230). Die nun in Aussicht stehende Arbeitsmöglichkeit mit einem Nettoeinkommen von rund EUR 1.800,00 vermag daher an dieser Prognose nichts Entscheidendes zu ändern, stehen dem doch Schulden von rund EUR 1,5 bis 2 Millionen (siehe auch ON 1353,14) samt Unterhaltsverpflichtungen gegenüber und verstand der Angeklagte (mutmaßlich [§ 8 StPO]) sich im Rahmen einer kriminellen Vereinigung durch fortgesetzte Betrugshandlungen über einen qualifiziert anzunehmenden längeren Zeitraum mit exorbitant hohen Schadensbeträgen (rund 20 Millionen Euro [US 390] bei mehreren tausend geschädigten Opfern) durch die Schaffung einer komplexen und undurchsichtigen Firmenstruktur (V* d.o.o, BC* AG etc. [US 168]) einen „tollen Lebensstil“ (ON 1096,10; s.a. ON 1094,4; siehe auch ON 1359,23 sowie US 178 und 472) zu finanzieren. Der Beschwerdeführer zeigte dadurch eine deutlich ausgeprägte Gleichgültigkeit gegenüber dem Rechtsgut fremden Vermögens. Die behauptete Einstellungsumkehr (siehe auch ON 1434,6) geht aus den Angaben gegenüber der Psychiaterin (ON 1434,19) gerade nicht hervor. Vielmehr stilisiert sich der Angeklagte als Opfer („ Er habe seinen Geschäftspartnern vertraut, das ist das, was er sich jetzt vorwerfe. “ [ON 1434,19]; siehe auch ON 1359,24 [„ Bauernopfer “] und ON 1359,43 [„ ...aber all die anderen Sachen, dass wir bewusst betrogen haben oder irgend etwas zu hundert Prozent nein… “]; siehe auch US 473). Selbst die Psychiaterin vermag eine erneute Tatbegehung nicht auszuschließen (ON 1434,37). Ungeachtet dessen tut der wiederholte Verweis auf das eingeholte „Gutachten“ (siehe dazu RIS-Justiz RS0097292; RS0097405; RS0097641 [T25]) in der Beschwerde nichts zu Sache. Die Einschätzung von Menschen und ihrem zukünftigen Verhalten ist nämlich richterliche Kerntätigkeit. Zur verlässlichen prognostischen Beurteilung der im § 173 Abs 2 Z 3 StPO beschriebenen Gefahren reichen die beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen des Richters regelmäßig aus ( Nimmervoll , Haftrecht 3 Z 559, 561f; OLG Wien, 17 Bs 42/24m). Eine die Tatbegehungsgefahr signifikant verringernde Änderung der Umstände iS des § 173 Abs 3 letzter Satz StPO ist den Akten (auch unter Bedachtnahme auf die bisherige Haftdauer) aber weiterhin nicht zu entnehmen. Dem Verweis auf den (vermeintlichen) Verlust seiner beruflichen Netzwerke, seiner ökonomischen Ressourcen und seiner sozialen Stellung ist entgegen zu halten, dass das in den Tathandlungen augenscheinlich hervorgetretene Charakterdefizit (zur Berücksichtigung bei der Prognoseentscheidung siehe erneut Kirchbacher/Rami , aaO Rz 28), das auch durch Zeugen anschaulich bestätigt wird (z.B. „ Er war der, der das Geld rausgezogen hat und nichts gemacht hat. “ [ON 1056,17]), erwarten lässt, dass der Angeklagte just zur Wiedererlangung derartiger „Statussymbole“ erneut Betrugstaten mit nicht leichten Folgen begehen werde. Eine gänzliche Distanzierung zu dem die Straffälligkeit mitbegründenden Umfeld dürfte zudem noch nicht erfolgt sein, propagierte die V* Plattform doch auch ihr vermeintliches Invest in diverse Immobilienprojekte (US 204, US 251, US 317), gerade einem Geschäftsfeld, in dem der Angeklagte wieder Fuß zu fassen beabsichtigt (ON 1429,3).
Den angezogenen Haftgründen kann im Hinblick auf ihr Gewicht unter dem Gesichtspunkt der effektiven Hintanhaltung der Gefahren durch gelindere Mittel des § 173 Abs 5 StPO nicht zweckentsprechend begegnet werden. Angesichts der beträchtlichen kriminellen Energie des Beschwerdeführers und der weiterhin bestehenden Intensität der Haftgründe der Flucht- und Tatbegehungsgefahr ist die Abnahme der Reisepapiere und die vom Beschwerdeführer ins Treffen geführte Wohnsitznahme sowie die Aufnahme einer Beschäftigung, bei Erteilung von Weisungen samt Ablegung von Gelöbnissen oder der Gewährung von Bewährungshilfe trotz fortgeschrittener Untersuchungshaft nicht geeignet, die Haftzwecke hinreichend zu substituieren (vgl auch Kirchbacher/Rami in WK StPO § 173a Rz 3). Der in der Beschwerde am Rande thematisierte (elektronisch überwachte) Hausarrest (nach § 173a StPO) ist kein gelinderes Mittel iS des § 173 Abs 5 StPO, sondern eine Vollzugsform der Untersuchungshaft ( Kirchbacher/Rami in WK-StPO § 173a Rz 1 und 6; 15 Os 165/10v; RS0126401). Eine Beschlussfassung darüber ist vom Erstgericht bereits in Aussicht genommen (BS 1).
Die Fortsetzung des seit 18. März 2024 andauernden prozessualen Sicherungsmittels steht – selbst unter Berücksichtigung der Auslieferungshaft (siehe 15 Os 50/12k; Kirchbacher/Rami in WK StPO § 178 Rz 2) – auch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Tat und der erstinstanzlich verhängten Strafe (siehe auch RIS-Justiz RS0119490). Ausschlaggebendes Kriterium für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit ist die grundsätzliche Frage, ob die den Gegenstand des Verfahrens bildende Straftat ihrem Gewicht nach überhaupt einen Eingriff in die persönliche Freiheit rechtfertigen kann (Bedeutung der Sache). Dabei sind jene Umstände von Bedeutung, welche für oder gegen das Vorliegen eines öffentlichen Interesses an der Haft sprechen und es rechtfertigen, von der Grundregel der Achtung der persönlichen Freiheit abzuweichen ( Kirchbacher , StPO15 § 173 Rz 4; siehe auch RIS-Justiz RS0108401). Angesichts einer angedrohten Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren und einer erstinstanzlich verhängten Unrechtsfolge von immerhin fünf Jahren Freiheitsstrafe steht im konkreten Fall die Fortsetzung der Untersuchungshaft wegen des dringenden Verdachts des planvoll durchgeführten schweren Betrugs über einen längeren Tatzeitraum im Rahmen einer kriminellen Vereinigung in einem die strafnormierende Wertqualifikation rund 66-fachen übersteigenden Ausmaßes bei mehreren tausend weltweit geschädigten Opfern nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache. Ob eine bedingte Strafnachsicht bzw. eine bedingte Entlassung zu erwarten ist, ist wiederum kein Kriterium der Zulässigkeit der Untersuchungshaft (RIS-Justiz RS0118876).
Der mehrfache Verweis in der Beschwerde auf die Unschuldsvermutung dringt nicht durch. Die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist nämlich mit der - vom Angeklagten thematisierten - Unschuldsvermutung ohne weiteres vereinbar (RIS-Justiz RS0074603); was um so mehr nach einem in erster Instanz auf der Grundlage einer in ihrem Ablauf den Erfordernissen des Art 6 Abs 1 MRK entsprechenden Hauptverhandlung ergangenen Schuld- und Strafausspruch gilt (RIS-Justiz RS0119511 [T1]; 11 Os 115/11p). Mit dem Abstellen auf die prekären Haftbedingungen in Brasilien und einem vermeintlichen Verstoß gegen Artikel 3 MRK wird nur ein Strafzumessungsaspekt (§ 34 Abs 1 Z 19 StGB) angesprochen (vgl etwa 13 Os 142/14b; Salimi in WK StGB 2 § 66 Rz 5), der im Übrigen bei der verhängten Strafe ohnedies mildernd berücksichtigt wurde (US 624). Eine Vollzugsuntauglichkeit wird dadurch auch nicht explizit behauptet. Auch wäre diese nach ständiger Rechtsprechung nicht Gegenstand der Prüfung im Rahmen der Untersuchungshaft. Gesundheitlichen Bedenken wäre vielmehr durch ärztliche Betreuung oder, falls zur sachgemäßen Behandlung erforderlich, durch Überstellung in eine Krankenhaus zu begegnen (RIS-Justiz RS0113913), wobei der Angeklagte ohnedies angibt, eine gute Therapeutin zu haben (ON 1434,16). Letztlich verfängt auch der Verweis auf Artikel 8 MRK nicht. Nach der Judikatur des EGMR sind Eingriffe in das Familienleben, die auf rechtmäßige Strafverfolgungsmaßnahmen zurückzuführen sind, zulässig ( Muzak , B-VG 6 Art 8 MRK Rz 14; Grabenwarter/Frank , B-VG 2 Art 8 EMRK Rz 15; siehe zum Auslieferungsrecht auch RIS-Justiz RS0123230). Die vom Angeklagten geltend gemachte Belastung seines Familienlebens ist Folge seiner (nicht rechtskräftig) gerichtlich festgestellten Straffälligkeit, welche naturgemäß mit einschneidenden Beschränkungen der familienrechtlichen Bande verbunden ist (siehe auch 12 Os 148/07t). Art 8 EMRK schützt allerdings nicht vor gesetzmäßiger strafrechtlicher Verfolgung (OLG Linz, 8 Bs 84/19p).
Wie die andauernde Haft das Beschleunigungsgebot und das Prinzip der Waffengleichheit verletzt, erschließt sich dem Beschwerdegericht aus der letztlich unsubstanziierten Behauptung nicht. Lediglich der Vollständigkeit halber ist deshalb zu erwägen, dass die Anberaumung der Haftprüfungsverhandlung (ON 1429), die Beschlussausfertigung (ON 1430) sowie die Vorlage an das Oberlandesgericht (ON 1432) in angemessener Zeit durchgeführt wurden, sodass darin kein Verstoß gegen §§ 9 Abs 2,177 Abs 1 StPO erblickt werden kann.
Der Entfall der Haftfrist ergibt sich aus § 175 Abs 5 StPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diese Entscheidung steht ein weiterer Rechtszug nicht zu (§ 89 Abs 6 StPO).