JudikaturOLG Graz

10Bs19/24f – OLG Graz Entscheidung

Entscheidung
01. Februar 2024

Kopf

Das Oberlandesgericht Graz hat durch die Richter Dr. Sutter (Vorsitz), Dr in . Steindl-Neumayr und Mag a . Haas in der Strafsache gegen A* wegen Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und anderen strafbaren Handlungen über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Leoben gegen den Beschluss des Landesgerichts Leoben vom 12. Jänner 2024, AZ 15 HR 5/24h (ON 19 des Aktes AZ 9 St 7/24a der Staatsanwaltschaft Leoben), in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Beschwerde wird nicht Folge gegeben.

Aus deren Anlass wird das gelindere Mittel in Form der Weisung, bis auf Weiteres jeglichen Kontakt zu den minderjährigen Kindern B* und C* D* sowie zu E* D* zu vermeiden und sich den Kindern nicht anzunähern (Umkreis von 100 Metern), aufgehoben .

Gegen diese Entscheidung steht ein weiterer Rechtszug nicht zu.

Text

begründung:

Rechtliche Beurteilung

Die Staatsanwaltschaft Leoben führte – so weit hier relevant – zum AZ 9 St 7/24a ein Ermittlungsverfahren gegen den am ** geborenen österreichischen Staatsbürger A* wegen des Verdachts der Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (I.) und der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 1 StGB (II.).

Demnach habe A* zu nicht näher bekannten Zeiten im Zeitraum von 1. Juli 2023 bis 18. Dezember 2023 in **

I. in wiederholten Angriffen mit einer unmündigen Person, nämlich seiner am ** geborenen Tochter B* D*, eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung unternommen, indem er wiederholt Finger in deren Vagina einführte;

II. durch die unter Punkt I. angeführten Tathandlungen mit einer mit ihm in absteigender Linie verwandten minderjährigen Person geschlechtliche Handlungen vorgenommen.

Der Beschuldigte wurde am 6. Jänner 2024 um 12.18 Uhr mit gerichtlicher Bewilligung festgenommen (ON 2.1, 3 f) und am selben Tag in die Justizanstalt Leoben eingeliefert (ON 4.2).

Am 7. Jänner 2024 wurde über ihn aus den Haftgründen der Verdunkelungs- und Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 2 und 3 lit a und b StPO die Untersuchungshaft verhängt (ON 6).

Mit dem angefochtenen Beschluss hob das Erstgericht – unter Annahme des zuvor angeführten (als dringend qualifizierten) Tatverdachts und des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO – die Untersuchungshaft gegen gelindere Mittel, nämlich die Weisung, bis auf Weiteres jeglichen Kontakt zu den minderjährigen Kindern B* und C* D* sowie zu E* D* zu vermeiden und sich den Kindern nicht anzunähern (Umkreis von 100 Metern), auf und ordnete die sofortige Enthaftung des A* an (ON 19).

Dagegen richtet sich die Beschwerde der Staatsanwaltschaft mit dem Antrag, den Beschluss aufzuheben und dem Erstgericht bei unveränderter Sachlage die Anordnung der Festnahme des A* aus dem „Haftgrund“ des § 170 Abs 1 Z 4 StPO und die Verhängung der Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der „Tatausführungs- und Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 1 und 2 Z 3 lit a und b StPO“ aufzutragen (ON 21).

Dem trat der Beschuldigte, der sich gegen die Annahme eines dringenden Tatverdachts und das Vorliegen von Haftgründen wendet bzw. deren Substituierbarkeit durch das gelindere Mittel der (Kontakts- und Annäherungsverbots-)Weisung gegeben sieht, in seiner Äußerung vom 23. Jänner 2024 entgegen.

Die Oberstaatsanwaltschaft Graz äußerte sich inhaltlich nicht zur Beschwerde der Staatsanwaltschaft.

Am 29. Jänner 2024 brachte die Anklagebehörde zum AZ 34 Hv 10/24d des Landesgerichts Leoben Anklage gegen A* wegen des oben angeführten historischen Lebenssachverhalts ein.

Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

Die Annahme des von § 173 Abs 1 StPO geforderten dringenden Tatverdachts setzt eine durch konkrete Tatsachen belegte, d.h. auf den bisherigen Beweisergebnissen beruhende hohe Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung bezüglich der dem Beschuldigten angelasteten Taten voraus (RIS-Justiz RS0040284; Mayerhofer , StPO 6 § 173 E 5 bis 7 und 18; Kirchbacher/Rami in WK StPO § 173 Rz 3; Fabrizy/Kirchbacher , StPO 14 § 173 Rz 3 u.v.a.). Dafür bedarf es hinreichender Anhaltspunkte im Sinn einer aktenmäßig gedeckten, der nachvollziehenden Prüfung zugänglichen, qualifiziert substrathaften Indikation und damit einer Grundlage, aus der logisch einwandfrei (prima facie) auf die Begehung der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tathandlungen geschlossen werden kann (RIS-Justiz RS0107304 [insbesondere T1 und T4] sowie RS0107027 [insbesondere T2]).

Fallbezogen lässt sich nach Überzeugung des (auch im gegenständlichen Fall; vgl. Kirchbacher/Rami in WK StPO § 176 Rz 14 und § 89 Abs 2b zweiter Satz StPO) meritorisch ( Kirchbacher/Rami in WK StPO Vor §§ 170–189 Rz 30 und § 176 Rz 13) erkennenden Beschwerdegerichts aus der Aktenlage aktuell kein Tatverdacht gegen A* begründen.

Der Beschuldigte bestreitet die ihm zur Last gelegten Taten (ON 2.3, 3 bis 6 und ON 5).

Die Zeugen B* und C* D* beriefen sich im Rahmen der kontradiktorischen Vernehmung auf ihr Recht auf Aussagebefreiung nach § 156 Abs 1 Z 1 StPO (ON 17.2, 2 und 3); schon deshalb sind auch ihre in den Amtsvermerken vom 6. und 7. Jänner 2024 festgehaltenen Angaben (ON 2.2, 1 f bzw. ON 9, 2 f) unverwertbar.

Aus den zeugenschaftlichen Deponaten ihrer Mutter E* D* (ON 2.5, 4 f) und deren Lebensgefährten F* (ON 27.3, 4 f) ergibt sich nichts den Beschuldigten Belastendes.

Den Tatverdacht stützende Sachbeweise liegen aktuell ebenso wenig vor.

Die den kontradiktorischen Einvernahmen der B* D* beigezogene Sachverständige aus dem Fachgebiet der Psychologie (mit Spezialisierung u.a. auf Missbrauch und Aussagepsychologie) Mag a . G* führte – zu einer „Ersteinschätzung“ aufgefordert – aus, eine aussagepsychologische Bewertung mangels Aussage der B* D* nicht vornehmen zu können. Eine Beurteilung, aus welchem Grund das Kind nicht habe aussagen wollen, und ob es Opfer einer Sexualstraftat geworden sei, sei auf Basis des bisherigen Akteninhalts und der (nur sehr kurzen) Interaktion mit der Sachverständigen ebenfalls nicht möglich. (Auch) Bei (Missbrauchs-)Opfern gäbe es kein „typisches Opferverhalten“. Verhaltensauffälligkeiten, die nach sexuellem Missbrauch auftreten können, seien unspezifisch und könnten auch in anderen Belastungssituationen auftreten. Zurückgezogenheit und mangelnde emotionale Erreichbarkeit der B* D* begründeten für sich alleine nicht einmal den Verdacht eines sexuellen Missbrauchs, zumal bei B* D* der Verdacht auf ADHS und Autismus bestehe und emotionale Zurückgezogenheit bei Autisten symptomatisch (d.h. krankheitsbedingt) sein könne (ON 17.2, 3 bis 6).

Die Aussagen der Zeuginnen H* (ON 2.6, 3 f), I* (ON 27.4, 3 bis 5) und J* (ON  27.5, 3 bis 6) hinwieder können aktuell nicht zur Begründung des Tatverdachts herangezogen werden.

Denn nach § 157 Abs 1 Z 3 StPO sind – so weit hier relevant – Psychologen und Mitarbeiter anerkannter Einrichtungen zur psychosozialen Beratung und Betreuung zur Verweigerung der Aussage über das, was ihnen in dieser Eigenschaft bekannt geworden ist, berechtigt.

Einrichtungen zur psychosozialen Beratung und Betreuung finden sich etwa im Bereich der Jugendwohlfahrt, der Jugendgerichtshilfe, der Bewährungshilfe, der Lebenshilfe, der schulpsychologischen Dienste, der Krisenintervention, der Rehabilitation, der Beratung und Behandlung Suchtkranker, der Ehe-, Partner-, Familien- und Erziehungsberatung, der Betreuung Aidskranker sowie der sonstigen Sozialarbeit oder Lebens- und Sozialberatung. Als anerkannt ist eine solche Einrichtung insbesondere dann anzusehen, wenn sie gesetzlich vorgesehen ist oder von öffentlichen Stellen gefördert oder in Anspruch genommen wird (vgl. ErläutRV 924 BlgNR 18. GP 27). Der Begriff Mitarbeiter ist unabhängig von einem Dienstverhältnis zu beurteilen (zu allem Kirchbacher/Keglevic in WK StPO § 157 Rz 26).

Die Zeugin H* (ON 2.6, 3 f) ist ihren Angaben zufolge beim Verein „K*“ in ** als Familienentlasterin beschäftigt und betreut in dieser Eigenschaft die Familie D* (und insbesondere die Kinder L* und C*) seit November 2023 (ON 2.6, 3 und 4). Die Zeuginnen I* und J* wiederum sind bei der M* ** tätig, und zwar I* als klinische Psychologin und J* als inklusive Elementarpädagogin (ON 27.4,3 und ON 27.5, 3).

Familienentlastung ist nach § 3 Z 12 des Steiermärkischen Behindertengesetzes (LGBl 2004/26 idF LGBl 2024/1) eine Hilfeleistung für Menschen mit Behinderungen. Hilfe zur Familienentlastung ist nach § 22 Abs 1 des Steiermärkischen Behindertengesetzes (so weit hier relevant) Menschen mit Behinderung, die von Angehörigen im Sinne des § 36a AVG ständig betreut werden, zu deren Entlastung nach dem Steiermärkischen Kinder- und Jugendhilfegesetz stundenweise zu gewähren. Kostenträger ist das Land Steiermark, das grundsätzlich 90 %, in finanziellen Härtefällen auch 100 % der Kosten übernimmt (§ 22 Abs 2 bis 4 des Steiermärkischen Behindertengesetzes). Ein Antrag auf Familienentlastung kann bei der Gemeinde oder der Bezirksverwaltungsbehörde abgegeben werden. Über einen solchen Antrag entscheidet sodann die Bezirksverwaltungsbehörde mit Bescheid (**/). Der Verein „K*“ – Verein ** wird auf der Homepage des Landes Steiermark als Erbringer mobiler Leistungsarten für den Bezirk ** geführt (**; Stand: 27. April 2023). Dem entsprechen die Informationen auf der Homepage dieses Vereins (K*.net), woraus sich auch ergibt, dass Anspruch auf familienentlastenden Dienst (u.a.) Menschen mit Entwicklungsverzögerungen haben und diese (zum Zweck der Entlastung der betreuenden Angehörigen) etwa bei der Körperpflege, beim Essen und Trinken, der Freizeitgestaltung, bei Einkäufen des täglichen Bedarfs, Arztbesuchen, Therapien, Behördenkontakten und in schulischen Belangen unterstützt werden können.

Demnach ist indiziert, dass der Verein „K*“ eine anerkannte Einrichtung zur psychosozialen Beratung und Betreuung iS des § 157 Abs 1 Z 3 StPO darstellt.

Dasselbe gilt für die Einrichtung M*. Denn Integrative Zusatzbetreuung ist nach § 57 Abs 4 des Steiermärkischen Kinderbildungs- und -betreuungsgesetzes 2019 – StKBBG 2019 (LGBl 2019/95 idF LGBl 2023/70) eine mobile Betreuungsform für Kinder mit besonderen Erziehungsansprüchen in den institutionellen Kinderbildungs- und -betreuungseinrichtungen des Einzugsgebiets. Sie steht bei Bedarf im allgemeinen Kindergarten bzw. im Heimkindergarten für Kinder mit Behinderungen oder Entwicklungsverzögerungen zur Verfügung. Das M*-Team fördert und unterstützt die Kinder und steht dem Kindergartenpersonal und den Eltern beratend zur Seite. Die Kosten werden im Rahmen der Behindertenhilfe übernommen. Dazu muss ein Antrag beim Magistrat Graz bzw. der zuständigen Bezirksverwaltungsbehörde gestellt werden (S. 18 der Broschüre „Leben mit Behinderung“ der Anwaltschaft für Menschen mit Behinderung; **). Integrative Zusatzbetreuung wird mit Bescheid bewilligt (**_ Zusatzbetreuung_M*.html).

Als Mitarbeiterinnen des Vereins „K*“ bzw. der M* ** als jeweils anerkannte Einrichtungen iS des § 157 Abs 1 Z 3 StPO kommt den Zeuginnen H*, J* und I* (dieser im Übrigen auch als Psychologin) das Recht auf Aussageverweigerung nach dieser Bestimmung zu. Dass sie über dieses Recht informiert worden wären, ergibt sich aus den jeweiligen Vernehmungsprotokollen (ON 2.6, 1 ff, insbesondere 3; ON 27.4, 3; ON 27.5, 3 ) nicht.

Solcherart ist gemäß § 159 Abs 3 zweiter Satz StPO jener Teil ihrer Aussagen, auf den sich das Verweigerungsrecht bezieht – also das, was ihnen in ihrer Eigenschaft als Psychologin bzw. Mitarbeiterin der anerkannten Einrichtungen zur psychosozialen Beratung und Betreuung bekannt geworden ist – nichtig. Dies betrifft bei der Zeugin H* aber insbesondere die Wiedergabe dessen, was ihr B* D* am 5. Jänner 2024 anlässlich des Besuchs des „S*“ in ** erzählt hat und bei den Zeuginnen I* und J* deren Wahrnehmungen zum (geänderten) Verhalten der B* D*.

Folge dessen ist – weil § 157 Abs 1 Z 2 bis 5 iVm § 159 Abs 3 StPO ein Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbot normiert ( Kirchbacher/Sadoghi in WK StPO § 246 Rz 129) – die Unverwertbarkeit ihrer Aussagen (auch) in Entscheidungen über die vorläufige oder endgültige Beurteilung der Schuldfrage, somit insbesondere auch in Haftbeschlüssen. Es ist daher fallbezogen so vorzugehen, als wären die unverwertbaren Beweismittel nicht existent ( Kirchbacher/Sadoghi in WK StPO § 246 Rz 54, 56, 134).

Bei dieser Sachlage ist ein Tatverdacht zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung zu verneinen.

Der Beschwerde war daher nicht Folge zu geben.

Aus deren Anlass war – mangels Tatverdachts – die vom Erstgericht im angefochtenen Beschluss als gelinderes Mittel nach § 173 Abs 5 StPO erteilte Weisung aufzuheben.

Der Ausschluss eines Rechtsmittels gründet auf § 89 Abs 6 StPO.

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