10Bs54/21y – OLG Graz Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Graz hat durch die Richter Dr.Sutter (Vorsitz), Mag a .Haas und Dr in .Sadoghi in der Strafvollzugssache des M***** S***** wegen bedingter Entlassung aus einer Freiheitsstrafe nach § 46 Abs 1 StGB (§ 152 Abs 1 Z 2 StVG) über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Graz gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Vollzugsgericht vom 18.Februar 2021, GZ 13 BE 36/21x-4, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Beschluss ersatzlos aufgehoben.
Gegen diese Entscheidung steht ein weiterer Rechtszug nicht zu.
Text
begründung:
Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Jugendschöffengericht vom 15.September 2020, AZ 6 Hv 88/20w, wurde M***** S***** – soweit hier von Bedeutung – des Verbrechens des Raubes nach § 142 Abs 1 StGB und des Vergehens der dauernden Sachentziehung nach § 135 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten verurteilt. Die Staatsanwaltschaft Graz meldete innerhalb der im § 284 StPO bezeichneten Frist Berufung an und führte diese gegen den Ausspruch über die Strafe zum Nachteil des M***** S***** aus. Das Urteil ist solcherart nicht rechtskräftig.
Am 8.Februar 2021 ordnete der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts den (vorläufigen) Strafvollzug in Ansehung des M***** S***** an, wobei er auf die fehlende Rechtskraft und darauf hinwies, dass der Angeklagte sich mit dem „vorzeitigen Strafvollzug“ einverstanden erklärt habe (ON 7). Daraufhin übermittelte die Justizanstalt Graz-Jakomini einen Strafantrittsbericht.
Mit dem angefochtenen Beschluss bewilligte das Erstgericht die bedingte Entlassung zum Zwei-Drittel-Stichtag (1.März 2021) konform der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Graz (ON 2) und der Anstaltsleitung (AS 4 in ON 1) und ordnete für die Dauer der dreijährigen Probezeit Bewährungshilfe an.
Die dagegen erhobene Beschwerde der Staatsanwaltschaft Graz begehrt unter Hinweis auf die fehlende Rechtskraft und den bloß „vorzeitigen“ Strafvollzug die ersatzlose Behebung des Beschlusses (ON 8).
Ihr kommt Berechtigung zu.
Rechtliche Beurteilung
Die Berufung gegen ein Urteil des Landesgerichts als Schöffengericht hat aufschiebende Wirkung, es sei denn, dass der Angeklagte (wie hier) selbst erklärt, eine Freiheitsstrafe einstweilen antreten zu wollen (§ 294 Abs 1 zweiter Satz StPO). Die aufschiebende Wirkung der Berufungsanmeldung entfällt, wenn der Angeklagte in Ansehung einer Freiheitsstrafe persönlich erklärt, sie einstweilen antreten zu wollen ( Ratz , WK-StPO § 294 Rz 1). In diesem Fall steht die Berufung der Vollstreckung der Strafe und dem Eintritt der Rechtsfolgen (sh auch § 493 Abs 1 zweiter Satz StPO) nicht entgegen (vgl Jerabek , WK-StPO § 493 Rz 7). Es kommt zur (Straf-)Vollstreckung vor Rechtskraft ( Lässig , WK-StPO § 397 Rz 7; vgl auch RIS-Justiz RS0099952).
Jede dem Vollzug eines Strafurteils dienende Haft ist ex lege Strafhaft (§ 1 Z 5 zweiter Satz StVG; Fabrizy/Kirchbacher , StPO 14 § 397 Rz 1). Bei (wie hier) Aufrechterhaltung der Berufung ist – wenn die Strafe einstweilen angetreten wird – die weitere Haft als Strafhaft zu behandeln (RIS-Justiz RS0101522; vgl auch Ratz , WK-StPO § 284 Rz 13). Dies führt zur vorzeitigen Überstellung aus der Untersuchungshaft in die Strafhaft (vgl RIS-Justiz RS0100064). § 294 Abs 1 zweiter Satz StPO ermöglicht damit einen einstweiligen Strafvollzug (15 Os 105/88). In diesem Fall sieht die gesetzliche Anordnung (§ 294 Abs 1 zweiter Satz StPO) von der Rechtskraft des Strafausspruchs als Bezugspunkt einer Strafhaft ab.
Daraus folgt eine Änderung der Haftbedingungen (insb §§ 20 ff StVG statt § 182 ff StPO; Kier in Kier/Wess , HB Strafverteidigung Rz 12.8), weil diese Haft damit als Strafhaft dem Grunde nach unter die Ägide des Strafvollzugsgesetzes fällt (zur Gewährung von nachträglichem Strafaufschub des dann Strafgefangenen wegen Vollzugsuntauglichkeit nach § 133 StVG OLG Wien 22 Bs 430/12i). M***** S***** ist somit aktuell Strafgefangener, an dem eine mit Strafurteil verhängte Freiheitsstrafe vollzogen wird (§ 1 Z 3 StVG).
Davon ist die Frage der Zuständigkeit für die bedingte Entlassung strikt zu trennen. Die bedingte Entlassung aus einer Freiheitsstrafe obliegt formell grundsätzlich dem Vollzugsgericht (§§ 16 Abs 2 Z 12, 152 StVG). § 265 Abs 1 StPO normiert davon abweichend eine Anordnungskompetenz des erkennenden Gerichts und des Rechtsmittelgerichts für den Fall, dass die zeitlichen Voraussetzungen für die bedingte Entlassung aus einer Freiheitsstrafe schon im Urteilszeitpunkt vorliegen, um zu vermeiden, dass der Verurteilte die Strafe nur zu dem Zweck antreten muss, um sogleich vom Vollzugsgericht bedingt entlassen zu werden ( Lewisch , WK-StPO § 265 Rz 2). Treten die zeitlichen Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung erst nach dem Urteilszeitpunkt aber vor der Einleitung des Strafvollzugs ein, bleibt die Zuständigkeit zur Entscheidung darüber in analoger Anwendung des § 265 StPO beim erkennenden Gericht (RIS-Justiz RS0116527; Lewisch , WK-StPO § 265 Rz 6). Zuständigkeit eines Gerichts im Strafverfahren über die bedingte Entlassung kommt solcherart nur im Zeitpunkt der Entscheidung in der Sanktionsfrage selbst in Betracht.
Abgrenzungskriterium für die Zuständigkeit des erkennenden Gerichts und des Rechtsmittelgerichts einerseits und des Vollzugsgerichts andererseits ist die Einleitung des Strafvollzugs in Form des (tatsächlichen) Strafantritts (RIS-Justiz RS0087254). Ob dieser beim in Untersuchungshaft Angehaltenen die Erklärung ist, die Strafe einstweilen anzutreten (so Drexler/Weger , StVG 4 § 16 Rz 2; OLG Wien 22 Bs 430/12i) oder auch in diesem Fall die Rechtskraft des Urteils maßgeblich ist ( Pieber in WK 2 StVG § 16 Rz 1; vgl 15 Os 86/10a, 87/10y) kann zur Frage der bedingten Entlassung dahinstehen:
Indem § 46 StGB die bedingte Entlassung für den Verurteilten , der die Hälfte, oder Zwei-Drittel der im Urteil verhängten zeitlichen Freiheitsstrafe verbüßt hat vorsieht, wird materiell auf eine rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe, bei der die Stichtage auch konkret berechnet werden können, abgestellt (zu diesem Begriffsverständnis vom „Verurteilten“ sh § 49 StGB, § 17a JGG, § 40 SMG, § 3 Abs 2 StVG; vgl auch RIS-Justiz RS0126180 und RS0091736; Jerabek/Ropper in WK 2 StGB § 46 Rz 1). Fehlt es (wie hier) an der Rechtskraft des Urteils in Ansehung des Sanktionsausspruchs, gibt es keine rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe, aus deren Vollzug M***** S***** entlassen werden könnte (so Lewisch , WK-StPO § 265 Rz 5).
Bei fristgerechter (§ 284 StPO) Berufungsanmeldung ist mit der Erklärung des Angeklagten selbst, eine Freiheitsstrafe einstweilen antreten zu wollen (§ 294 Abs 1 zweiter Satz StPO) die weitere Haft als Strafhaft zu behandeln. Bedingte Entlassung durch das Vollzugsgericht kommt (aber) nicht in Betracht, weil deren Bezugspunkt die Rechtskraft des Strafausspruchs (§ 260 Abs 1 Z 3 StPO) ist (ebenso Pieber in WK 2 StVG § 152 Rz 4, vgl aber Pieber in WK 2 StVG § 16 Rz 1, der hier davon ausgeht, dass die Erklärung des Untersuchungshäftlings, die Freiheitsstrafe einstweilen antreten zu wollen mangels Urteilsrechtskraft die Zuständigkeit des Vollzugsgerichts generell ausschließt; zur Zuständigkeit des Rechtsmittelgerichts im Zeitpunkt seiner Entscheidung sh OLG Graz 9 Bs 140/19k, 8 Bs 276/16y, Jerabek/Ropper in WK 2 StGB § 46 Rz 26; aA Drexler/Weger , StVG 4 § 1 Rz 32, § 16 Rz 2).
Das Erstgericht als Vollzugsgericht hat solcherart bei seiner Entscheidung über die bedingte Entlassung eine ihm nicht zustehende Kompetenz in Anspruch genommen und die dargestellte klare und überschneidungsfreie Kompetenzabgrenzung vernachlässigt. Dies hat die ersatzlose Aufhebung des Beschlusses zur Folge (§ 17 Abs 1 Z 3 erster Satz StVG iVm § 89 Abs 2a Z 1 StPO).
Der Ausschluss eines weiteren Rechtszugs stützt sich auf § 17 Abs 1 Z 3 erster Satz StVG iVm § 89 Abs 6 StPO.
Oberlandesgericht Graz, Abteilung 10