JudikaturOLG Graz

10Bs440/11y – OLG Graz Entscheidung

Entscheidung
15. März 2012

Kopf

Das Oberlandesgericht Graz hat durch die Richter des Oberlandesgerichtes DI Dr.Luger (Vorsitz), Dr.Haidacher und Mag.List in der Strafsache gegen Daniela R***** wegen des Verdachtes des Verbrechens der Untreue nach § 153 Abs 1 und 2 zweiter Deliktsfall StGB und des Verdachtes des Vergehens der Unterdrückung eines Beweismittels nach § 295 StGB über die Beschwerde der Beschuldigten gegen den Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 13. Oktober 2011, 5 HR 43/11m-29, in nichtöffentlicher Sitzung den

BESCHLUSS

gefasst:

Spruch

Der Beschwerde wird nicht Folge gegeben.

Gegen diese Entscheidung steht ein weiterer Rechtszug nicht zu (§ 89 Abs 6 StPO).

Text

begründung:

Aufgrund des bisherigen Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Graz zu 21 St 120/10s steht ***** Daniela R***** im Verdacht, im Zeitraum zwischen dem 30. Dezember 2009 und dem 1. April 2010 in G***** als Geschäftsführerin der S***** GmbH ***** die dieser Gesellschaft durch Rechtsgeschäft, und zwar durch eine im Herbst 2009 geschlossene Vereinbarung, von Dr.D*****F***** eingeräumte Befugnis, im Rahmen der Wahrnehmung der betriebswirtschaftlichen Führung der *****praxis der Dr.D*****F***** Einnahmen zu verwalten, Aufwendungen zu begleichen und hiefür über das auf dem Konto Nummer ***** bei der **********Bank *****AG erliegende Guthaben zu verfügen bzw die genannte Person durch Ausnützung des Überziehungsrahmens zu verpflichten, wissentlich missbraucht und dadurch Dr.D*****F***** den EUR 50.000,00 übersteigenden Vermögensnachteil von insgesamt zumindest EUR 92.218,61 zugefügt zu haben, indem sie in mehreren Angriffen EUR 92.218,61 rechtsgrundlos vom genannten Konto abbuchte und dadurch das Verbrechen der Untreue nach § 153 Abs 1 und 2 zweiter Deliktsfall StGB beging.

Des Weiteren ist die Beschuldigte nach dem Anlassbericht der Polizeiinspektion L***** ON 20 vom 23. Mai 2011 verdächtig, am 23. Mai 2011 in der Zeit von 17.40 Uhr bis 19.35 Uhr in G***** in der Strafsache gegen D***** S***** (§§ 107 Abs 1 und 2, 125 StGB) Beweismittel, nämlich Videoaufzeichnungen des Vorfalls mit D***** S***** im Lokal „U*****“ *****, somit ein Beweismittel, das zur Verwendung in einem Ermittlungsverfahren nach der Strafprozessordnung bestimmt ist und über das sie nicht oder nicht alleine verfügen darf, mit dem Vorsatz unterdrückt zu haben, zu verhindern, dass das Beweismittel im Verfahren gebraucht werde und dadurch das Vergehen der Unterdrückung eines Beweismittels nach § 295 StGB begangen zu haben.

Mit Ermittlungsanordnung vom 25.Mai 2011 beauftragte die Staatsanwaltschaft Graz die Polizeiinspektion L***** mit der Beschuldigtenvernehmung der Daniela R***** zum Vorwurf nach § 295 StGB (ON 21). Ebenso wurde das Landeskriminalamt, EB Betrug, mit Erhebungsauftrag vom 8. Juli 2011 beauftragt, die Beschuldigte ergänzend zu den in der Ermittlungsanordnung ON 24 näher genannten Fragen zum Vorwurf nach § 153 Abs 1 und 2 StGB zu vernehmen. Mit Abschlussbericht vom 23.August 2011 (ON 25) teilte das Landespolizeikommando für Steiermark mit, dass die Beschuldigte der Vorladung zur für 23.August 2011, 10.00 Uhr, vorgesehenen Vernehmung nicht nachgekommen sei. Am 23.August 2011 um 15.15 Uhr teilte der Verteidiger der Beschuldigten dem erhebenden Beamten der Kriminalpolizei per E-Mail mit, die Beschuldigte werde sich nicht vor der Polizei, sondern nur vor der Staatsanwaltschaft verantworten (Anlassbericht des Landepolizeikommandos für Steiermark vom 29.August 2011, ON 26). Mit noch am 29.August 2011 ergangener, am 2.September 2011 abgefertigter Anordnung ersuchte die Staatsanwaltschaft (unter Bezugnahme auf den Erlass des BMI vom 14.Dezember 2007, BMI-EE1500/0119-II/2/a/2007 zu Ladungen zur Vernehmung und auf die §§ 83 Abs 3 StPO sowie 17 und 21 ZustellG) neuerlich um Vernehmung der Beschuldigten nach qualifizierter Ladung, im Falle des Nichterscheinens um Vorführung der Beschuldigten zur Vernehmung gemäß § 153 Abs 2 StPO (ON 1, AS 17). Ladung und Nichterscheinen der Beschuldigten zu dem für 29.September 2011 festgesetzten Vernehmungstermin (vgl ON 30, AS 15ff) sind im Akt nicht dokumentiert.

Bereits gegen ihre von der Kriminalpolizei am 12.September 2011 ausgesprochene Ladung (Beschuldigtenladung im Anhang an die Beschwerde ON 30, Seite 17) durch das Landespolizeikommando für Steiermark zur Vernehmung am 29.September 2011 erhob die Beschuldigte am 23.September 2011 Einspruch wegen Rechtsverletzung nach § 106 Abs 1 StPO, mit dem sie beantragte, die Androhung der Vorführung für rechtswidrig zu erklären. Zur Begründung verwies die Beschuldigte auf § 153 (ohne Angabe eines Absatzes) StPO, wonach die Ladung durch die Kriminalpolizei und die Vorführung nur zulässig seien, wenn der Beschuldigte auf frischer Tat oder mit Gegenständen betreten worden sei, die auf seine Beteiligung an der Tat hinwiesen (ON 27).

Die Staatsanwaltschaft entsprach dem Einspruch nicht. Ihre Stellungnahme zum Einspruch wegen Rechtsverletzung (ON 28) übermittelte sie gemäß § 106 Abs 5 StPO der Einspruchswerberin zur Stellungnahme, die diese auch erstattete.

Mit dem angefochtenen Beschluss (ON 29) wies der Einzelrichter den Einspruch der Beschuldigten mit der Begründung zurück, die Vorladung sei eine kriminalpolizeiliche Ermittlungs- und Zwangsmaßnahme gewesen, gegen die ein Einspruch an das Gericht nicht zulässig sei.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die am 31.Oktober 2011 eingebrachte und damit rechtzeitige Beschwerde der Beschuldigten (ON 30).

Sie bleibt im Ergebnis erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Seine Formalentscheidung stützt der Einzelrichter offensichtlich auf die Aufhebung der Wortfolge "oder Kriminalpolizei" im ersten Satz des § 106 Abs 1 StPO durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 16.Dezember 2010, G 259/09 und andere, als verfassungswidrig mit der Begründung, der Rechtszug verletze das in Art 94 B-VG angelegte Verbot der Behandlung einer identen Sache durch Vollziehungsorgane verschiedenen Typs.

Die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegende Interpretation des Verfassungsgerichtshoferkenntnisses greift jedoch zu kurz.

Gemäß § 4 zweiter Satz StPO hat die Staatsanwaltschaft für die zur Entscheidung über das Einbringen der Anklage notwendigen Ermittlungen zu sorgen, die erforderlichen Anordnungen zu treffen und Anträge zu stellen. Sie leitet nach § 20 Abs 1 erster Halbsatz StPO und § 101 Abs 1 StPO das Ermittlungsverfahren.

Nach § 18 Abs 1 StPO besteht "Kriminalpolizei" in der Wahrnehmung von Aufgaben im Dienste der Strafrechtspflege (Art 10 Abs 1 Z 6 B-VG), insbesondere in der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten nach den Bestimmungen dieses Gesetzes. Nach §§ 98 Abs 1 zweiter Satz und 99 Abs 1 zweiter Halbsatz StPO hat die Kriminalpolizei Anordnungen der Staatsanwaltschaft (und des Gerichts) zu befolgen. Nach § 102 Abs 1 StPO hat die Staatsanwaltschaft ihre Anordnungen und Genehmigungen an die Kriminalpolizei gemäß deren Zuständigkeit zu richten. Nach § 103 Abs 1 erster Satz StPO obliegt es der Kriminalpolizei, soweit das Gesetz im Einzelnen nichts anderes bestimmt, die Anordnungen der Staatsanwaltschaft durchzuführen.

Im Ermittlungsverfahren haben Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei ihre Ermittlungskompetenzen möglichst im Einvernehmen zu nützen. Das Leitungsrecht der Staatsanwaltschaft zieht gegenüber den Ermittlungskompetenzen der Kriminalpolizei aufgrund ihres Leitungsrechts aber jedenfalls vor (Soyer/Kier, Anwaltsblatt 2008, 106). Ihre Anordnungen an die Kriminalpolizei werden daher von der Lehre auch als Weisungen qualifiziert (Wiederin, WK-StPO § 4 Rz 49; anderer Ansicht Vogl, WK-StPO § 98 Rz 19ff). Maßgebend für die Verantwortung für die Ermittlungen ist nach herrschender Meinung, auf wessen Willensentschluss der betreffende Akt zurückgeht.

Mit seinem Erkenntnis vom 16.Dezember 2010, G 259/09 ua, mit dem die Wortfolge "oder Kriminalpolizei" im ersten Satz des § 106 Abs 1 StPO mit sofortiger Wirkung als verfassungswidrig aufgehoben wurde (BGBl I Nr.1/2011 vom 18.Jänner 2011), hat der Verfassungsgerichtshof klargestellt, dass das selbständige Einschreiten der Kriminalpolizei ohne gerichtliche bzw staatsanwaltschaftliche Anordnung einen Akt der Sicherheitsbehörden und damit der unmittelbaren Ausübung der Befehls- und Zwangsgewalt der Verwaltung darstellt, dessen Rechtmäßigkeit durch die unabhängigen Verwaltungssenate und die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zu überprüfen ist. (Zur Diskussion der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der gerichtlichen Kontrolle der Kriminalpolizei siehe Burgstaller in Korinek/Holoubek (Hrsg), Bundesverfassungsrecht 2009 Art 90a B-VG Rz 18 und 20; Wiederin, In allen Instanzen getrennt, ÖJZ 2011/38 und Pilnacek, VfGH gegen einheitlichen Rechtsschutz im Ermittlungsverfahren der StPO, ÖJZ 2011/12).

Wurde das kriminalpolizeiliche Einschreiten durch die Staatsanwaltschaft angeordnet oder von ihr genehmigt, ist es ab diesem Zeitpunkt der Staatsanwaltschaft (und damit der Gerichtsbarkeit) zuzurechnen. Liegt für Ermittlungen die erforderliche gerichtliche Bewilligung vor, so soll diese Bewilligung auch nach dem VfGH-Erkenntnis die Zurechnung zum Gericht bewirken (Wiederin, WK-StPO § 4 Rz 52; Reindl-Krauskopf, UVS oder Strafjustiz: Wer kontrolliert die Kriminalpolizei?, JBl 2011,347).

An der Zuordenbarkeit der beeinspruchten Ermittlungsmaßnahme einer Ladung der Beschuldigten zur Vernehmung unter Androhung der Vorführung nach § 153 Abs 2 StPO zur Staatsanwaltschaft können keine Zweifel bestehen, wie sie beispielsweise für die Verweigerung der Ausübung eines von der StPO eingeräumten Rechts durch die Polizei (§ 106 Abs 1 Z 1 StPO), polizeiliches Handeln im Fall von Gefahr im Verzug vor nachträglicher Genehmigung nach § 99 Abs 2 StPO, doppelfunktionale Ermittlungsakte der Polizei oder einen exzessus mandati der Polizei bei Durchführung einer staatsanwaltschaftlich angeordneten bzw gerichtlich bewilligten Ermittlungsmaßnahme aufgezeigt wurden (Burgstaller zu VfGH vom 16.Dezember 2010, G 259/09 ua, JBl 2011,169ff; Pilnacek, ÖJZ 2011,12, Reindl-Krauskopf, JBl 2011,345ff (351)).

Die "Vernehmung" ist das Befragen von Personen (sei es von Beschuldigten oder von Zeugen: Pilnacek/Pleischl, Das neue Vorverfahren § 153 Rz 630) nach förmlicher Information über ihre Stellung und ihre Rechte im Verfahren. Die Vernehmung ist eine Maßnahme des Ermittlungsverfahrens nach der StPO (Definition in § 151 Z 2 StPO). Sie dient der Aufklärung einer Straftat und der Beweisaufnahme und ist von Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Gericht durchzuführen (§ 153 Abs 1 StPO; Kirchbacher, WK-StPO § 151 Rz 3).

Im Ermittlungsverfahren nimmt die Kriminalpolizei den Großteil der Erkundigungen und Vernehmungen vor (Kirchbacher, WK-StPO § 151 Rz 3 und § 153 Rz 1). Eine Person, die vernommen werden soll (sei es nun ein Beschuldigter oder ein Zeuge), ist nach den in § 153 Abs 2 StPO festgelegten Förmlichkeiten in der Regel schriftlich vorzuladen und hat eine solche Ladung zu befolgen. Die mit der vorliegenden Beschwerde bekämpfte Androhung der Vorführung (hier: durch die Kriminalpolizei über Anordnung der Staatsanwaltschaft) ist die gesetzliche Voraussetzung für die Vorführung für den Fall des ungerechtfertigten Ausbleibens (§ 153 Abs 2 vierter Satz StPO; Kirchbacher, WK-StPO § 153 Rz 5). Eine Verhinderung der vorgeladenen Person hat diese der vorladenden Stelle mitzuteilen oder mitteilen zu lassen. Ohne mögliche, ausreichende und rechtzeitige Entschuldigung riskiert die vorgeladene Person ihre Vorführung. Die Zustellung der Ladung, mit der die Vorführung ausdrücklich angedroht wurde, muss qualifiziert nachgewiesen sein (§ 83 Abs 3 StPO). Ob das Ausbleiben einer Person nach Androhung der Vorführung ungerechtfertigt war, ist einzelfallbezogen zu beurteilen. Bei Beschuldigten wird in der Praxis ein strenger Maßstab angelegt. Wird ein Unglücks- oder Krankheitsfall geltend gemacht, der den Vorgeladenen am Befolgen der Ladung gehindert haben soll, so wird eine Überprüfung der Angaben vor einer Vorführung allerdings angezeigt sein. Ob der Entschuldigungsgrund der vorladenden Stelle vor oder nach dem Termin des vorgesehenen Erscheinens bekannt gegeben wird, ist nicht entscheidend (Kirchbacher, WK-StPO § 153 Rz 10).

Die Ladung der Beschuldigten unter Androhung der Vorführung für den Fall ungerechtfertigten Nichterscheinens durch die Kriminalpolizei erfolgte im vorliegenden Fall über Anordnung der Staatsanwaltschaft und stellte damit eine Zwangsmaßnahme nach der Strafprozessordnung dar, gegen die der Einspruch wegen Rechtsverletzung nach § 106 Abs 1 Z 2 StPO zulässig ist (Vogl, WK-StPO § 18 Rz 42 mwN).

Die Zurückweisung des Einspruchs der Beschuldigten durch den Einzelrichter mit dem angefochtenen Beschluss ON 29 war daher verfehlt.

Inhaltlich blieb der Beschwerde der Erfolg dennoch versagt.

Die Vorgangsweise der Kriminalpolizei entsprach der Anordnung der Staatsanwaltschaft und stand mit dem Gesetz in der Bestimmung des § 153 Abs 1 StPO in Einklang. Soweit die Beschuldigte in ihrer Beschwerde vermeint, eine Vorführung sei nur im Falle einer Betretung auf frischer Tat oder einer unmittelbar danach erfolgten glaubwürdigen Beschuldigung der Tatbegehung oder der Betretung mit Gegenständen, die auf eine Beteiligung an der Tat hinweisen, zulässig, stützt sie sich offensichtlich auf § 153 Abs 3 zweiter Satz StPO, der aber auf die vorliegende Fallgestaltung nicht anwendbar ist, weil er die Kompetenz der Kriminalpolizei für die sofortige Vorführung des Beschuldigten ohne vorhergehende Anordnung der Staatsanwaltschaft oder - in den Fällen der §§ 104, 105 oder 107 StPO - des Gerichts regelt.

Anzumerken bleibt, dass das aus Art 6 Abs 1 und Abs 2 EMRK erfließende Recht des (der) Beschuldigten, im Sinne eines fairen Verfahrens und mit Blick auf die Unschuldsvermutung und das nemo-tenetur-Prinzip (§ 7 Abs 2 StPO) auszusagen oder die Aussage zu verweigern, (einfachgesetzlich geregelt in den §§ 49 Z 4 und 164 Abs 1 StPO; Kirchbacher, WK-StPO § 164 Rz 17), von der Möglichkeit, sein Erscheinen nach § 153 Abs 2 StPO zu erzwingen, unberührt bleibt.

Der Beschuldigte im Ermittlungsverfahren hat kein subjektives Recht, von Staatsanwaltschaft oder Gericht angeordnete Ladungen der Kriminalpolizei oder Ladungen der Staatsanwaltschaft und des Gerichts ungerechtfertigt nicht zu befolgen; wohl aber steht es ihm im Rahmen seiner Vernehmung jederzeit frei, auszusagen oder die Aussage zu verweigern.

Oberlandesgericht Graz, Abteilung 10

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