JudikaturOGH

10ObS97/25z – OGH Entscheidung

Entscheidung
21. Oktober 2025

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hargassner als Vorsitzenden, den Vizepräsidenten Hon. Prof. PD Dr. Rassi und den Hofrat Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Manfred Joachimsthaler und Helmut Purker (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dr. E*, vertreten durch Mag. Martin Flatscher, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84–86, vertreten durch Dr. Eva-Maria Bachmann und Dr. Christian Bachmann, Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 9. Juli 2025, GZ 23 Rs 12/25y 28, mit dem das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits und Sozialgericht vom 20. November 2024, GZ 46 Cgs 169/23h 20, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Qualifikation der bei der Klägerin aufgetretenen COVID 19 Erkrankung als Berufskrankheit gemäß § 177 Abs 1 ASVG iVm Nr 38 der Anlage 1 zum ASVG (in der zum Infektionszeitpunkt geltenden Fassung; nunmehr Nr 3.1. der Anlage 1 zum ASVG idF BGBl I 2024/10 6).

[2] Die Klägerin war im maßgebenden Zeitraum als systemische Psychotherapeutin selbständig berufstätig. Ihre Praxisräumlichkeiten teilte sie sich mit zwei Physiotherapeuten und einer medizinischen Fußpflegerin, wobei die Therapieräumlichkeiten getrennt waren. Im September 2023 infizierte sie sich während ihrer Tätigkeit mit COVID 19. Als Folge dieser Infektion resultiert seit 7. 11. 2023 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt von 50 %.

[3] Mit Bescheid vom 15 . 12 . 202 3 lehnte die Beklagte die Anerkennung der am 24. 10. 2023 von der Klägerin gemeldeten COVID-19-Erkrankung als Berufskrankheit mit der Begründung ab, dass keine Berufskrankheit im Sinn der Anlage 1 zum ASVG vorliege, weil die Klägerin nicht in einem dort genannten Unternehmen oder einem solchen mit einer vergleichbaren Gefährdungslage beschäftigt gewesen sei.

[4] Die Klägerin begehrt (erkennbar; RS0084069 [T8]) die Leistung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß, hilfsweise die Feststellung, dass näher genannte Gesundheitsstörungen Folgen einer Berufskrankheit sind.

[5] Das Erstgericht stellte „die COVID-19-Infektion der Klägerin als Berufskrankheit“ fest und verpflichtete die Beklagte zur Leistung einer 50% igen vorläufigen Versehrtenrente ab 7. 11. 2023. Es qualifizierte das Unternehmen der Klägerin als ein solches im Sinn der Generalklausel der Nr 38 der Anlage 1 zum ASVG, weil die Tätigkeit der Klägerin in Bezug auf die Gefährdungslage mit jener eines praktischen Arztes bzw eines Facharztes mit eigener Praxis vergleichbar sei.

[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies die Klagebegehren ab. Das Unternehmen der Klägerin sei nicht als Einrichtung und Beschäftigung im Gesundheitsdienst im Sinn der taxativen Aufzählung der Nr 38 der Anlage 1 zum ASVG zu verstehen. Auch die Formulierung „Einrichtungen und Beschäftigungen [...] im Gesundheitsdienst“ deute darauf hin, dass darunter nur institutionelle Einrichtungen, in denen von vornherein Kontakt zu einer größeren Anzahl an Personen zu erwarten sei, oder solche, bei denen bereits ausgehend von ihrem Unternehmensgegenstand eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für einen Kontakt mit infektiösen Personen bestehe, zu verstehen seien. Das Unternehmen der Klägerin falle mangels vergleichbarer Gefährdung auch nicht unter die Generalklausel.

[7] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil es der Frage der Auslegung der Formulierung der „Einrichtung und Beschäftigung im Gesundheitsdienst“ und der Anwendung der Generalklausel auf (selbständige) Beschäftigungen eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zumaß.

[8] Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag auf Abänderung der Entscheidung des Berufungsgerichts im Sinn einer Wiederherstellung des Ersturteils; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9] In der Revisionsbeantwortung beantragt die Beklagte die Zurückweisung der Revision, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben .

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.

[11] 1.1. Als Berufskrankheiten gelten gemäß § 177 Abs 1 ASVG die in der Anlage 1 zum ASVG bezeichneten Krankheiten unter den dort angeführten Voraussetzungen, wenn sie durch Ausübung der die Versicherung begründenden Beschäftigung in einem in Spalte 3 der Anlage 1 bezeichneten Unternehmen verursacht sind.

[12] 1.2. Hinsichtlich Infektionskrankheiten waren unter Nr 38 folgende Unternehmen aufgezählt: Krankenhäuser, Heil- und Pflegeanstalten, Entbindungsheime und sonstige Anstalten, die Personen zur Kur und Pflege aufnehmen, öffentliche Apotheken, ferner Einrichtungen und Beschäftigungen in der öffentlichen und privaten Fürsorge, in Schulen, Kindergärten und Säuglingskrippen und im Gesundheitsdienst sowie in Laboratorien für wissenschaftliche und medizinische Untersuchungen und Versuche sowie in Justizanstalten und Hafträumen der Verwaltungsbehörden bzw in Unternehmen, in denen eine vergleichbare Gefährdung besteht.

[13] Seit dem Berufskrankheiten Modernisierungs-Gesetz ( BGBl I 2024/18 ) findet sich diese Aufzählung wortgleich unter Nr 3.1., sodass der Einfachheit halber in der Folge nur darauf Bezug genommen wird.

[14] 1.3. Die in Nr 3.1. aufgezählten Unternehmen sind dadurch gekennzeichnet, dass die dort beschäftigten Personen nach durchschnittlicher Betrachtung und im Regelfall in einem ganz besonderen Ausmaß der Gefahr von Ansteckungen ausgesetzt sind ( RS0085380 ), während das bloße Risiko, mit allenfalls Infizierten kurz in Kontakt zu kommen, dem alle Erwerbstätigen ausgesetzt sind, die im intensiven, ständigen Kontakt mit Menschen stehen, nicht hinreicht, um Infektionskrankheiten als Berufskrankheit zu qualifizieren ( 10 ObS 69/25g Rz 5 mwN). Die typische Gefährdung in Krankenhäusern und sonstigen Gesundheitseinrichtungen im Sinn der Nr 3.1. der Anlage 1 zum ASVG ergibt sich daraus, dass sich (auch) infizierte Patienten bestimmungsgemäß in den Räumlichkeiten dieser Anstalten aufhalten und Beschäftigte eher als in anderen Unternehmensbetrieben mit infektiösen Aerosolen oder mi t kontaminierten Gegenständen und Flächen in Berührung kommen (RS0085380 [T8]).

[15] 2. Der Klägerin ist zunächst darin zuzustimmen, dass auch eine selbständige Erwerbstätigkeit eine Beschäftigung im Sinn des § 177 Abs 1 ASVG darstellen kann (vgl § 8 Abs 1 Z 3 lit a ASVG). Eine „Beschäftigung im Gesundheitsdienst“ im Sinn der Nr 3.1. der Anlage 1 zum ASVG kann daher – bei Zutreffen der sonstigen Voraussetzungen, insbesondere eines entsprechenden Unternehmens – durch eine selbständige Tätigkeit begründet werden. Auf die Frage, ob der Begriff „Einrichtungen“ im Gesundheitsdienst nur „institutionelle“ Einrichtungen meint, wie dies das Berufungsgericht andeutete, kommt es daher nicht entscheidend an.

[16] 3.1. Die Wendung „Beschäftigung im Gesundheitsdienst“ umfasst nach ihrem üblichen Wortsinn sämtliche Unternehmen, deren Gegenstand die Erhaltung oder Wiederherstellung der menschlichen Gesundheit ist. Darunter würden daher auch Unternehmen fallen, in denen aufgrund eines eingeschränkten Unternehmensgegenstands eine besondere Gefährdung speziell durch Infektionskrankheiten nicht besteht.

[17] 3.2. Insofern ist die Bestimmung teleologisch zu reduzieren (vgl bereits RS0134302 [T10] = RS0085380 [T3]): Die teleologische Reduktion verschafft der ratio legis nicht gegen einen zu engen, sondern gegen einen überschießend weiten Gesetzeswortlaut Durchsetzung. Die (verdeckte) Lücke besteht im Fehlen einer nach der ratio notwendigen Ausnahme. Vorausgesetzt ist stets der Nachweis, dass eine umschreibbare Fallgruppe von den Grundwertungen oder Zwecken des Gesetzes entgegen seinem Wortlaut gar nicht getroffen wird und dass sie sich von den „eigentlich gemeinten“ Fallgruppen so weit unterscheidet, dass die Gleichbehandlung sachlich ungerechtfertigt und willkürlich wäre ( RS0008979 ).

[18] 3.3. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Gesetzgeber hatte im Zusammenhang mit Einrichtungen und Beschäftigungen im Gesundheitsdienst erkennbar (Anlage 1 zum ASVG) solche Unternehmen vor Augen, deren Gegenstand die Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit generell, also zumindest auch jener von infizierten Personen sind. Die Einbeziehung von Unternehmen im Gesundheitsdienst, in denen aufgrund des auf die Behandlung von nicht infizierten Personen beschränkten Unternehmensgegenstands die geforderte besondere Ansteckungsgefahr gar nicht gegeben ist, würde nicht nur den Wertungen des Gesetzgebers (Pkt 2.) widersprechen, sondern auch die Nichteinbeziehung sonstiger Beschäftigungen in Unternehmen als sachlich nicht gerechtfertigt erscheinen lassen, wenn Versicherte dort im intensiven, ständigen Kontakt mit typischerweise nicht infizierten Personen stehen, sich aber nicht auf das Vorliegen einer Infektionskrankheit als Berufskrankheit berufen können.

[19] 3.4. Der Unternehmensgegenstand einer psychotherapeutischen Praxis beschränkt sich in diesem Sinn typischerweise auf die Behandlung von regelmäßig nicht infizierten Personen. Die Klägerin war daher zwar in einem intensiven und ständigen Kontakt mit Menschen, bei generell-abstrakter Betrachtung aber nicht dem von Nr 3.1. der Anlage 1 zum ASVG geforderten besonderen Ansteckungsrisiko ausgesetzt, weil in ihrem Unternehmen kein unmittelbarer Kontakt mit infizierten Personen vorgesehen ist und sich solche Personen dort auch nicht bestimmungsgemäß aufhalten. Die Frage, ob die Ausübung ihrer Tätigkeit im Rahmen einer Gemeinschaftspraxis dazu führt, dass diese Gemeinschaftspraxis als solches als Unternehmen anzusehen ist, bedarf hier keiner abschließenden Beurteilung, weil auch der solcherart abgegrenzte Unternehmensgegenstand auf die Behandlung nicht infizierter Personen beschränkt wäre und folglich nicht die Voraussetzungen der Nr 3.1. der Anlage 1 zum ASVG erfüllen würde.

3.5. Zusammenfassend folgt:

[20] Die Aufzählung von Krankenhäusern und sonstigen Gesundheitseinrichtungen in Nr 3.1. der Anlage 1 zum ASVG umfasst infolge teleologischer Reduktion nicht solche Unternehmen, deren Gegenstand auf die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit ausschließlich von nicht infizierten Menschen beschränkt ist.

[21] 4. Der Klägerin ist auch nicht darin zu folgen, dass in ihrem Unternehmen, in dem sie tätig war, eine vergleichbare Gefährdung im Sinn der Generalklausel der Nr 3.1. der Anlage 1 zum ASVG bestand.

[22] Wie bereits ausgeführt (oben Pkt 3.4.) besteht dort nicht die in Krankenhäusern und sonstigen Gesundheitseinrichtungen vorhandene besondere Ansteckungsgefahr. Das besondere Infektionsrisiko in den ebenfalls aufgezählten Schulen oder Haftanstalten ergibt sich daraus, dass sich dort zahlreiche Personen für lange Zeit gemeinsam in einem geschlossenen Raum aufhalten ( 10 ObS 69/25g Rz 5 mwN), was auf eine (allenfalls Gemeinschafts )Praxis wie jene, in der die Klägerin tätig war, typischerweise nicht zutrifft. Eine im Vergleich zu anderen Unternehmen besondere Gefahr der Ansteckung mit Infektionskrankheiten besteht weiters bei Einrichtungen und Beschäftigungen in der öffentlichen und privaten Fürsorge wegen des bestimmungsgemäßen Kontakts zu typischerweise aufgrund von (unter anderem) Krankheit oder wirtschaftlicher Not (und den damit allenfalls einhergehenden hygienischen Defiziten) hilfsbedürftigen Personen, was für das Unternehmen, in dem die Klägerin tätig war, ebenso wenig typisch ist.

[23] 5.1. Das Unternehmen, in dem die Klägerin tätig war, fällt daher nicht unter die Nr 3.1. der Anlage 1 zum ASVG, sodass die Qualifikation der COVID-19-Erkrankung der Klägerin als Berufskrankheit ausscheidet. Die Entscheidung des Berufungsgerichts war daher zu bestätigen.

[24] 5.2. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Zwar entspricht es der Billigkeit, dem unterlegenen Versicherten die Hälfte der Kosten seiner Rechtsvertretung zuzuerkennen, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO abhängt ( RS0085871 ). Ein Kostenzuspruch kommt hier aber nicht in Betracht, weil aus der Aktenlage keine Angaben zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Klägerin ersichtlich sind, die einen Kostenzuspruch rechtfertigen könnten ( RS0085871 [T7] ).

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