JudikaturOGH

10ObS72/25y – OGH Entscheidung

Entscheidung
10. Juli 2025

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, den Vizepräsidenten Hon. Prof. PD Dr. Rassi, den Hofrat Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Sibylle Wagner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Sylvia Zechmeister (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei *, vertreten durch Dr. Rudolf Kathrein, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1100 Wien, Wienerbergstraße 15–19, wegen Kostenerstattung (37,30 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 26. Mai 2025, GZ 25 Rs 7/25b 22, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Wegen Kreuzbeschwerden bemühte sich der Kläger im Mai 2023 um einen Termin bei einem Orthopäden, der Vertragspartner des beklagten Sozialversicherungsträgers ist. Von einigen Ärzten wurde dem Kläger ein Termin in drei bis vier Monaten (also für August bis September 2023) in Aussicht gestellt, was vom Kläger aber nicht in Anspruch genommen wurde. Vielmehr ließ sich der Kläger im Sommer 2023 (erfolglos) bei einem Orthopäden im Ausland behandeln.

[2] Klagsgegenständlich ist die anschließend vom Kläger bei einem (österreichischen) Wahlarzt für Orthopädie am 23. 11. 2023 vorgenommene Behandlung. Von den vom Kläger dafür bezahlten Kosten in Höhe von 75,32 EUR, wurden ihm von der Beklagten 38,02 EUR rückerstattet.

[3] Die Erstattung von weiteren Kosten in Höhe von 37,30 EUR lehnte die Beklagte mit dem klagsgegenständlichen Bescheid unter Bezugnahme auf § 131 Abs 1 ASVG und die ab 2023 geltende Honorarordnung für Vertragsärzte vom 7. 8. 2024 ab.

[4] Mit seiner dagegen erhobenen Klage begehrt der Kläger die Erstattung des Differenzbetrags von 37,30 EUR. Dem Kläger sei es aus Gründen, die ausschließlich in der Sphäre der Beklagten lägen, nicht möglich gewesen, die erforderliche Krankenbehandlung innerhalb einer vertretbaren Frist in einer Vertragseinrichtung der Beklagten zu erlangen. Selbst wenn der Kläger zeitgerecht eine Vertragseinrichtung der Beklagten konsultieren hätte können, hätte die Beklagte für die entsprechenden Behandlungen zumindest 75,32 EUR aufwenden müssen. Es entspreche nicht der Realität, dass der Kläger bei einem Vertragsarzt nur 38,02 EUR bezahlen hätte müssen. § 131 Abs 1 und 6 ASVG seien verfassungswidrig.

[5] Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab.

[6] Das Erstgericht vertrat die Ansicht, dass ein Termin von drei bis vier Monaten noch zu akzeptieren sei, zumal der Kläger keinen Arzt für Allgemeinmedizin aufgesucht habe, um dort allenfalls wegen einer Überweisung einen schnelleren Termin bei einem Orthopäden zu bekommen. Der Sachverhalt reiche nicht aus, der Beklagten mit Blick auf § 131 Abs 6 ASVG die Kosten der Wahlarztbehandlung zur Gänze aufzuerlegen. Der dem Kläger ersetzte Betrag ergebe sich nachvollziehbar aus der Honorarordnung. Der Umstand, dass der Kläger nach § 131 Abs 1 ASVG nur 80 % des Vertragstarifs erhalte, sei nicht verfassungswidrig.

[7] Das Berufungsgericht bejahte ebenfalls die Anwendung des § 131 Abs 1 ASVG. Ein medizinischer Notfall iSd § 131 Abs 3 ASVG sei nicht vorgelegen. Zudem habe sich das Vorbringen des Klägers, dass er keinen Vertragsarzt in Anspruch hätte nehmen können, auf die Behandlung des von ihm im Juni (im Ausland) beigezogenen Orthopäden und nicht auf die klagsgegenständliche Behandlung am 23. 11. 2023 bezogen. Gegen § 131 ASVG bestünden keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

Rechtliche Beurteilung

[8] In seiner außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung i Sd § 502 Abs 1 ZPO auf.

[9] 1.1 § 131 ASVG verfolgt die Intention, eine qualitativ hochwertige ärztliche Versorgung der Versicherten sicherzustellen. Dies ergibt sich deutlich auch aus § 131 Abs 6 ASVG, wonach eine Kostenerstattung bis zu 100 % des Kassentarifs in der Satzung des Krankenversicherungsträgers vorgesehen werden kann, wenn eine flächendeckende Versorgung der Versicherten durch Verträge nicht in ausreichendem Maß gesichert ist . Die flächendeckende Versorgung ist gemäß § 131 Abs 6 Satz 2 ASVG im Regelfall dann anzunehmen, wenn Gesamtverträge nach dem sechsten Teil des ASVG bestehen (10 ObS 142/20k Rz 55).

[10] 1.2 Nach dem hier vorliegenden Sachverhalt wäre es dem Kläger deutlich vor Inanspruchnahme eines Wahlarztes im November 2023 (nämlich spätestens im September 2023) möglich gewesen, einen Vertragsarzt zu besuchen, sodass es jedenfalls keiner Korrektur durch gegenteilige Sachentscheidung bedarf, wenn die Vorinstanzen hier die Voraussetzungen des § 131 Abs 6 ASVG verneinten.

[11] 1.3 Insoweit das Rechtsmittel den Standpunkt vertritt, § 131 Abs 1 ASVG komme hier „mangels effektiver Wahlmöglichkeit zwischen Vertrags- und Wahlarzt“ gar nicht zur Anwendung, wird keine erhebliche Rechtsfrage aufgeworfen. Der Kläger blendet dabei nämlich den Umstand aus, dass ihn ein Vertragsarzt deutlich früher als der (erst Ende November 2023) herangezogene Wahlarzt behandeln hätte können.

[12] 1.4 Der Beurteilung des Berufungsgerichts, dass hier mangels eines akuten Notfalls die Bestimmung des § 131 Abs 3 ASVG nicht zur Anwendung kommt (vgl dazu jüngst 10 ObS 101/24m Rz 30 ff), tritt das Rechtsmittel nicht entgegen.

[13] 2.1 Der Verfassungsgerichtshof hat bereits zu G 24/98 die 80 % Regel in § 131 Abs 1 ASVG und auch die Norm des § 131 Abs 6 ASVG als verfassungskonform qualifiziert (RS0113501). Auch gegen die Pauschalierung der Berücksichtigung der Mehrkosten hatte der Verfassungsgerichtshof keinen Einwand.

[14] 2.2 Im Übrigen hat bereits das Berufungsgericht im Sinne gesicherter Judikatur allgemein darauf verwiesen, dass dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum verfassungsrechtlich insoweit zusteht, als er in seinen rechtspolitischen und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen frei ist. Gerade im Sozialversicherungsrecht ist eine durchschnittliche Betrachtungsweise (in casu damit auch Pauschalierungen und fixe Tarifmodelle) erforderlich, die auf den Regelfall abstellt und damit Härten in Einzelfällen nicht ausschließen kann (RS0053889; RS0117654). Warum diese Grundsätze nicht auch für das System der Erstattung von Kosten der Krankenbehandlung gelten sollen, vermag das Rechtsmittel nicht aufzuzeigen.

[15] 3.1 Angebliche Mängel des Verfahrens erster Instanz, die vom Berufungsgericht nicht als solche anerkannt worden sind, können nicht nach § 503 Z 2 ZPO geltend gemacht werden (RS0042963). Dies gilt auch im Sozialrechtsverfahren (RS0043061). Nur wenn das Berufungsgericht infolge unrichtiger Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften eine Erledigung der Mängelrüge unterlassen oder sie mit einer durch die Aktenlage nicht gedeckten Begründung verworfen hat, liegt ein Mangel des Berufungsverfahrens selbst vor, der in der Revision geltend zu machen ist (RS0040597 [T3, T4]). Entsprechendes gilt, wenn das Berufungsgericht das Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels erster Instanz mit einer bloßen Scheinbegründung abtut und die Mängelrüge in Wirklichkeit daher gar nicht erledigt oder ein krasser Fall einer unhaltbaren Begründung vorliegt, der jedes Beurteilungsspielraums entbehrt (RS0041032 [T13, T14]).

[16] 3.2 Der Senat erblickt in der ausführlichen Begründung des Berufungsgerichts weder eine Scheinbegründung noch eine unhaltbare Begründung, sodass die diesbezüglichen gegenteiligen Ausführungen im Rechtsmittel die Zulässigkeit der Berufung nicht stützen können.

[17] 3.3 Auch die angebliche Mangelhaftigkeit des zweitinstanzlichen Verfahrens wegen der Nichtdurchführung einer Berufungsverhandlung wirft keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung auf, zumal der Kläger nicht ansatzweise die Relevanz des behaupteten Verfahrensverstoßes darlegt (zB 1 Ob 41/10a ErwGr 2; 1 Ob 148/15v ErwGr 1).

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