10ObS69/24f – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Alexander Noga (aus dem Krei s der Arbeitgeber) und Mag. Maria Buhr (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozia lrechtssache der klagenden Partei A* S*, vertreten durch die Strohmayer Heihs Strohmayer Rechtsanwälte OG in St. Pölten, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1100 Wien, Wienerbergstraße 11, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Dr. Simone Metz, LL.M., Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Feststellung von Versicherungszeiten, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. Mai 2024, GZ 7 Rs 109/23k 15, mit dem das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 14. September 2023, GZ 26 Cgs 93/23i 9, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art 44 Abs 2 Satz 1 erster Halbsatz der Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit dahin auszulegen, dass der gemäß Titel II der Verordnung (EG) Nr 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zuständige Mitgliedstaat Kindererziehungszeiten nach seinen Rechtsvorschriften generell nicht berücksichtigt oder nur in einem konkreten Fall nicht berücksichtigt?
2. Ist Art 21 AEUV dahin auszulegen, dass der für die Gewährung einer Altersrente leistungspflichtige Mitgliedstaat für den Fall, dass die in Art 44 Abs 2 der Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 aufgestellten Voraussetzungen a. der Ausübung einer Beschäftigung oder einer selbständigen Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat zum Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind begann, oder b. der Nichtberücksichtigung von Kindererziehungszeiten durch den gemäß Titel II der Verordnung (EG) Nr 883/2004 zu r Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zuständigen Mitgliedstaat nicht erfüllt sind, aber die betreffende Person Versicherungszeiten aus einer Beschäftigung sowohl vor als auch nach den Kindererziehungszeiten im leistungspflichtigen Mitgliedstaat zurückgelegt hat, verpflichtet ist, die Erziehungszeiten ungeachtet dessen zu berücksichtigen, dass die Person nach Ende der Zeiten der Kindererziehung auch in einem dritten Mitgliedstaat Versicherungszeiten aus einer Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit erworben hat?
II. Das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a GOG ausgesetzt.
Text
Begründung:
I. Verfahrensgegenstand und Sachverhalt
[1] Frau S* wurde im Jahr 1963 geboren. Sie erwarb zwischen 1. November 1980 und 31. April 1984 30 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit ( Lehrling und Angestellte) und im Anschluss bis 30. September 1984 Ersatzzeiten im Ausmaß von fünf Monaten in Österreich.
[2] Am 23. Juli 1984 wurde der erste Sohn von Frau S* in Österreich geboren. Bis 30. April 1985 waren Frau S* und ihr Sohn in Österreich gemeldet; sie widmete sich in dieser Zeit ausschließlich der Kindererziehung.
[3] Im Mai 1985 zog Frau S* mit ihrem Sohn zu ihrem Ehemann in das Königreich Belgien (künftig nur noch: Belgien), wo am 15. März 1986 ihr zweiter Soh n geboren wurde. I n Belgien ging Frau S* keiner Beschäftigung nach und widmete sich bis 1993 ausschließlich der Kindererziehung. Sie erwarb in diesem Zeitraum weder (Sozial )Versicherungsmonate, noch erhielt sie Leistungen aufgrund von Kindererziehung oder Kinderbetreuung . Obwohl in Belgien für die Berechnung der Alterspension grundsätzlic h Zeiten der Kindererziehung berücksichtigt werden können, wurden solche bei Frau S* nicht berücksichtigt.
[4] Im Jahr 1993 nahm sie (als Grenzgängerin) eine Beschäftigung in Deutschland auf, der sie bis 2013 nachging und bei der sie insgesamt 240 deutsche Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Beschäftigung erwarb.
[5] Seit April 2013 lebt Frau S* wieder in Österreich und erwarb bis 1. Mai 2023 weitere 120 Beitragsmonate der Pflichtversicherung.
II. Unionsrechtliche Grundlagen
[6] Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (künftig: DVO 987/2009):
„Artikel 44
Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten
(1) Im Sinne dieses Artikels bezeichnet der Ausdruck 'Kindererziehungszeit' jeden Zeitraum, der im Rahmen des Rentenrechts eines Mitgliedstaats ausdrücklich aus dem Grund angerechnet wird oder Anrecht auf eine Zulage zu einer Rente gibt, dass eine Person ein Kind aufgezogen hat, unabhängig davon, nach welcher Methode diese Zeiträume berechnet werden und unabhängig davon, ob sie während der Erziehungszeit anfallen oder rückwirkend anerkannt werden.
(2) Wird nach den Rechtsvorschriften des gemäß Titel II der Grundverordnung zuständigen Mitgliedstaats keine Kindererziehungszeit berücksichtigt, so bleibt der Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach Titel II der Grundverordnung auf die betreffende Person anwendbar waren, weil diese Person zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach diesen Rechtsvorschriften begann, eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, zuständig für die Berücksichtigung dieser Zeit als Kindererziehungszeit nach seinen eigenen Rechtsvorschriften, so als hätte diese Kindererziehung in seinem eigenen Hoheitsgebiet stattgefunden.
(3) Absatz 2 findet keine Anwendung, wenn für die betreffende Person die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats aufgrund der Ausübung einer Beschäftigung oder einer selbständigen Erwerbstätigkeit anwendbar sind oder anwendbar werden.“
III. Nationales Recht
[7] 1. Allgemeines Pensionsgesetz (APG):
„ Alterspension, Anspruch
§ 4. (1) Anspruch auf Alterspension hat die versicherte Person nach Vollendung des 65. Lebensjahres (Regelpensionsalter), wenn bis zum Stichtag [...] mindestens 180 Versicherungsmonate nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz vorliegen, von denen mindestens 84 auf Grund einer Erwerbstätigkeit erworben wurden (Mindestversicherungszeit).“
„§ 16 [...] (3a)
Für die Erfüllung der Mindestversicherungszeit nach § 4 Abs 1 gelten als Versicherungsmonate auch Ersatzzeiten der Kindererziehung nach den §§ 227a ASVG [...] die vor dem 1. Jänner 2005 erworben wurden.
[...]
(6) Abweichend von § 4 Abs 1 bestimmt sich das Anfallsalter für weibliche Versicherte, die das 60. Lebensjahr vor dem 1. Jänner 2024 vollenden, nach § 253 Abs 1 ASVG.“
[8] 2. Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG):
„ Versicherungszeiten
§ 224. Unter Versicherungszeiten sind die in den §§ 225 und 226 angeführten Beitragszeiten und die in den §§ 227, 227a, 228, 228a und 229 angeführten Ersatzzeiten zu verstehen.“
„ Ersatzzeiten für Zeiten der Kindererziehung aus der Zeit nach dem 31. Dezember 1955 und vor dem 1. Jänner 2005
§ 227a. (1) Als Ersatzzeiten aus der Zeit nach dem 31. Dezember 1955 und vor dem 1. Jänner 2005 gelten überdies in dem Zweig der Pensionsversicherung, in dem die letzte vorangegangene Beitragszeit bzw beim Fehlen einer solchen, in dem die erste nachfolgende Beitragszeit vorliegt, bei einer (einem) Versicherten, die (der) ihr (sein) Kind (Abs 2) tatsächlich und überwiegend erzogen hat, die Zeit dieser Erziehung im Inland im Ausmaß von höchstens 48 Kalendermonaten, gezählt ab der Geburt des Kindes. Im Fall einer Mehrlingsgeburt verlängert sich diese Frist auf 60 Kalendermonate.
(2) Als Kind im Sinne des Abs. 1 gelten:
1. die Kinder der versicherten Person;
[...]
(3) Liegt die Geburt [...] eines weiteren Kindes v or dem Ablauf der 48-Kalendermonate-Frist [...], so erstre ckt sich diese nur bis zu dieser neuerlichen Geburt [...].“
„ Feststellung von Versicherungs- und Schwerarbeitszeiten
§ 247 (1) Der leistungszuständige Pensionsversicherungsträger hat die nach den österreichischen Rechtsvorschriften zu berücksichtigenden Versicherungszeiten festzustellen, wenn dies der (die) Versicherte beantragt. Für die Antragstellung und die Feststellung der Leistungszuständigkeit ist § 223 Abs 2 entsprechend anzuwenden.“
„ Alterspension
§ 253 (1) Anspruch auf Alterspension hat der Versicherte nach Vollendung des 65. Lebensjahres (Regelpensionsalter), die Versicherte nach Vollendung des 60. Lebensjahres (Regelpensionsalter) [...] .“
IV. Vorbringen und Anträge der Parteien
[9] Frau S* beantragte bei der beklagten P ensionsversicherungsanstalt (künftig: PVA) die Feststellung ihrer Versicherungszeiten nach § 247 Abs 1 ASVG.
[10] Die PVA stellte mit Bescheid vom 15. Mai 2023 zum Feststellungszeitpunkt (1. Mai 2023) insgesamt 162 nach den österreichischen Rechtsvorschriften erworbene Versicherungsmonate der Klägerin (davon 115 Beitragsmonat e aufgrund einer Erwerbstätigkeit) fest. Darin sind nur die Monate Oktober 1984 bis April 1985 als Ersatzzeiten für Kindererziehung enthalten.
[11] Mit ihrer gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt Frau S*, auch die Monate Mai 1985 bis März 1990 als Ersatzzeiten für Kindererziehung festzustellen.
[12] Die PVA hält dem entgegen, dass eine Anrechnung ausländischer Kindererziehungszeiten nach Art 44 Abs 2 DVO 987/2009 nicht in Frage komme, weil die Kindererziehung ab Mai 1985 i n Belgien und damit in einem Mitgliedstaat stattgefunden habe, der eine Anrechnung von Kindererziehungszeiten grundsätzlich vorsehe. Auch auf Grundlage des Art 21 AEUV komme e ine Anrechnung der Kindererziehungszeiten nicht in Frage, weil angesichts der langjährigen Erwerbstätigkeit von Frau S* in Deutschland keine hinreichende Nahebeziehung zu Österreich (mehr) vorliege.
V. Bisheriges Verfahren
[13] Das Gericht erster Instanz gab der Klage statt. Die Voraussetzungen des Art 44 Abs 2 DVO 987/2009 lägen vor, weil Belgien Kindererziehungszeiten (im konkreten Fall) nicht berücksichtigt habe. Die Verweigerung der Anrechnung verstieße auch gegen Art 21 AEUV, weil ohne die Verlegung des Wohnsitzes nach Belgien alle Kindererziehungszeiten gemäß den österreichischen Rechtsvorschriften angerechnet worden wären.
[14] Das Gericht zweiter Instanz wies die Klage dagegen ab. Die Anrechnung der Zeiten der Erziehung des ersten Sohnes in Belgien scheitere daran, dass Belgien Kindererziehungszeiten grundsätzlich anrechne. Die Anrechnung der Zeiten der Erziehung des zweiten Sohnes scheide aus, weil dieser nicht in Österreich geboren worden sei. Auf Art 21 AEUV könne sich Frau S* ebenfalls nicht berufen , weil sie nicht ausschließlich in Österreich erwerbstätig gewesen sei.
[15] Gegen diese Entscheidung erhob Frau S* Revision an den Obersten Gerichtshof, mit der sie begehrt, ihrer Klage stattzugeben.
Rechtliche Beurteilung
[16] Die PVA beantragt, die Entscheidung des Berufungsgerichts zu bestätigen .
VI. Begründung der Vorlagefragen
1. Allgemeines
[17] Aus Art 97 DVO 987/2009 und Art 91 Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in der Folge: VO 883/2004) ergibt sich, dass diese Verordnungen im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheids der PVA (15. Mai 2023) bereits in Kraft waren. Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs sind sie daher im vorliegenden Fall in zeitlicher Hinsicht anwendbar (EuGH C 522/10, Reichel Albert , Rn 26 ff).
[18] Im Verfahren ist auch unstrittig, dass die Voraussetzung des Art 44 Abs 3 DVO 987/2009 nicht erfüllt ist, weil Frau S* in Belgien, also dem Mitgliedstaat, in dem sie ihre Kinder erzogen hat, nie eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübte (vgl Panhölzl in Mosler/Müller/Pfeil , SV-Komm § 227a ASVG Rz 54).
2. Zur ersten Frage
[19] Damit sich im vorliegenden Fall die Zuständigkei t Österreichs für die Anrechnung der von Frau S* in Belgien zurückgelegten Zeiten der Erziehung ihres ersten Sohnes nach Art 44 Abs 2 DVO 987/2009 ergeben könnte, müssten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union drei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens, dass die Kindererziehungszeiten nach den in Belgien geltenden Rechtsvorschriften nicht berücksichtigt werden, zweitens, dass auf Frau S* die Rechtsvorschriften Österreichs zuvor anwendbar waren, weil sie in Österreich e ine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübte, und drittens, dass für Frau S* wegen dieser Tätigkeit die Rechtsvorschriften Österreichs zu dem Zeitpunkt fortgalten, zu dem nach diesen die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind begann (jüngst EuGH C 283/21, Deutsche Rentenversicherung Bund , Rn 34).
[20] Die zweite und dritte Voraussetzung sind hier erfüllt, weil Frau S* in Österreich unselbständig erwerbstätig war und sie auch im Zeitpunkt, zu dem nach den österreichischen Rechtsvorschriften die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für ihren ersten Sohn begann (Juli 1984 ) eine Beschäftigung (vgl Art 11 Abs 2 VO 883/2004) ausübte ( vgl EuGH C 283/21, Deutsche Rentenversicherung Bund , Rn 36).
[21] Offen ist hingegen das Vorliegen der ersten der genannten Voraussetzungen. Für den Obersten Gerichtshof stellt sich dabei die Frage, was es bedeutet, wenn Art 44 Abs 2 erster Halbsatz DVO anordnet, dass der nach den Vorschriften des Titels II der VO 883/2004 zuständige Mitgliedstaat keine Kindererziehungszeit „berücksichtigt“. Denn darunter kann man einerseits verstehen, dass solche Zeiten in diesem Mitgliedstaat schon grundsätzlich nicht berücksichtigt werden, weil seine Rechtsvorschriften eine Anrechnung von Kindererziehungszeiten nicht vorsehen , oder, dass sie in diesem Mitgliedstaat im konkreten Fall nicht berücksichtigt werden, weil die betroffene Person die nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats dafür geltenden Voraussetzungen nicht erfüllt (vgl Schlussanträge des GA Jääskinen, ECLI:EU:C:2012:114, Rn 67, sowie Schlussanträge des GA Emiliou, ECLI:EU:C:2022:75, Rn 83 ff).
3. Zur zweiten Frage
[22] Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union regelt Art 44 DVO 987/2009 die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten im Ausland nicht abschließend, sodass sich die Pflicht zur Anrechnung solcher Zeiten auch aus Art 21 AEUV bzw dem in den Urteilen C 135/99, Elsen , C-28/00, Kauer , und C-522/10, Reichel-Albert , entwickelten Kriterium der „hinreichenden Verbindung“ ergeben kann (EuGH C 283/21, Deutsche Rentenversicherung Bund , Rn 44; EuGH C 576/20, Pensionsversicherungsanstalt , Rn 62). Demnach verpflichtet Art 21 AEUV einen Mitgliedstaat (A), Kindererziehungszeiten zu berücksichtigen, die die betreffend e Person in einem anderen Mitgliedstaat (B) zurückgelegt hat, sofern eine „hinreichende Verbindung“ zwischen diesen Kindererziehungszeiten und Versicherungszeiten besteht, die diese Person aufgrund einer Berufstätigkeit im zuerst genannten Mitgliedstaat (A) zurückgelegt hat (EuGH C 283/2 1, Deutsche Rentenversicherung Bund , Rn 46).
[23] Eine „hinreichende Verbindung“ besteht nach den Urteilen C 283/21, Deutsche Rentenversicherung Bund , und C 576/20, Pensionsversicherungsanstalt , immer dann, wenn die betreffende Person ausschließlich in einem Mitgliedstaat (A) gearbeitet und Beiträge entrichtet bzw ausschließlich dort Versicherungszeiten für Ausbildungs- oder Beschäftigungszeiten erworben hat, und zwar sowohl vor als auch nach der Verlegung ihres Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat (B), in dem die Zeiten der Kindererziehung zurückgelegt wurden. Auch in den Urteilen C-135/99, Elsen (Rn 26), C 28/00, Kauer (Rn 28 und 32), sowie C 522/10, Reichel Albert (Rn 35), wurde hervorgehoben, dass die Betroffenen ausschließlich im (ursprünglich zuständigen) Mitgliedstaat (A) gearbeitet bzw dort Beiträge entrichtet hatten. Wie Generalanwalt Emiliou in seinen Schlussanträgen zu C 283/21 (ECLI:EU:C:2023:736, Rn 53) betont, wurde dieser Faktor aber in keinem der Urteile als allein ausschlaggebend herausgestellt.
[24] Nur darauf abzustellen, erscheint auch gegen Art 21 AEUV zu verstoßen, weil die betreffende Person, die ihren Wohnsitz von einem Mitgliedstaat (A) in einen anderen Mitgliedstaat (B) verlegt und sich dort ausschließlich der Kindererziehung widmet, im Anschluss daran eine Beschäftigung oder selbständig e Erwerbstätigkeit nicht in einem dritten Mitgliedstaat (C), sondern nur im ursprünglichen Mitgliedstaat (A) aufnehmen dürfte, um eine Anrechnung der Kindererziehungszeiten nach dessen Rechtsvorschriften zu erreichen. Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs wäre das geeignet, das Recht auf Freizügigkeit zu beeinträchtigen, weil die betreffende Person dadurch davon abgehalten werden könnte, von diesem Recht Gebrauch zu machen.
[25] Diese Konsequenz würde etwa dadurch vermieden, dass für den Nachweis einer „hinreichenden Verbindung“ ausschließlich auf den vor der Kindererziehung im anderen Mitgliedstaat (B) erfolgten Erwerb von Versicherungszeiten im Mitgliedstaat (A) als ausschlaggebendes Kriterium abgestellt wird. Der Umstand, dass die betreffende Person nach der Zeit der Kindererziehung im anderen Mitgliedstaat (B) wieder im ursprünglichen Mitgliedstaat (A) eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübt bzw Versicherungszeiten erwirbt, wäre in diesem Fall nur ein Indiz für eine „hinreichende Verbindung“, aber keine Voraussetzung für deren Annahme (vgl Schlussanträge GA Emiliou, ECLI:EU:C:2023:736, Rn 68 f). Unter dieser Prämisse wäre der Umstand, dass Frau S* nach der Zeit der Kindererziehung in Belgien rund 20 Jahre in Deutschland eine Beschäftigung ausübte und erst dann wieder nach Österreich zurückkehrte, für den Nachweis einer „hinreichenden Verbindung“ zu den in Österreich erworbenen Versicherungszeiten nicht maßgeblich.
[26] Wenn man dagegen die Beschäftigung von Frau S* im dritten Mitgliedstaat (C), hier Deutschland, als einen die Anrechnung grundsätzlich hindernden Umstand betrachtet, stellt sich die Frage, wie lange die dort ausgeübte Beschäftigung oder selbständig e Erwerbstätigkeit sein müsste, damit die „hinreichende Verbindung“ zum Mitgliedstaat (A), hier Österreich, unterbrochen wird (dazu und anderen Problemfeldern Spiegel , Zeiten der Kindererziehung in einem anderen Mitgliedstaat – eine Herausforderung für die Praxis, DRdA 2023/2 [Pkt 4.1.]).
[27] Da die Pflicht zur Anrechnung aufgrund einer „hinreichenden Verbindung“ auch dann bestehen kann, wenn das Kind nach der Übersiedlung in den anderen Mitgliedstaat geboren wurde (vgl EuGH C 522/10, Reichel-Albert , Rn 16; EuGH C 576/20, Pensionsversicherungsanstalt , Rn 19; EuGH C 283/21, Deutsche Rentenversicherung Bund , Rn 19 f), stellt sich die Frage der Auslegung des Art 21 AEUV sowohl beim (in Belgien geborenen) zweiten Sohn von Frau S* (Variante a.) als auch – abhängig von der Beantwortung der ersten Frage – bei ihrem ersten Sohn (Variante b.).
VII. Aussetzung des Verfahrens
[28] Die Aussetzung des Verfahrens beruht auf § 90a Abs 1 GOG.