9Ob80/24s – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hargassner, Mag. Korn, Dr. Stiefsohn und Dr. Wallner Friedl in der Rechtssache der klagenden Partei mj L*, vertreten durch die Mutter L*, vertreten durch Prof. Haslinger Partner Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei K*, vertreten durch die Huber Dietrich Rechtsanwalts-Partnerschaft in Linz, wegen 9.282,07 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 20. Juni 2024, GZ 1 R 52/24h 39, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Linz vom 11. März 2024, GZ 11 Cg 1/23w 34, nicht Folge gegeben wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.647,32 EUR (darin 441,22 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
[1] Der Kläger kam im Krankenhaus der Beklagten mittels Notsectio zur Welt. Bei der Geburt des Klägers handelte es sich um einen ungewöhnlichen Fall einer sehr raschen Entwicklung einer schweren peripartalen Asphyxie bei einer Niedrig-Risiko-Ausgangssituation.
[2] Eine CTG Untersuchung erfolgte bei der Aufnahme der Mutter um 19:18 Uhr sowie um 20:20 Uhr. Der Muttermund war um 20:10 Uhr 2 cm weit und sakral. Um 21:30 Uhr setzte sich die Mutter in die Badewanne. Die Hebamme schaute alle fünf bis zehn Minuten vorbei. Weder die Mutter noch der Vater riefen jemals nach der Hebamme. Sie vermittelten ihr, dass die Wehen häufiger kämen, aber gut „veratmet“ werden könnten. Um 22:07 Uhr wurde aufgrund der Zunahme der Wehentätigkeit ein weiteres CTG versucht, das jedoch nicht eindeutig ableitbar war, weshalb die Hebamme notgeläutet hat . Es wurde eine fetale Bradykardie festgestellt. Um 22:14 Uhr wurde schließlich eine Notsectio durch die Oberärztin angeordnet. Eine (weitere) Messung des Muttermundes zwischen 20:10 Uhr und 22:14 Uhr fand nicht statt.
[3] Für die frühe Eröffnungsphase gibt es keine Empfehlung für eine Überwachung der Herztöne mittels CTG oder Auskultation, in der zweiten Phase, der aktiven Eröffnungsphase, ist ein erforderliches Überwachungsintervall von 15 bis 30 Minuten gegeben. Verschiedene medizinische Quellen empfehlen auch in der frühen Eröffnungsphase die Überwachung der Herztöne, nämlich zwischen 30 Minuten bis 2 Stunden. Es kann nicht festgestellt werden, wann genau bei der Mutter der Übergang in die aktive Eröffnungsphase vorlag.
[4] Der Kläger begehrte 9.282,07 EUR an Schadenersatz (Schmerzengeld 8.000 EUR, Heilungskosten 663,66 EUR und Fahrtkosten 618,41 EUR) sowie die Feststellung der Haftung für künftige Schäden (Rückstand in der Sprachentwicklung und Feinmotorik) wegen eines behaupteten Behandlungsfehlers bei der Geburtsdurchführung. Zwischen 20:20 Uhr und 22:07 Uhr habe entgegen den ärztlichen Leitlinien, die eine zumindest stündliche Kontrolle des CTG Wertes vorsähen, trotz starker Wehentätigkeit („Wehensturm“) keine CTG Messung stattgefunden. Der Übergang in die aktive Eröffnungsphase und die dramatische Entwicklung während des Wannenbades seien wegen mangelhafter Geburtskontrolle verkannt worden.
[5] Die Beklagte bestritt und wandte ein, dass die Geburt lege artis erfolgt sei. Die Überwachung sei bei risikofreier Schwangerschaft in der frühen Geburtsphase und bei unauffälligem CTG nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt. Die Leitlinien würden in der frühen Eröffnungsphase bei risikofreier Schwangerschaft und bisher unauffälligem CTG eine CTG Schreibung alle 30 Minuten bis maximal zwei Stunden vorsehen. Das Vorgehen der Beklagten sei daher nicht sorgfaltswidrig gewesen.
[6] Das Erstgericht wies die Klage ab. Die Behandlung während der Geburt sowie die Durchführung des CTG seien lege artis erfolgt.
[7] Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung lediglich im Kostenpunkt Folge. Weder liege eine vom Kläger behauptete Verletzung der Dokumentationspflicht vor, noch eine mangelhafte Überwachung des Fötus mittels CTG. Es habe aufgrund der festgestellten Umstände bis 22:07 Uhr keinen Anlass gegeben, vorzeitig eine CTG Kontrolle oder eine weitere Kontrolle des Muttermundes durchzuführen. Die der Beklagten zuzurechnende Hebamme habe lege artis gehandelt.
[8] Die Revision erklärte es für zulässig, weil zur Frage, „ob (insbesondere bei einer verschärften Dokumentationspflicht einer Hebamme auch in Bezug auf normale Geburtsabläufe zur Abgrenzung ihres Eigenverantwortungsbereichs) eine lege artis nicht vorgenommene Untersuchung durch eine Hebamme, die sowohl der ärztlichen Behandlung als auch der (beweissichernden) Dokumentation dienen würde, und damit einhergehend nicht dokumentierte Ergebnisse dieser Untersuchung bei einer Negativfeststellung zu den Ergebnissen der (lege artis nicht vorgenommenen) Untersuchung aufgrund der Beweislastumkehr bei einer Dokumentationspflichtverletzung eine Vermutungsbasis dafür schaffen könne, dass die Untersuchung Ergebnisse erbracht hätte, die wiederum Grundlage für einen Behandlungsfehler in Form der nicht vorgenommenen Untersuchung wären, Rechtsprechung fehle und eine Klarstellung dieser Rechtsfrage, deren Bedeutung über den Einzelfall hinausgehe, durch das Höchstgericht geboten sei.“
[9] Dagegen richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag auf Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinn einer Klagsstattgebung, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[10] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung die Zurückweisung der Revision, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
[11] Die Revision des Klägers ist mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
Rechtliche Beurteilung
[12] 1. Der Oberste Gerichtshof ist an den Zulässigkeitsausspruch des Berufungsgerichts nicht gebunden (§ 508a Abs 1 ZPO; RS0042392 [T2]). Die Zurückweisung der Revision des Klägers wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 ZPO).
[13] 2.1. Im Rahmen des zu beurteilenden ärztlichen Behandlungsvertrags schuldete die beklagte Krankenhausträgerin der Mutter (und dem Kläger) die Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst durch ihr Fachpersonal. Dafür ist der aktuelle anerkannte Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft maßgeblich (vgl RS0123136 [T2]). Ärzte haben nach § 1299 ABGB den Mangel der gewissenhaften Betreuung ihrer Patienten nach Maßgabe der ärztlichen Wissenschaft und Erfahrung zu vertreten, also jene Sorgfalt, die von einem ordentlichen und pflichtgetreuen Durchschnittsarzt in der konkreten Situation erwartet wird (RS0038202). Bei § 1299 ABGB geht es somit um den durchschnittlichen Fachmann des jeweiligen Gebiets, der prinzipiell der maßgerechte im Sinn dieser Bestimmung ist (RS0026535). Ob dieser Sorgfaltsmaßstab bei einer konkreten ärztlichen Maßnahme eingehalten wurde, wirft grundsätzlich keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf (vgl RS0026541 [T4]; RS0026535 [T8]).
[14] 2.2. Grundsätzlich trifft die Beweislast für das Vorliegen eines Behandlungsfehlers und dessen Kausalität für den eingetretenen Schaden den Patienten (vgl RS0026412 [T7, T11]). Nach ständiger Rechtsprechung greift bei Verletzung der ärztlichen Dokumentationspflicht in Bezug auf Umstände, die für den Schadenseintritt erheblich sein können, eine Beweislastumkehr Platz (RS0026236). Diese Rechtsprechung gilt auch für Hebammen und andere medizinische Berufe (6 Ob 259/10x Pkt 4.1. = RS0026236 [T11]). Die Frage nach der Verteilung der Beweislast bei Unterlassung einer Dokumentation kann erst dann bedeutsam werden, wenn die für den Verfahrensausgang als wesentlich erachteten Tatsachen nicht festgestellt werden können (RS0026412 [T12]).
[15] 2.3. Die Verletzung der ärztlichen Dokumentationspflicht hat im Prozess (bloß) beweisrechtliche Konsequenzen, die dazu führen, dass dem Patienten zum Ausgleich der durch die Verletzung der Dokumentationspflicht eingetretenen größeren Schwierigkeiten, einen ärztlichen Behandlungsfehler nachzuweisen, eine der Schwere der Dokumentationspflicht entsprechende Beweis-erleichterung zugute kommt. Diese Beweiserleichterung hilft dem Patienten insoweit, als sie die Vermutung begründet, dass eine nicht dokumentierte Maßnahme vom Arzt nicht getroffen wurde (RS0026236 [T6]); der Nachweis eines objektiven Sorgfaltsverstoßes wird dadurch aber nicht begründet (8 Ob 134/01s mwN; zuletzt 3 Ob 195/22f [Rz 14] sowie 1 Ob 36/23k [Rz 13]). Daher folgt aus der Verletzung der ärztlichen Dokumentationspflicht nicht automatisch die Bejahung der (im Unterbleiben der indizierten Maßnahme bestehenden) Sorgfaltspflichtverletzung. Vielmehr liegt die Beweiserleichterung für den Patienten (nur) darin, dass nunmehr der Arzt nachzuweisen hat, dass die (nicht dokumentierte) Maßnahme nicht indiziert war, die Maßnahme ungeachtet des Dokumentationsfehlers tatsächlich gesetzt wurde oder das anzunehmende Fehlverhalten mit größter Wahrscheinlichkeit für den Schaden unwesentlich geblieben ist (3 Ob 195/22f [Rz 15]; 1 Ob 36/23k [Rz 13], vgl auch 4 Ob 28/20a).
[16] 2.4. Im vorliegenden Fall steht fest, dass zwischen 20:20 Uhr und 22:07 Uhr weder eine weitere CTG Messung noch zwischen 20:10 Uhr und 22:14 Uhr eine weitere Kontrolle des Muttermundes erfolgte und dieses Vorgehen im konkreten Fall lege artis war. Der Hinweis der Revision, wonach auf „ärztliche Leitlinien“ und „nicht irgendwelche Lehrbücher für Hebammen“ abzustellen wäre, geht schon deshalb ins Leere, weil von wissenschaftlichen Fachgesellschaften herausgegebene medizinische Leitlinien (Clinical Practice Guidelines) allenfalls Indizwirkung haben und die Feststellung eines Vorgehens lege artis bzw eines ärztlichen Fehlverhaltens im konkreten Fall nicht ersetzen können (RS0132932 [T1]). Zudem weicht die Revision von den Feststellungen ab, wenn sie meint, dass gegen ärztliche Regelungen (S3 Richtlinie) verstoßen worden wäre und ein Behandlungsfehler vorliege.
[17] 2.5. Die Vorinstanzen gingen aufgrund der festgestellten Umstände davon aus, dass eine weitere Untersuchung, sei es mittels CTG oder durch Messung des Muttermundes, medizinisch nicht angezeigt war und den Mitarbeitern der Beklagten kein Behandlungsfehler vorzuwerfen ist. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass das Vorgehen der Mitarbeiter der Beklagten lege artis war, keine Verletzung der Dokumentationspflicht vorliegt und selbst wenn eine solche anzunehmen wäre, dies nicht zu einer der Beklagten vorwerfbaren Sorgfaltspflichtverletzung führen würde, hält sich im Rahmen der dargelegten Rechtsprechung und des den Gerichten im Einzelfall notwendigerweise zukommenden Beurteilungsspielraums.
[18] 2.6. Die vom Berufungsgericht aufgeworfene Frage einer erhöhten Dokumentationspflicht von Hebammen stellt sich hier schon deshalb nicht, weil im vorliegenden Fall unstrittig ist, dass die Hebamme ihren eigenverantwortlichen Tätigkeitsbereich gemäß § 2 HebG nicht überschritten hat.
[19] 2.7. Eine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung durch die Vorinstanzen zeigt der Kläger nicht auf.
[20] 3. Dies führt zur Zurückweisung der Revision. Einer weiteren Begründung bedarf es nicht (§ 510 Abs 3 ZPO).
[21] 4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO; die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.