10ObS111/24g – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Manfred Joachimsthaler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Anton Starecek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*, vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm, Dr. Simone Metz, LL.M., Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Ausgleichszulage, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 30. Juli 2024, GZ 9 Rs 95/24t 34, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Text
Begründung:
[1] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob der Aufenthalt des Klägers im Inland rechtmäßig im Sinn des § 292 Abs 1 ASVG ist.
[2] Der im Mai 1955 geborene Kläger ist slowakischer Staatsbürger und übersiedelte Ende Dezember 2016 zu seiner Tochter nach Wien, wo er seit 29. Dezember 2016 auch gemeldet war. Er bezog von September 2018 bis Mai 2020 Notstandshilfe und war von 1. Juni 2019 bis 1. Juni 2020 arbeitswillig und ständig auf der Suche nach Arbeit. Seit 1. Juni 2020 bezieht er – neben einer slowakischen und einer bosnischen Pension – eine Alterspension von der beklagten Pensionsversicherungsanstalt.
[3] Mit Bescheid vom 20. Oktober 2022 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 2. März 2020 auf Gewährung der Ausgleichszulage ab.
[4] Die Vorinstanzen verpflichteten die Beklagte zur Zahlung einer Ausgleichszulage ab 29. 12. 2021 (in jeweils bestimmter Höhe für näher bezeichnete Zeiträume). Der Kläger erfülle die Voraussetzungen für ein Daueraufenthaltsrecht, weil er mit 1. Juni 2020 bei Erreichen des Regelpensionsalters aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei. Da Zeiten gemäß § 51 Abs 2 NAG bei der Berechnung der Fristen zu berücksichtigen seien bzw Zeiten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit, die vom zuständigen Arbeitsamt ordnungsgemäß festgestellt werden, als Zeiten der Erwerbstätigkeit gelten, schließe die Tatsache, dass der Kläger im Zeitraum 1. Juni 2019 bis 1. Juni 2020 (die letzten zwölf Monate vor dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben) nicht tatsächlich eine Beschäftigung ausgeübt habe, das Vorliegen einer Erwerbstätigkeit im Sinn des § 53a Abs 3 Z 1 NAG bzw Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger RL nicht aus.
Rechtliche Beurteilung
[5] Die dagegen erhobene außerordentliche Revision der Beklagten ist mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
[6] 1. Trotz Fehlens einer ausdrücklichen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu einer konkreten Fallgestaltung liegt dann keine erhebliche Rechtsfrage vor, wenn das Gesetz selbst eine klare, das heißt eindeutige Regelung trifft (RS0042656), insbesondere wenn eine Rechtsfrage im Gesetz so eindeutig gelöst ist, dass nur eine Auslegungsmöglichkeit ernstlich in Betracht zu ziehen ist und Zweifel nicht entstehen können (RS0042656 [T8]).
[7] 2. Nach Art 17 Abs 1 Unionsbürger RL haben bestimmte, dort näher bezeichnete Personen bereits vor Ablauf des nach Art 16 Abs 1 Unionsbürger RL erforderlichen ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren das Recht auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat. Soweit hier von Interesse, gehören dazu nach Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger RL Arbeitnehmer oder Selbständige, die zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das in dem betreffenden Mitgliedstaat für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehene Alter erreicht haben, oder Arbeitnehmer, die ihre abhängige Erwerbstätigkeit im Rahmen einer Vorruhestandsregelung beenden, sofern sie diese Erwerbstätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat mindestens während der letzten zwölf Monate ausgeübt und sich dort seit mindestens drei Jahren ununterbrochen aufgehalten haben. Zeiten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit, die vom zuständigen Arbeitsamt ordnungsgemäß festgestellt werden, oder vom Willen des Betroffenen unabhängige Arbeitsunterbrechungen sowie krankheits oder unfallbedingte Fehlzeiten oder Unterbrechungen gelten dabei als Zeiten der Erwerbstätigkeit (Art 17 Abs 1 letzter Satz Unionsbürger RL).
[8] 2.1. Nach der Rechtsprechung des EuGH werden die Umstände, unter denen einem Wanderarbeitnehmer, der sich nicht mehr in einem Arbeitsverhältnis befindet, dennoch die Arbeitnehmereigenschaft zuerkannt werden kann, in Art 7 Abs 3 Unionsbürger RL nicht abschließend aufgezählt (EuGH C 507/12, Saint Prix [ECLI:EU:C:2014:2007], Rn 38). Der Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinn von Art 45 AEUV ist ein autonomer Begriff des Unionsrechts, der nicht eng ausgelegt werden darf; insbesondere ist derjenige, der tatsächlich eine Arbeit sucht, als „Arbeitnehmer“ zu qualifizieren (EuGH C 710/19, État belge [ECLI:EU:C:2020:1037], Rn 24).
[9] Die Beklagte bestreitet daher zutreffend nicht, dass der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben als „Arbeitnehmer“ im Sinn des Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger RL anzusehen war. Die Beklagte wendet sich auch nicht gegen die Beurteilung der Vorinstanzen, dass der Kläger mit 1. Juni 2020 aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist und er das für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehene Alter erreicht hat.
[10] 2.2. Die in Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger RL genannten zeitlichen Voraussetzungen – die Ausübung einer Erwerbstätigkeit während der letzten zwölf Monate einerseits und ein ununterbrochener Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat seit mindestens drei Jahren andererseits – gelten auch für Arbeitnehmer (wie den Kläger), die zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das in diesem Mitgliedstaat für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehene Alter erreicht haben (EuGH C 32/19, Pensionsversicherungsanstalt [ECLI:EU:C:2020:25]).
[11] Dass beim Kläger die (zweite) genannte Voraussetzung eines ununterbrochenen Aufenthalts in Österreich erfüllt ist, wird in der außerordentlichen Revision nicht in Zweifel gezogen, sodass darauf nicht einzugehen ist.
[12] 2.3. Die Beklagte steht vielmehr (nur) auf dem Standpunkt, dass der Kläger während der letzten zwölf Monate vor dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben keine Erwerbstätigkeit in Österreich ausgeübt habe und die in diesem Zeitraum vorliegende Arbeitslosigkeit der Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht gleichzustellen sei.
[13] 2.4. Daran ist richtig, dass der Kläger in den letzten zwölf Monaten vor seinem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben (am 1. Juni 2020) keine Erwerbstätigkeit (tatsächlich) ausübte, sondern arbeitslos war.
[14] Zeiten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit, die vom zuständigen Arbeitsamt ordnungsgemäß festgestellt werden, gelten nach Art 17 Abs 1 letzter Satz Unionsbürger RL allerdings als Zeiten der Erwerbstätigkeit. Die Rechtsauffassung der Beklagten, wonach sich die Fiktion nur auf die Arbeitnehmereigenschaft und nicht (auch) auf die Ausübung einer Erwerbstätigkeit beziehe, übergeht den eindeutigen Wortlaut der Bestimmung, die ausdrücklich auf Zeiten einer Erwerbstätigkeit (und nicht auf die Arbeitnehmereigenschaft) abstellt. Welcher Anwendungs-bereich dem Art 17 Abs 1 letzter Satz Unionsbürger RL in den Fällen des Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger RL bei Zutreffen der von der Beklagten vertretenen Rechtsauffassung überhaupt noch verbliebe oder welchen Zweck der Normgeber mit dem von der Beklagten vertretenen Regelungsinhalt verfolgen könnte, legt die Beklagte in ihrem Rechtsmittel auch nicht offen.
[15] 2.5. Gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die unfreiwillige Arbeitslosigkeit des Klägers von 1. Juni 2019 bis 1. Juni 2020 eine solche nach Art 17 Abs 1 letzter Satz Unionsbürger RL war, wendet sich die Beklagte nicht.
[16] 3. Die Vorinstanzen sind daher zutreffend von einer Erwerbstätigkeit des Klägers während der letzten zwölf Monate vor seinem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und damit von der Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts nach Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger RL (iVm Art 17 Abs 1 letzer Satz Unionsbürger RL) ausgegangen. Auf die in der Revision weiters thematisierte Frage, inwiefern der Aufenthalt des Klägers auf der Grundlage anderer Bestimmungen als (nicht) rechtmäßig zu beurteilen gewesen wäre, kommt es somit nicht entscheidend an.