2Ob13/24m – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende und die Hofräte MMag. Sloboda, Dr. Thunhart und Dr. Kikinger sowie die Hofrätin Mag. Fitz als weitere Richter in der Verlassenschaftssache nach dem am * 2019 verstorbenen M*, wegen Feststellung des Erbrechts zwischen den Antragstellern 1. M*, vertreten durch Dr. Ralph Vetter und Dr. Andreas Fritsch, Rechtsanwälte in Lustenau, 2. K*, 3. I*, 4. I*, 5. M*, 6. A*, 7. O*, und 8. W*, Zweit- bis Achtantragsteller vertreten durch Dr. Karl Schelling, Rechtsanwalt in Dornbirn, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Erstantragstellers gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch als Rekursgericht vom 26. September 2023, GZ 10 R 72/23x 167, womit infolge Rekurses des Erstantragstellers der Beschluss des Bezirksgerichts Dornbirn vom 31. Jänner 2023, GZ 36 A 112/19f 160, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
I. Die Revisionsrekursbeantwortung wird zurückgewiesen.
II. Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung:
[1] Der 2019 verstorbene, verwitwete Erblasser hinterließ keine Nachkommen. Mit eigenhändigem Testament vom 17. September 2012 (in der Folge: Testament 2012) setzte er (unter anderem) die Zweit- bis Achtantragsteller zu gleichen Teilen zu Erben ein. Mit fremdhändigem Testament vom 13. Juni 2019 (in der Folge: Testament Juni 2019) setzte der Erblasser den Erstantragsteller zum Alleinerben ein, setzte mehreren Personen ein Vermächtnis aus und widerrief frühere letztwillige Verfügungen. Mit fremdhändigem Testament vom 27. August 2019 (in der Folge: Testament August 2019) setzte er den Erstantragsteller erneut zum Alleinerben ein und widerrief alle früheren letztwilligen Verfügungen. Die Testamente aus 2019 entsprachen zwar den Formvorschriften des § 579 ABGB, nicht aber jenen des § 580 Abs 2 ABGB.
[2] Der Erblasser litt sowohl im Juni als auch im August 2019 an einer Makuladegeneration an beiden Augen. Sein rechtes Auge hatte nur noch einen Visus von „Fingerzählen“, das linke Auge einen Visus von 0,1 (was 10 % Schärfe entspricht). Die Schriftgröße der Testamente 2019 betrug 3 mm, was Zeitungsdruck entspricht. Um Zeitungsdruck lesen zu können, wäre eine Sehschärfe von mindestens 0,4 bis 0,5 (40 bis 50 % Schärfe) erforderlich. Der Erblasser konnte die Testamente 2019 daher weder mit einer Lesebrille noch mit einer Leselupe lesen. Lediglich bei Nützung eines Bildschirmgeräts wäre es dem Erblasser möglich gewesen, die konkreten Testamente zu lesen.
[3] Am 27. August 2019 brachte der Erblasser zum Termin beim Notar eine „runde Lupe mit Stiel“ mit. „Das Testament wurde nicht sofort unterschrieben, sondern hat der Erblasser das Testament mit seiner Lupe gelesen.“
[4] Der Erstantragsteller gab aufgrund des Testaments August 2019 eine bedingte Erbantrittserklärung zum gesamten Nachlass ab. Im Erbrechtsstreit brachte er vor, dass der Erblasser 2019 noch ausreichend gesehen und das Testament mit Hilfe einer Lupe vor der Unterfertigung gelesen habe. Entscheidend sei nicht, ob der Erblasser die konkrete letztwillige Verfügung lesen habe können, sondern nur, ob er einen Text welcher Art und Größe auch immer – mit oder ohne Sehhilfe – lesen habe können.
[5] Die Zweit- bis Achtantragsteller gaben aufgrund des Testaments 2012 jeweils bedingte Erbantrittserklärungen zu einem Siebtel des Nachlasses ab. Im Verfahren über das Erbrecht brachten sie vor, dass der Erblasser 2019 überhaupt – und zwar auch bei Verwendung einer Lupe – nichts mehr gesehen habe und die Testamente 2019 daher mangels Einhaltung der Form des § 580 Abs 2 ABGB unwirksam seien. Entscheidend für die Frage des Vorliegens der Lesefähigkeit sei die Beurteilung in Bezug auf die konkret vorliegende letztwillige Verfügung.
[6] Das Erstgericht stellte das Erbrecht der Zweit- bis Achtantragsteller aufgrund des Testaments 2012 zu je einem Siebtel fest und wies die Erbantrittserklärung des Erstantragstellers ab. Die Testamente vom Juni und August 2019 seien mangels Einhaltung der Formvorschrift des § 580 Abs 2 ABGB ungültig.
[7] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Der Erblasser habe die ihm vorgelegten Testamente im Jahr 2019 ohne ein entsprechendes Bildschirmgerät nicht lesen können, sodass die Formvorschrift des § 580 Abs 2 ABGB einzuhalten gewesen wäre.
[8] Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Erstantragstellers mit dem Abänderungsantrag, sein Erbrecht festzustellen und die Erbantrittserklärungen der Zweit- bis Achtantragsteller abzuweisen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[9] Die Zweit- bis Achtantragsteller beantragen in der ihnen freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.
[10] Der außerordentliche Revisionsrekurs ist zur Präzisierung der Rechtsprechung zu § 580 Abs 2 ABGB zulässig , aber nicht berechtigt .
Rechtliche Beurteilung
[11] Die Revisionsrekursbeantwortung ist verspätet, weil sie außerhalb der 14-tägigen Frist des § 68 Abs 1 iVm Abs 3 Z 3 AußStrG beim Obersten Gerichtshof einlangte.
[12] Der Erstantragsteller argumentiert, dass die Testamente 2019 nicht den Formvorschriften des § 580 Abs 2 ABGB entsprechen müssten, weil der Erblasser – wenn auch unter Verwendung von Hilfsmitteln – noch generell lesefähig gewesen sei. Dass er die Testamente allenfalls nicht gelesen habe, nehme diesen nach § 579 ABGB nicht die Wirksamkeit.
Dazu hat der Fachsenat erwogen:
[13] 1. Die im Revisionsrekurs gerügten Mängel des Rekursverfahrens wurden vom Obersten Gerichtshof geprüft; sie liegen nicht vor (§ 71 Abs 3 AußStrG).
[14] Das Rekursgericht interpretierte die Feststellung des Erstgerichts, dass der Erblasser das Testament August 2019 vor der Unterfertigung mit der Lupe „gelesen“ habe, unter Bedachtnahme auf die übrigen Feststellungen dahin, dass damit nur gemeint sei, dass der Erblasser den anwesenden Zeugen gegenüber den (in Wahrheit aber nicht zutreffenden) Eindruck erweckt habe, das Testament „zu lesen“. In dieser Vorgehensweise liegt kein (unzulässiges) Abgehen von Tatsachenfeststellungen, sondern nur eine im konkreten Fall nicht zu beanstandende Auslegung der Feststellungen des Erstgerichts.
[15] 2. Aufgrund des Errichtungszeitpunkts der zu beurteilenden letztwilligen Verfügungen aus dem Jahr 2019 ist die Rechtslage nach dem ErbRÄG 2015 anzuwenden (§ 1503 Abs 7 Z 5 ABGB).
§ 580 Abs 2 ABGB lautet:
„Wer nicht lesen kann, muss sich die fremdhändige Verfügung von einem Zeugen in Gegenwart der beiden anderen Zeugen, die den Inhalt eingesehen haben, vorlesen lassen und bekräftigen, dass dieser seinem Willen entspricht.“
[16] 3. Die Bestimmung des § 580 Abs 2 ABGB entspricht (mit geringen sprachlichen Änderungen) § 581 ABGB aF ( 2 Ob 48/22f Rz 15). Es kann daher grundsätzlich auf die zu § 581 ABGB aF ergangene Rechtsprechung zurückgegriffen werden:
[17] 4. In der in GlU 15.163 veröffentlichten Entscheidung wies der Oberste Gerichtshof darauf hin, dass § 581 ABGB aF gar nicht zur Anwendung komme, wenn die (im konkreten Fall beweispflichtigen) Kläger gar nicht behauptet hätten, dass der Erblasser überhaupt nicht lesen habe können, und überdies nicht erwiesen hätten, dass der Erblasser „wegen schwerer Krankheit oder weil er das Augenglas nicht verwendete“ nicht lesen habe können.
[18] In der Entscheidung Ob III 913/23 SZ 5/317 legte der Oberste Gerichtshof dar, dass die Wendung „nicht lesen kann“ dahin zu verstehen sei, dass davon sowohl Fälle des Analphabetismus („Unkunde“) als auch solche der „physischen Unfähigkeit“ erfasst seien. Diese „physische Unfähigkeit“ müsse nicht den Grad der Blindheit erreichen.
[19] In der in ZBl 1931/299 veröffentlichten Entscheidung führte der Oberste Gerichtshof aus, dass es dem Zweck des § 581 ABGB aF entspreche, dass der Erblasser den von ihm unterschriebenen Aufsatz „lesen konnte, wenn er gewollt hätte“. Es sei jedoch nicht notwendig, dass der Erblasser das Testament vor der Unterfertigung tatsächlich lese.
[20] In der Entscheidung 6 Ob 638/76 NZ 1980, 28 wies der Oberste Gerichtshof darauf hin, dass der Erblasser nach den Feststellungen nicht fähig gewesen sei, das maschinengeschriebene Testament zu lesen. § 581 ABGB aF erfasse auch Fälle, in denen ein sonst des Lesens kundiger Erblasser aus physischen Gründen nicht lesen könne ( RS0012482 ).
[21] In der Entscheidung 1 Ob 749/83 SZ 56/180 wiederholte der Oberste Gerichtshof, dass bei entsprechend stark beeinträchtigter Sehkraft des Erblassers dieser nur unter Einhaltung der Formvorschriften des § 581 ABGB aF testieren könne.
[22] In der Entscheidung 2 Ob 507/90 wies der Senat darauf hin, dass die Anwendung der besonderen Formvorschriften des § 581 ABGB aF voraussetze, dass der Erblasser zur Zeit der Errichtung der letztwilligen Verfügung außer Stande sei, zu lesen, wobei der Grund der Leseunfähigkeit ohne Bedeutung sei ( RS0012480 ). Diese Voraussetzung erachtete der Senat in einem Fall nicht als gegeben, in dem feststand, dass die Erblasserin Geschriebenes – wie eine Zeitung – unter Verwendung einer Brille lesen konnte, allerdings nicht feststellbar war, ob die Erblasserin ihre Brille bei der Testamentserrichtung dabei hatte.
[23] Zuletzt sprach der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 6 Ob 116/99y aus, dass die Formvorschriften des § 581 ABGB aF auch bei Schwächung der Sehkraft eines an sich des Lesens kundigen Erblassers einzuhalten seien.
5. In der Literatur befassen sich – soweit überblickbar – folgende Autoren mit der hier interessierenden Frage:
[24] Nach Weiß (in Klang III² 317) ist § 581 ABGB aF bereits dann anwendbar, wenn der Erblasser die „zu bestätigende Schrift“ nicht lesen kann, etwa weil sie in einer ihm nicht gut verständlichen Sprache abgefasst oder in Schriftzeichen geschrieben ist, die er nicht kennt, oder er die letztwillige Verfügung wegen „kleiner oder schlechter Schrift“ nicht lesen kann. Weiß lässt es damit für die Anwendbarkeit des § 581 ABGB aF genügen, dass der Erblasser die konkrete letztwillige Verfügung nicht lesen kann.
[25] Tschugguel (in Fenyves/Kerschner/Vonkilch , Klang³ §§ 580, 581 ABGB Rz 8) führt hingegen aus, dass fraglich sei, ob einem generell lesefähigen Erblasser die Form des § 580 Abs 2 ABGB zur Verfügung stehe, wenn er bloß den konkreten Aufsatz – etwa wegen zu kleiner oder für ihn unleserlicher Schrift oder wegen des Vergessens einer erforderlichen Lesebrille – nicht lesen könne. Maßgeblich sei seiner Ansicht nach, dass dem Erblasser die Errichtung eines für ihn lesbaren fremdhändigen Testaments generell nicht möglich oder zumindest nicht zumutbar sei. Die Kontrolle über den Text des Testaments solle nämlich nicht ohne Not an die Zeugen abgegeben werden. Sei der Erblasser generell lesefähig, habe er aber bei der Testamentserrichtung bloß die von ihm benötigte Brille nicht dabei, könne er weder nach § 580 Abs 2 ABGB noch nach § 579 ABGB testieren. Die strengere Form des § 580 Abs 2 ABGB setze generelle Leseunfähigkeit voraus. § 579 ABGB setze hingegen voraus, dass der Testator den fremdhändigen Aufsatz lesen und daher kontrollieren könne. § 579 ABGB fordere aber nicht, dass der Testator den Aufsatz tatsächlich lese – wenn der Erblasser die letztwillige Verfügung tatsächlich nicht lese, obwohl er dazu in der Lage sei, stehe ihm die Form des § 580 Abs 2 ABGB nicht zur Verfügung. Tschugguel erachtet damit den Anwendungsbereich des § 580 Abs 2 ABGB nur bei genereller Leseunfähigkeit als eröffnet (ebenso Tschugguel , Der schreib- und der leseunfähige Testator, EF Z 2019/63, 118 [120]).
6. Der Fachsenat hat dazu erwogen:
[26] Die Wortfolge „nicht lesen kann“ umfasst nach der unter Punkt 4. dargestellten Rechtsprechung auch Fälle „physischer Unfähigkeit“. Die Schwächung der Sehkraft muss jedoch eine gewisse Schwere erreichen, um von Leseunfähigkeit ausgehen zu können. Solange daher der letztwillig Verfügende – wenn auch unter Zuhilfenahme einfacher Hilfsmittel (etwa einer Brille oder von Kontaktlinsen) – zu lesen im Stande ist, steht ihm die Testamentsform des § 580 Abs 2 ABGB nicht offen (so bereits 2 Ob 507/90). Es soll ihm nämlich nicht aus reiner Bequemlichkeit ermöglicht werden, eine besondere Form (hier: jene des § 580 Abs 2 ABGB) zu wählen (vgl Rv I 380/20 SZ 2/139 zur Schreibunfähigkeit iSd § 580 ABGB aF). Die besondere Form des § 580 Abs 2 ABGB, mit der der Erblasser die inhaltliche Kontrolle der letztwilligen Verfügung an die ausnahmsweise als Inhaltszeugen fungierenden Zeugen abgibt, soll also nicht ohne Not Anwendung finden ( Tschugguel in Fenyves/Kerschner/Vonkilch , Klang³ §§ 580, 581 ABGB Rz 8).
[27] Der Senat hat vor Kurzem ausgeführt, dass Schreibunfähigkeit iSd § 580 Abs 1 ABGB nicht erst dann, wenn eine Unterschrift schlechthin unmöglich ist, sondern bereits dann vorliegt, wenn dem Erblasser eine Unterschrift nur unter solcher Anstrengung möglich wäre, dass ihm deren Leistung billigerweise nicht zugemutet werden kann ( 2 Ob 106/23m Rz 20 mwN). Diese Erwägungen lassen sich auch auf die in § 580 Abs 2 ABGB enthaltene Wendung „nicht lesen kann“ sinngemäß umlegen. Billigerweise nicht zuzumuten ist dem letztwillig Verfügenden vor diesem Hintergrund in aller Regel die Verwendung ganz besonderer, in seinem Alltag nicht gebräuchlicher technischer Hilfsmittel (etwa die ganz massive Vergrößerung der Schriftgröße auf einem Bildschirmgerät).
[28] Verwendet der letztwillig Verfügende jedoch im Einzelfall solche (besonderen) Hilfsmittel, die ihn in die Lage versetzen, die konkrete letztwillige Verfügung tatsächlich lesen zu können, steht ihm die besondere Form des § 580 Abs 2 ABGB nicht zur Verfügung.
Als Ergebnis ist damit festzuhalten:
[29] Zur Annahme von Leseunfähigkeit in Form „physischer Unfähigkeit“ nach § 580 Abs 2 ABGB ist eine gewisse Schwere der Sehschwäche erforderlich, die durch Zuhilfenahme einfacher Hilfsmittel (etwa einer Brille oder von Kontaktlinsen) nicht mehr ausgeglichen werden kann. Billigerweise nicht zuzumuten ist dem letztwillig Verfügenden in aller Regel die Verwendung ganz besonderer, in seinem Alltag nicht gebräuchlicher technischer Hilfsmittel (etwa die ganz massive Vergrößerung der Schriftgröße auf einem Bildschirmgerät). Verwendet der letztwillig Verfügende jedoch im Einzelfall solche (besonderen) Hilfsmittel, die ihn in die Lage versetzen, die konkrete letztwillige Verfügung tatsächlich lesen zu können, steht ihm die besondere Form des § 580 Abs 2 ABGB nicht zur Verfügung.
[30] 7 . Im Anlassfall litt der Erblasser an schwerer Makuladegeneration an beiden Augen und konnte letztwillige Verfügungen (in gängiger Schriftgröße) weder unter Zuhilfenahme einer Brille noch einer Lupe lesen. Auf dieser Grundlage sind die Vorinstanzen zutreffend davon ausgegangen, dass der Erblasser iSd § 580 Abs 2 ABGB nicht lesen konnte und damit die dort normierten Formvorschriften einzuhalten gewesen wären.
[31] 8 . Dem außerordentlichen Revisionsrekurs des Erstantragstellers war damit insgesamt nicht Folge zu geben.