9ObA20/24t – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer und Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johannes Pflug (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Maria Buhr (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei J*, vertreten durch Klein, Wuntschek Partner RAe GmbH in Graz, gegen die beklagte Partei A* GmbH, *, vertreten durch KWR Karasek Wietrzyk Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Entlassungsanfechtung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. Februar 2024, GZ 6 Ra 39/23m 20, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision der klagenden Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
[1] 1.1. Unter den Tatbestand der Vertrauensunwürdigkeit im Sinne des § 27 Z 1 Fall 3 AngG fällt jede Handlung oder Unterlassung eines Angestellten, die mit Rücksicht auf ihre Beschaffenheit und ihre Rückwirkung auf das Arbeitsverhältnis den Angestellten des dienstlichen Vertrauens seines Arbeitgebers unwürdig erscheinen lässt, weil dieser befürchten muss, dass der Angestellte seine Pflichten nicht mehr getreulich erfüllen werde, sodass dadurch die dienstlichen Interessen des Arbeitgebers gefährdet sind (RS0029547). Maßgebend ist, ob das Verhalten des Angestellten das Vertrauen des Arbeitgebers so schwer erschüttert hat, dass diesem die Fortsetzung des Dienstverhältnisses (auch nur bis zum nächsten Kündigungstermin oder bis zum Ablauf der Vertragszeit) nicht mehr zugemutet werden kann (RS0029323; RS0029095).
[2] 1.2. Nach ständiger Rechtsprechung stellt die Beurteilung, ob im Einzelfall ein Entlassungsgrund verwirklicht wurde, keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0106298; RS0103201 [T1]). Eine vom Obersten Gerichtshof aus dem Grunde der Rechtssicherheit zu korrigierende Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts zeigt die außerordentliche Revision des Klägers nicht auf.
[3] 1.3. Die übereinstimmende Rechtsauffassung der Vorinstanzen, die vorschriftswidrige Benutzung der Betriebsein- und -abfahrt und der Betriebsumkehren durch den Kläger habe eine von der beklagten Arbeitgeberin nicht tolerierte Gefahr für den restlichen Verkehr dargestellt und der mehrfache Verstoß des Klägers gegen die internen Richtlinien sowie das Widersetzen gegen die Anweisungen seiner Vorgesetzten habe zu einem schwerwiegenden Vertrauensbruch geführt, der seine Weiterbeschäftigung unzumutbar erscheinen habe lassen und somit die Beklagte zur Entlassung des Klägers berechtigte, entspricht diesen in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zum Entlassungsgrund der Vertrauensunwürdigkeit. Aufgrund der Reaktion des Klägers, der auf die von seinem Vorgesetzten (wiederholt) aufgezeigte Gefährlichkeit seines Verhaltens mit den Worten „dann müsst`s mich halt anzeigen“ antwortete, und dass er im Zuge der von der Geschäftsführerin ausgesprochenen Verwarnung trotz Androhung „arbeitsrechtlicher Konsequenzen“ weiterhin kein Unrechtsbewusstsein und keine Einsicht zeigte, musste die Beklagte (aus objektiver Sicht) befürchten, dass der Kläger auch in Hinkunft seine Pflichten nicht mehr getreulich erfüllen wird. Das in der außerordentlichen Revision gegen diese Beurteilung ins Treffen geführte Alter des Klägers und die Dauer seiner Betriebszugehörigkeit lassen keine andere Beurteilung zu.
[4] 2.1. Richtig ist, dass dann, wenn der Arbeitgeber ihm zur Kenntnis gelangte Vorfälle bloß zum Anlass für eine Ermahnung genommen hat, eine derartige Erklärung nach herrschender Lehre und ständiger Rechtsprechung dahin verstanden werden kann, dass der Arbeitgeber auf das Recht, den Arbeitnehmer wegen dieses Verhaltens zu entlassen, verzichtet hat (RS0029023 [T4]). Für die Beurteilung einer derartigen schlüssigen Verzichtserklärung ist der objektive Erklärungswert entscheidend (RS0029023 [T2]). Ein danach vom Arbeitnehmer eingenommenes oder ein dem Dienstgeber erst später zur Kenntnis gelangtes Verhalten kann aber auch in einem solchen Fall die Entlassung rechtfertigen (vgl RS0029023 [T5]).
[5] 2.2. Davon, dass die Geschäftsführerin der Beklagten im Gespräch mit dem Kläger am 21. 4. 2023 auf eine Entlassung wegen der hier in Rede stehenden Vorfälle verzichtete, durfte der Kläger aber nicht ausgehen. Der Kläger wurde zwar verwarnt, es wurden ihm aber auch arbeitsrechtliche Konsequenzen angedroht. Dennoch zeigte der Kläger keine Reue und keine Einsicht. Dazu kam, dass im weiteren Gesprächsverlauf zu Tage trat, dass der Kläger auch seine Führungskräfte nicht akzeptierte und deren Weisungen und Vorgaben nicht befolgte.
[6] 3.1. Die Gründe für die vorzeitige Auflösung eines Arbeitsverhältnisses sind nach der Rechtsprechung bei sonstiger Verwirkung des Entlassungsrechts unverzüglich, das heißt, ohne schuldhaftes Zögern, geltend zu machen (RS0028965; RS0029131). Der Arbeitgeber darf mit der Ausübung seines Entlassungsrechts nicht wider Treu und Glauben so lange warten, dass der Arbeitnehmer aus diesem Zögern auf einen Verzicht auf die Geltendmachung der Entlassungsgründe schließen muss; der Arbeitnehmer, dem ein pflichtwidriges Verhalten vorgeworfen wird, soll darüber hinaus nicht ungebührlich lange über sein weiteres dienstrechtliches Schicksal im Unklaren gelassen werden (RS0031799).
[7] 3.2. Der Unverzüglichkeitsgrundsatz darf dabei nicht überspannt werden (RS0031587 [T1]). Dem Arbeitgeber muss zwischen dem Bekanntwerden des Entlassungsgrundes und dem Ausspruch der Entlassung eine angemessene Überlegungsfrist gewährt und ihm Gelegenheit gegeben werden, sich über die Rechtslage zu informieren (RS0031587 [T3, T5]; RS0031789 [T2]). Es muss dabei den Erfordernissen des Wirtschaftslebens und den Betriebsverhältnissen, insbesondere der Organisationsform des Unternehmens Rechnung getragen werden (RS0031789; vgl RS0029328).
[8] 3.3. Ob eine Entlassung rechtzeitig oder verspätet vorgenommen wurde, lässt sich ebenfalls nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilen (RS0031571). Dieser Frage kommt daher – von Fällen einer vom Obersten Gerichtshof im Sinne der Rechtssicherheit wahrzunehmenden Fehlbeurteilung durch die zweite Instanz abgesehen – keine erhebliche Bedeutung im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO zu (RS0031571 [T9]).
[9] 3.4. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hält sich die Beurteilung der Vorinstanzen, die Entlassung sei rechtzeitig erfolgt, im Rahmen des gesetzlich eingeräumten Ermessensspielraums. Nach den Feststellungen war der Geschäftsführerin der Beklagten der die Entlassung begründende Sachverhalt am Freitag, dem 21. 4. 2023, bekannt geworden. Die trotz Verwarnung und Androhung arbeitsrechtlicher Konsequenzen uneinsichtige Reaktion des Klägers und die in der Folge der Geschäftsführerin erstmals bekannt gewordenen weiteren Verfehlungen des Klägers ergaben für diese einen Gesamtsachverhalt, den diese über das Wochenende ua mit dem Regionalleiter, dem Vorstand, dem Vorgesetzten des Klägers und dessen Stellvertreter sowie der Rechtsvertreterin der Beklagten abklärte. Nach Beendigung dieser Erhebungen am Montag, den 24. 4. 2023 um circa 12 Uhr, informierte sie den Vorstand von den Ergebnissen, der um 15 Uhr die Zustimmung zur Entlassung erteilte. Mit dem Ausspruch der Entlassung an diesem Tag wurde daher der Unverzüglichkeitsgrundsatz gewahrt.
[10] Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision des Klägers zurückzuweisen.