11Os114/23h – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 16. Jänner 2024 durch die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek als Vorsitzende sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger und Mag. Fürnkranz und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und Mag. Riffel in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Drach als Schriftführerin in der Strafsache gegen St* wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1, Abs 2 erster und vierter Fall StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Schöffengericht vom 19. Mai 2023, GZ 39 Hv 125/22g 100, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die Berufungen werden die Akten dem Oberlandesgericht Linz zugeleitet.
Dem Angeklagten fallen die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Text
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde St* des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1, Abs 2 erster und (zweifelsfrei gemeint [vgl RIS-Justiz RS0116669; Lendl , WK StPO § 260 Rz 32]:) vierter Fall StGB schuldig erkannt.
[2] Danach hat er am 8. März 2022 in S* M* mit Gewalt zur Duldung einer dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung genötigt, indem er ihr die Krücken entriss, wodurch sie zu Boden fiel, sie am Oberkörper umklammerte und ihr die Hose hinunterzog, wobei er seinen Griff etwas lockerte, sodass es M* gelang, ihre Hose wieder hinaufzuziehen und ihr Mobiltelefon zu ergreifen, ihr das Telefon wegnahm und sie so von einer Verständigung der Polizei abhielt, sodann M*, die am Boden robbend zu entkommen versuchte, erneut am Oberkörper umklammerte und festhielt, drohte, ihr eine Krücke vaginal einzuführen, ihr die Hose und Unterhose hinunterzog und sie mit zumindest einem Finger vaginal penetrierte und dabei immer wieder ihren Beinstumpf berührte, was M* enorme Schmerzen verursachte, wobei die Tat eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB) in Form einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsschädigung, nämlich eine posttraumatische Belastungsstörung, zur Folge hatte und M* durch die Tat in besonderer Weise erniedrigte wurde (US 3 f).
Rechtliche Beurteilung
[3] Gegen dieses Urteil richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 4, 5, 9 lit a und 10 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.
[4] Der Kritik der Verfahrensrüge (Z 4) zuwider wurden durch die Abweisung der in der Hauptverhandlung am 13. Februar 2023 gestellten Anträge auf Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens, auf Einholung eines psychiatrischen bzw neuropsychiatrischen Gutachtens und auf ergänzende kontradiktorische Vernehmung der Zeugin M* (ON 71 S 23 ff) Verteidigungsrechte nicht verletzt:
[5] Die Anträge auf Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens zur Glaubwürdigkeit de s Opfers (ON 71 S 23 f) sowie eines psychiatrischen bzw neuropsychiatrischen Gutachtens zu deren psychischem Zustand und zu deren Aussagefähigkeit (ON 71 S 23 f) konnten schon deshalb sanktionslos abgewiesen werden, weil nicht einmal behauptet wurde, dass es die erforderliche Zustimmung zu einer Exploration erteilt hätte oder erteilen würde (RIS Justiz RS0118956, RS0097584, RS0108614).
[6] Zudem ist die Hilfestellung durch einen Sachverständigen zur Beurteilung der Aussagefähigkeit und Glaub haftigkeit einer Zeugin nur ausnahmsweise bei konkreten Bedenken gegen deren allgemeine Wahrnehmungs- und Wiedergabefähigkeit oder ihre vom Einzelfall unabhängige Aussageehrlichkeit sowie bei Anhaltspunkten für eine psychische Erkrankung, Entwicklungsstörung oder einen sonstigen erheblichen Defekt erforderlich (RIS Justiz RS0097576, RS0120634). Anhaltspunkte für eine derartige Ausnahmekonstellation wurden mit der bloßen Behauptung einer die Aussagefähigkeit beeinträchtigenden psychischen Erkrankung der M* („psychotische Entgleisungen“, Krankheit aus „dem schizophrenen Formenkreis“, „wahnhaft schwer psychiatrische Erkrankung“, Darstellung von Erlebtem „in völlig wahnhafter und irrationaler paradoxer Sicht“ [ON 71 S 23 f]) nicht aufgezeigt (vgl im Übrigen US 6 f, US 10 und ON 60a, ON 63, ON 66, ON 71 S 5 ff).
[7] Soweit mit dem psychiatrischen bzw neuropsychiatrischen Gutachten weiters nachgewiesen werden sollte, dass „die posttraumatische Belastungsstörung nicht kausal auf Geschehnisse am 8. 3. 2022 zurückzuführen [ist], sondern vielmehr eine Begleiterscheinung der Wahnerkrankung, wie beispielsweise der Borderline-Erkrankung der M* darstellt“ (ON 71 S 24), zielte der Antrag auf eine Überprüfung der diesbezüglichen Ausführungen des klinisch psychologischen Sachverständigen (vgl ON 71 S 5 ff) ab, weshalb ihm nur unter den Voraussetzungen des § 127 Abs 3 erster Satz StPO Relevanz zukäme. Mängel von Befund und Gutachten des genannten Sachverständigen wurden im Antrag vom 13. Februar 2023 jedoch nicht einmal behauptet.
[8] Auch der mit dem Hinweis auf die zwischenzeitig eingetretene Verbreiterung der Ermittlungsergebnisse, insbesondere durch das Gutachten des klinisch psychologischen Sachverständigen gestellte Antrag auf ergänzende kontradiktorische Vernehmung der Zeugin M* wurde zu Recht abgewiesen. Denn zum einen legte der Antragsteller mit Blick auf die Erklärung der Zeugin im Rahmen ihrer kontradiktorischen Vernehmung, nur bei dieser aussagen zu wollen (ON 20 S 2), nicht dar, weshalb die Zeugin gleichwohl zu einer Aussage vor dem erkennenden Gericht bereit sein würde (RIS Justiz RS0117928). Zum anderen wird in der Antragsbegründung nur auf nach Durchführung der kontradiktorischen Vernehmung erlangte Verfahrensergebnisse verwiesen, was aber einen Entfall des Rechts auf Aussagebefreiung nicht bewirkt (RIS Justiz RS0110798 [T4], RS0118084, RS0131839).
[9] Im Übrigen wurde die genannte Zeugin im Rahmen der Hauptverhandlung am 19. Mai 2023 ohnehin ergänzend vernommen (ON 99 S 2 ff).
[10] Der weiteren Rüge (Z 4) zuwider wurde auch der in der Hauptverhandlung am 17. März 2023 gestellte Antrag auf Vernehmung des – der Befragung des bestellten klinisch psychologischen Sachverständigen von der Verteidigung beigezogenen (vgl § 249 Abs 3 StPO; vgl ON 71 S 1, S 11 ff) – psychiatrischen Privatsachverständigen als Zeugen zu Recht abgewiesen (ON 82 S 2 f). Mit dieser Vernehmung sollte bewiesen werden, dass das Gutachten des beigezogenen Sachverständigen „mangelhaft, widersprüchlich und undeutlich“ sei (ON 82 S 2). Die Abhörung eines Zeugen kann jedoch erfolgreich nur zum Beweis sinnlicher Wahrnehmungen, nicht aber von subjektiven Meinungen, Ansichten, Wertungen, Schlussfolgerungen oder ähnlichen intellektuellen Vorgängen (eines „Privatsachverständigen“) beantragt werden (RIS Justiz RS0097540, RS0097573).
[11] Der „gemäß § 127 StPO“ unter gleichzeitiger Vorlage der „Richtlinien für die Erstellung von klinisch, psychologischen und gesundheitspsychologischen Befunden und Gutachten“ gestellte Antrag auf „Bestellung eines anderen Sachverständigen“, weil (zusammengefasst) das Gutachten des vom Gericht beigezogenen Sachverständigen „so wie es erstellt worden ist, zu keinem Zeitpunkt hätte erstellt und vorgelegt werden dürfen“, weil M* „zum Zeitpunkt der Begutachtung mit Sicherheit nicht in der Lage [war], die entsprechende Exploration mit dem Gutachter durchzuführen“ und die durchgeführte Befundaufnahme den vorgelegten Richtlinien und „der Gutachterrichtlinie des Bundesministeriums für Gesundheit“ widerspräche (ON 82 S 2), konnte schon deshalb abgewiesen werden (ON 82 S 3), weil er kein Beweisthema nannte (§ 55 Abs 1 zweiter Satz StPO).
[12] Im Übrigen ist (soweit hier von Interesse) gemäß § 127 Abs 3 StPO ein weiterer Sachverständiger zur Verhandlung nur dann beizuziehen, wenn der Befund unbestimmt oder das Gutachten widersprüchlich oder sonst mangelhaft ist (vgl dazu RIS Justiz RS0127942) und sich die Bedenken nicht durch die Befragung des bestellten Sachverständigen beseitigen lassen (vgl auch RIS-Justiz RS0097433). Hatte der Angeklagte – wie hier – im Rahmen der Gutachtenserörterung die – von seinem Verteidiger und einer von ihm beigezogenen Person besonderen Fachwissens (§ 249 Abs 3 StPO) ausführlich genutzte – Gelegenheit, den Sachverständigen zu sämtlichen Kritikpunkten an Befund und Gutachten zu befragen (vgl ON 71 S 9 ff) und bezog dieser dazu Stellung, so bedarf es für einen (erfolgversprechenden) Beweisantrag auf Einholung eines weiteren Gutachtens der fundierten Darlegung, weshalb behauptete Bedenken nicht aufgeklärt wurden (RIS Justiz RS0102833 [T3]). Diesen Anforderungen entsprach der in Rede stehende Antrag nicht, zumal er sich in der Wiederholung bereits vorgetragener Bedenken an der Befundaufnahme erschöpft, ohne sich mit den diesbezüglichen Erläuterungen des Sachverständigen auseinanderzusetzen. Der Sache nach zielte der Antrag bloß auf eine Überprüfung der Expertise des beigezogenen Sachverständigen (in der nicht indizierten Erwartung eines für die Antragstellung günstigeren Ergebnisses) und damit auf eine unzulässige Erkundungsbeweisführung (RIS Justiz RS0117263 [T17]) ab.
[13] Entgegen der weiteren Verfahrensrüge (Z 4) wurden auch durch die Abweisung des in der Verhandlung am 19. Mai 2023 gestellten Antrags auf Einholung eines gynäkologischen und unfallchirurgischen Gutachtens zum Beweis dafür, dass „M*, würde man ihrer Version der Darstellung der Vorfälle vom 8. 3. 2022 folgen, wonach es eine brutale und gewaltsame Vergewaltigung zu ihrem Nachteil gegeben hätte, sie in Folge dessen hätte Verletzungen oder Verletzungsmerkmale aufweisen müssen“ (ON 99 S 5 f), Verteidigungsrechte nicht geschmälert. Denn der Antrag ließ offen, aus welchem Grund die Durchführung des begehrten Sachverständigenbeweises das behauptete Ergebnis erwarten lasse und erschöpfte sich solcherart ebenso in unzulässiger Erkundungsbeweisführung (vgl RIS Justiz RS0099453).
[14] Die Kritik an der erstgerichtlichen Begründung für die Abweisung der begehrten Beweisaufnahmen verkennt, dass die Richtigkeit einer solchen nicht unter Nichtigkeitssanktion steht (RIS Justiz RS0116749) und in der Beschwerde (insgesamt) nachgetragene Argumente zur Antragsfundierung unbeachtlich sind (RIS Justiz RS0099618).
[15] Die Mängelrüge (inhaltlich Z 5 vierter Fall) reklamiert , das Schöffengericht habe in der früheren, in der Folge wiederholten (vgl ON 71 S 2 f) Hauptverhandlung am 9. November 2022 (ON 53) getätigte Angaben des Angeklagten und des klinisch psychologischen Sachverständigen ebenso wie dessen schriftliches Gutachten (ON 40) verwertet, obwohl das Protokoll dieser Verhandlung sowie das schriftliche Sachverständigengutachten nicht verlesen oder vorgetragen worden seien (vgl ON 99 S 6 f). Die Rüge lässt allerdings außer Acht, dass sich der Angeklagte in der Hauptverhandlung am 13. Februar 2023 ausdrücklich auf seine bisherigen Angaben, insbesondere jene in der Verhandlung am 9. November 2022, berief (ON 71 S 2) und auch der Sachverständige sein Gutachten in dieser Verhandlung mündlich erstattete und dabei ebenso ausdrücklich seine bisherigen, unter anderem in der Verhandlung am 9. November 2022 getätigten Ausführungen und seine schriftlichen Gutachten (vgl ON 40, ON 66) aufrechthielt (ON 71 S 5 ff). Nur wenn im Urteil verwertete Beweismittel auf gar keine Art in der Hauptverhandlung vorgekommen wären, könnte aber Nichtigkeit gemäß § 281 Abs 1 Z 5 vierter Fall StPO vorliegen (RIS Justiz RS0126738, RS0107793; Ratz , WK StPO § 281 Rz 203, Rz 460; vgl Kirchbacher , WK StPO § 252 Rz 57).
[16] Aktenwidrigkeit (Z 5 fünfter Fall) wird mit Kritik an den von den Tatrichtern aus den Angaben des Opfers gezogenen Schlüssen (vgl US 6, US 8 f) nicht geltend gemacht (RIS Justiz RS0099431).
[17] Inwiefern zwischen der Feststellung, wonach der Angeklagte den Beinstumpf „berührt“ und jener, wonach er diesen „angegriffen“ habe, ein Widerspruch (Z 5 dritter Fall) bestehen soll, wird nicht klar. Ebensowenig erklärt die Beschwerde, weshalb die Urteilsaussage, wonach der Angeklagte M* die Krücken entriss und die Genannte zu Boden fiel (US 3, US 9), und die tatrichterlichen Überlegungen zum Fehlen sichtbarer körperlicher Verletzungen des Opfers (US 9) nach den Denkgesetzen oder grundlegenden Erfahrungssätzen nicht nebeneinander bestehen können sollen (RIS Justiz RS0117402).
[18] Dem weiteren Vorbringen (nominell „Z 9a“, der Sache nach Z 5 vierter Fall) zuwider hat das Schöffengericht den Vorsatz des Beschwerdeführers auf besondere Erniedrigung de s Opfers (US 4) aus dem objektiven Tatgeschehen und der Kenntnis des Angeklagten um die Schmerzempfindlichkeit deren Beinstumpfs (US 12 f iVm US 6) mängelfrei erschlossen.
[19] Indem der Beschwerdeführer, gestützt auf „Z 9a“, die Überzeugung des Schöffengerichts von der Glaubwürdigkeit des Opfers (vgl US 7 ff) kritisiert und den tatrichterlichen Erwägungen eigene Überlegungen gegenüberstellt, zeigt er keine Nichtigkeit auf, sondern argumentiert nach Art einer im schöffengerichtlichen Verfahren gesetzlich nicht vorgesehenen (§ 283 Abs 1 StGB) Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld.
[20] Die gegen die Annahme der Qualifikation des § 201 Abs 2 erster Fall StGB gerichtete Subsumtionsrüge (Z 10) erklärt nicht, weshalb die Feststellungen, denen zufolge M* durch den Angriff des Angeklagten eine länger als 24 Tage dauernde Gesundheitsschädigung in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung erlitt (US 4), die rechtliche Annahme einer schweren Körperverletzung im Sinn des § 84 Abs 1 StGB nicht tragen sollte (RIS-Justiz RS0099810, RS0116569).
[21] Soweit sich die Subsumtionsrüge gegen die Annahme einer besonderen Erniedrigung der vergewaltigten Person (§ 201 Abs 2 vierter Fall StGB) wendet, leitet sie nicht methodisch vertretbar aus dem Gesetz ab, weshalb die – von der Rüge überdies zum Teil prozessordnungswidrig ignorierten – Konstatierungen, wonach der Angeklagte M* – unter Ausnützung ihres schlechten Gesundheitszustands und ihrer aufgrund einer Amputation des rechten Unterschenkels eingeschränkten Mobilität (US 3, US 14) – wissentlich und willentlich (US 4), als sie ohne Krücken hilflos am Boden lag und robbend zu entkommen versuchte, umklammerte, festhielt, drohte, ihr eine Krücke vaginal einzuführen, sodann einen Finger in ihre Vagina einführte und dabei fortwährend ihren Beinstumpf berührte, was ihr massive Schmerzen verursachte (US 3 f), fallbezogen die Annahme einer Tatbegehung unter Begleitumständen, die das mit einer erzwungenen digitalen Vaginalpenetration notwendigerweise verbundene Maß der Demütigung des Opfers und der Missachtung dessen Menschenwürde erheblich überschreiten (vgl RIS-Justiz RS0095315), nicht tragen sollten. Insofern entzieht sich das Vorbringen einer inhaltlichen Erwiderung (RIS-Justiz RS0116569).
[22] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur, jedoch entgegen der hiezu erstatteten Äußerung des Verteidigers – bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über d ie Berufungen folgt (§ 285i StPO).
[23] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.