JudikaturOGH

11Os82/23b – OGH Entscheidung

Entscheidung
12. Dezember 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 12. Dezember 2023 durch die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek als Vorsitzende sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger, und Mag. Fürnkranz und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und Mag. Riffel in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Gindl als Schriftführerin in der Strafsache gegen * Z* wegen des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Fall StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 144 Hv 79/21z des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen einen Vorgang vom 7. Oktober 2021 erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Janda, zu Recht erkannt:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.

Text

Gründe:

[1] Mit unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem, in gekürzter Form ausgefertigtem Urteil der Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 7. Oktober 2021, GZ 144 Hv 79/21z 11, wurde der in der Hauptverhandlung nicht durch einen Verteidiger vertretene Angeklagte * Z* des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Fall StGB und des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 2, 84 Abs 2 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt (zu deren teilweiser Verbüßung und zur erfolgten bedingten Entlassung des Verurteilten vgl ON 18).

[2] Die Einzelrichterin ging dabei auf Basis der von ihr getroffenen Feststellungen zu den Vorstrafen des Genannten vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 39 Abs 1 StGB aus, weil er mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 4. August 2016, AZ 142 Hv 33/16p, wegen §§ 15, 142 Abs 1 und 143 Abs 1 erster Fall StGB – unter Anrechnung der im Verfahren verbüßten Vorhaft – zu einer unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von neun Monaten sowie mit Urteil des genannten Gerichts vom 5. Oktober 2020, AZ 161 Hv 71/20x, wegen §§ 15, 84 Abs 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 18 Monaten verurteilt worden war, wobei ein Teil dieser Freiheitsstrafe in der Dauer von 13 Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren wiederum bedingt nachgesehen und der unbedingte Teil der Freiheitsstrafe zumindest teilweise verbüßt worden war (US 2 f; vgl auch ON 6).

Rechtliche Beurteilung

[3] I n ihrer gegen den Vorgang der Durchführung der Hauptverhandlung gegen den nicht durch einen Verteidiger vertretenen Angeklagten gerichteten Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes führt die Generalprokuratur aus :

1./ Gemäß § 61 Abs 1 Z 5 StPO muss der Angeklagte in der Hauptverhandlung vor dem Einzelrichter des Landesgerichts durch einen Verteidiger vertreten sein, wenn für die Straftat (außer in den hier nicht vorliegenden Fällen der §§ 129 Abs 2 Z 1 und 164 Abs 4 StGB) eine drei Jahre übersteigende Freiheitsstrafe angedroht ist.

Indem § 61 Abs 1 Z 5 StPO tat (arg „Straftat“) und nicht rechtskategoriebezogen („strafbare Handlung“; vgl § 1 Abs 1 und § 260 Abs 1 Z 1 und 2 StPO; Ratz in WK 2 StGB Vor §§ 28–31 Rz 1 sowie WK StPO § 281 Rz 209) formuliert ist, meint die Bestimmung nicht bloß den Strafsatz, sondern vielmehr darüber hinausgehend den Strafrahmen (zu den Begriffen Ratz , WK StPO § 281 Rz 25, 666). Auch die durch §§ 39, 313 StGB erfolgte Erweiterung der Strafbefugnis ist daher – ungeachtet des Umstands, dass es sich dabei um §§ 28 f StGB nachgelagerte Strafrahmenbestimmungen handelt, welche zufolge SSt 46/40 (verst Senat) keinen Einfluss auf §§ 21, 37, 57 StGB und § 191 StPO haben ( Ratz , WK StPO § 281 Rz 668 ff) und ungeachtet der andere Zwecke betreffenden Vorschrift des § 29 Abs 2 StPO – in Rechnung zu stellen ( Ratz , WK StPO § 468 Rz 26; ebenso Soyer/​Schumann , WK StPO § 61 Rz 23/2 ff, insb 23/5 mit beachtlichen teleologischen Argumenten unter Hinweis auf den mit dem StPRG 2004 nach den Gesetzesmaterialien intendierten, durch die Schwere der Sanktionsdrohung bedingten Zweck des Verteidigerzwangs; Flora in WK 2 StGB § 39 Rz 42).

Da das Landesgericht für Strafsachen Wien fallbezogen (zufolge unterbliebenen Widerrufs der erstgenannten, bedingt nachgesehenen Vorstrafe des Verurteilten [vgl dazu RIS Justiz RS0115052; SSt 46/48; Flora in WK 2 StGB § 39 Rz 5; Leukauf/Steininger/ Tipold , StGB 4 § 39 Rz 5]) zwar rechtlich verfehlt vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 39 Abs 1 StGB, aufgrund des Vorliegens jener nach § 39 Abs 1a StGB (vgl dazu 11 Os 73/21a; Flora in WK 2 StGB § 39 Rz 29/1 ff; Leukauf/Steininger/ Tipold , StGB Update 2020 § 39 Rz 9c; vgl auch RIS Justiz RS0134087) jedoch im Ergebnis zutreffend von einer – gemäß § 84 Abs 2 iVm § 39 (richtig:) Abs 1a StGB erweiterten und sohin – drei Jahre Freiheitsstrafe übersteigenden Strafdrohung ausging (vgl RIS Justiz RS0126649), liegt eine Verletzung des § 61 Abs 1 Z 5 StPO vor.

2./ Gegen diesen Standpunkt lässt sich einwenden, dass das Gesetz unter „der angedrohten Freiheitsstrafe“ jene versteht, die für eine Tat unmittelbar in der betreffenden Strafnorm als primäre Freiheitsstrafe angedroht ist ( Markel , WK StPO § 30 Rz 1; 13 Os 49/21m). Demnach sind für die Frage der sachlichen Zuständigkeit der Gerichte – von den im Gesetz (insb § 29 Abs 2 StPO) normierten Ausnahmefällen abgesehen – nur die einen bestimmten Strafsatz (und damit die rechtsrichtige Subsumtion; vgl RIS Justiz RS0119249 [T8]; Höpfel in WK 2 StGB § 17 Rz 22 f; Ratz in WK 2 StGB Vor §§ 28–31 Rz 1; Ratz , WK StPO § 281 Rz 25 und 666 ff) bedingenden Umstände maßgeblich.

Die Bestimmung des § 39 StGB idF BGBl I 2019/105 normiert zwar einen bei qualifiziertem Rückfall stets anzuwendenden erweiterten Strafrahmen (Einführungserlass des BMVRDJ vom 18. Dezember 2019 zu den strafrechtlichen Bestimmungen des Gewaltschutzgesetzes 2019, BMVRDJ-S318.040/0016 IV 1/2019, S 8 ff; RIS Justiz RS0133600), hat aber keine Auswirkung auf die Subsumtion. Es handelt sich insoweit um eine (reine, den Strafsatz nicht bestimmende) Strafrahmenvorschrift ( Ratz , WK StPO § 281 Rz 668; RIS Justiz RS0133690; vgl auch 13 Os 28/20x, 15 Os 8/21x, 11 Os 26/21i, 11 Os 73/21a; aA Leukauf/Steininger/ Tipold , StGB Update 2020 § 39 Rz 18 [Erhöhung des Strafsatzes]).

§ 61 Abs 1 Z 5 StPO stellt – wie auch §§ 30 Abs 1, 31 Abs 2 Z 1, Abs 3 Z 1, Abs 4 Z 1 StPO („bedroht“) – auf die jeweils „angedrohte“ Strafe ab, sodass damit gleichermaßen allein der Strafsatz und nicht (auch) der Strafrahmen angesprochen ist (Gw 16/22v = JSt GP 2022/2, 284). Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 39 StGB wirkt sich daher – ungeachtet seiner zwingenden Anwendung – auf die Notwendigkeit der Verteidigung ebenso wenig aus wie auf die sachliche Zuständigkeit der Gerichte (so [zur Rechtslage vor BGBl I 2019/105] schon SSt 60/60 = RIS Justiz RS0098107; daran anschließend Fabrizy/Kirchbacher , StPO 14 § 61 Rz 3; Hinterhofer/Oshidari , Strafverfahren Rz 6.79).

Um dem Obersten Gerichtshof die Möglichkeit zu bieten, zu dieser (in der höchstgerichtlichen Judikatur bislang unbeantworteten) Rechtsfrage klärend Stellung zu nehmen, wird hier die zu 1./ dargelegte Rechtsansicht vertreten (vgl Ratz, WK StPO § 292 Rz 1 und 4; E. Weiß in Schmölzer/Mühlbacher , StPO 2 § 292 Rz 3).

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

[4] Die Bestimmung des § 39 StGB, die seit dem Inkrafttreten des Gewaltschutzgesetzes 2019 BGBl I 2019/105 am 1. Jänner 2020 einen bei qualifiziertem Rückfall stets anzuwendenden erweiterten Strafrahmen normiert (12 Os 97/20m; 13 Os 39/21s), hat keine Auswirkung auf die Subsumtion. Sie verändert nicht die Strafsätze, sondern nur die Strafrahmen, indem sie die Möglichkeit der Strafschärfung an schuldunabhängige Umstände knüpft (vgl insofern die Stellungnahme des Obersten Gerichtshofs vom 26. Juni 2019 zum Entwurf d es dritten Gewaltschutzgesetzes, 1 Präs. 1617–1848/19d [40/SN 158/ME 26 . GP 4 f]; vgl 13 Os 49/21m, 50/21h [Rz 12]).

[5] Die Strafprozessordnung und deren bisherige Entwicklung biete n keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber die Wendung wenn für die Straftat , außer in den Fällen des § 129 Abs 2 Z 1 und 164 Abs 4 StGB, eine drei Jahre übersteigende Freiheitsstrafe angedroht ist“ in § 61 Abs 1 Z 5 StPO idgF anders verstanden wissen wollte oder will als (insbesondere) in § 31 Abs 4 Z 1 StPO („ Straftaten , die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht sind“).

[6] Auch die bis zum Inkrafttreten des StPRG 2004 (BGBl I 2004/19) mit 1. Jänner 2008 in Kraft gewesene Vorgängerbestimmung § 41 StPO aF (zuletzt idF BGBl I 1999/55) statuierte notwendige Verteidigung (Verteidigerzwang) für die Hauptverhandlung vor dem Einzelrichter, wenn „für die Tat , außer in den Fällen der §§ 129 Z 1 bis 3 und 164 Abs 3 StGB, eine drei Jahre übersteigende Freiheitsstrafe angedroht ist“ (vgl § 41 Abs 1 Z 2 StPO idF BGBl 1993/526 und davor § 41 Abs 4 StPO idF BGBl 1987/605).

[7] Mit Entscheidung vom 21. September 1989 (12 Os 74/89 [12 Os 75/89] = SSt 60/60 = EvBl 1990/19, 88 = RZ 1990/22, 50 = RIS Jusitz RS0098107) verwarf der Oberste Gerichtshof eine von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes, welche unter dem Aspekt einer (nach Anhebung der Strafbefugnis des Einzelrichters) auf die Beibehaltung des bisherigen Rechtsschutzes gerichteten Intention des Gesetzgebers auf eine Interpretation der Bestimmung des § 41 Abs 4 StPO idF BGBl 1987/605 dahingehend abzielte, dass § 39 StGB – damals als fakultative Möglichkeit der Strafschärfung bei Rückfall verstanden – bei der Frage notwendiger Verteidigung zu berücksichtigen sei. Der Oberste Gerichtshof führte aus, dass, wenn das Gesetz von der „Androhung“ einer bestimmten Freiheitsstrafe oder davon spricht, dass eine bestimmte Freiheitsstrafe „angedroht“ oder eine strafbare Handlung mit einer bestimmten Freiheitsstrafe „bedroht“ ist, die allgemein im Strafgesetzbuch und in strafrechtlichen Nebengesetzen vorgesehenen Strafdrohungen gemeint sind (vgl auch RIS Justiz RS0086120).

[8] Ungeachtet dieser (hinreichend publizierten; vgl etwa Foregger/Kodek , StPO MKK 6 [1994] § 41; Bertel , Grundriß der österreichischen Strafprozessordnung 4 [1994] RN 325; Mayerhofer/Hollaender , StPO 5 [2004] § 41 Rz 68; Achammer , WK StPO [2003] § 41 Rz 7) Interpretation durch das Höchstgericht blieb der für diese Auslegung maßgebliche Wortlaut der Bestimmung bei nachfolgenden Änderungen des § 41 StPO aF und (seit Inkrafttreten des StPRG 2004) (insbesondere) des § 61 Abs 1 StPO (vgl etwa zuletzt BGBl I 2022/223) unverändert, wiewohl eine Klarstellung dahin erfolgen hätte können, dass (einzelne oder alle) Bestimmungen, die (fakultativ oder zwingend) auf eine Erweiterung des jeweils unmittelbar in Normen des Besonderen Teils des StGB (Strafsätzen) vorgesehenen Strafrahmens hinauslaufen, für die Frage der notwendigen Verteidigung in der Hauptverhandlung vor dem Einzelrichter zu berücksichtigen seien.

[9] Der Oberste Gerichtshof sieht sich angesichts des seit Jahrzehnten unverändert gebliebenen Gesetzeswortlauts der Bestimmung über die notwendige Verteidigung – auch im Vergleich mit den übrigen Bestimmungen der StPO, die an das Ausmaß der angedrohten Freiheitsstrafe bestimmte Rechtsfolgen anknüpfen (wie beispielsweise § 30 Abs 1, § 31 Abs 2 Z 1 und Abs 3 Z 1, § 170 Abs 1 Z 4, § 173 Abs 2 Z 3 und Abs 3, § 191 StPO) – zu einer differenzierenden Beurteilung der in Rede stehenden Wendung (gerade) in § 61 Abs 1 Z 5 StPO nicht veranlasst.

[10] Der Gesetzgeber des Gewaltschutzgesetzes 2019 (BGBl I 2019/105) konnte jedenfalls nicht davon überrascht sein, dass der Oberste Gerichtshof § 39 StGB auch nach dieser (am 1. Jänner 2020 in Kraft getretenen) Novellierung als keine den Strafsatz ändernde Bestimmung ansehen würde (vgl bereits die Stellungnahme des Obersten Gerichtshofs vom 26. Juni 2019 zum seinerzeitigen Ministerialentwurf, 1 Präs. 1617–1848/19d [= 40/SN 158/ME 26. GP], S 4 f; Einführungserlass vom 18. Dezember 2019; BMVRDJ-S318.040/0016-IV 1/2019; Punkt 1.2); zu entsprechenden Entscheidungen des Höchstgerichts zu seinem Verständnis von § 39 StGB idgF vgl 11 Os 73/21a; 13 Os 49/21m [13 Os 50/21h] mit Glosse von Ratz , EvBl 2021/150, 1052; RIS Justiz RS0133690).

[11] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher zu verwerfen.

Rückverweise