JudikaturOGH

8ObA47/23d – OGH Entscheidung

Entscheidung
17. November 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner und den Hofrat Dr. Thunhart sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Sylvia Zechmeister (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Ing. L*, vertreten durch Dr. Martin Riedl, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bundesministerium für Landesverteidigung), vertreten durch die Finanzprokuratur, 1011 Wien, Singerstraße 17–19, wegen 11.706,25 EUR brutto sA und Feststellung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. Mai 2022, GZ 9 Ra 26/22v 20, mit welchem das Urteil des Arbeits und Sozialgerichts Wien vom 19. Jänner 2022, GZ 14 Cga 71/21v 13 bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

[1] Der Kläger absolvierte bei der Beklagten von 5. 10. 1994 bis 4. 4. 1998 eine Kfz Mechanikerlehre und ist seit 5. 4. 1998 bei der Beklagten als Kfz Mechaniker beschäftigt. Anlässlich der Begründung des Dienstverhältnisses wurde der Vorrückungsstichtag aufgrund der Anrechnung der Lehrzeit nach Vollendung des 18. Lebensjahrs am 28. 1. 1997 von einem Jahr, zwei Monaten und sechs Tagen mit 29. 1. 1997 festgelegt. Nachdem die besoldungsrechtliche Stellung des Klägers nach §§ 94b und 94c VBG neu festzusetzen war, wurden zusätzlich zu den bereits angerechneten Vordienstzeiten weitere vier Jahre und zwei Tage an „sonstigen Zeiten" festgestellt, darunter die vor Vollendung seines 18. Lebensjahres absolvierte Lehrzeit von zwei Jahren, drei Monaten und 24 Tagen und ein Praktikum von 28 Tagen, die dem Kläger zur Hälfte angerechnet wurden, soweit sie das Ausmaß von vier zur Hälfte zu berücksichtigenden Jahren überstiegen. Die Zeit nach Vollendung seines 18. Lebensjahrs wurde ihm zur Gänze als Vordienstzeit angerechnet. Damit ergab sich ein Vergleichsstichtag am 27. 1. 1997, was einer Verbesserung des bisherigen Besoldungsdienstalters um zwei Tage entspricht.

[2] Der Kläger begehrt die Feststellung seines Vergleichsstichtags mit 17. 11. 1993 sowie die sich daraus ergebende Gehaltsdifferenz von 11.706 EUR sA. Die Beklagte hätte ihm bei der Neufestsetzung seines Vorrückungsstichtags die vor Vollendung seines 18. Lebensjahrs absolvierte Lehr- und Praktikumszeit zur Gänze anrechnen müssen, weil § 94c Abs 4 VBG, wonach „sonstige Zeiten" nur beschränkt anrechenbar seien, aufgrund der damit verbundenen Altersdiskriminierung unionsrechts und verfassungswidrig sei.

[3] Die Beklagte wendet ein, dass die Einstufung des Klägers nach den gesetzlichen Vorgaben erfolgt sei, die weder dem Unionsrecht noch der Verfassung widersprechen würden.

[4] Das Erstgericht wies die Klage ab. Die besoldungsrechtliche Einstufung des Klägers entspreche den §§ 94b und 94c VBG. Der Oberste Gerichtshof habe das Vorliegen einer Altersdiskriminierung sowie einen Verstoß gegen unions- oder verfassungsrechtliche Vorgaben bereits verneint. Lehrzeiten bei einer inländischen Gebietskörperschaft seien nach § 94c Abs 3 Z 5 VBG nur zu berücksichtigen, wenn der Vertragsbedienstete nach dem 31. 3. 2000 in das Dienstverhältnis eingetreten ist.

[5] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die ordentliche Revision nicht zu.

[6] Dagegen richtet sich die Revision des Klägers , mit welcher er eine Abänderung des angefochtenen Urteils im klagsstattgebenden Sinn beantragt; in eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[7] Die Beklagte beantragt der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[8] Die Revision ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts im Hinblick auf die zwischenzeitlich ergangene Entscheidung des EuGH zu C 650/21, Landespolizeidirektion Niederösterreich und Finanzamt Österreich , zulässig und im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[9] 1. Der EuGH sprach zu C 88/08, Hütter , aus, dass die damalige österreichische Rechtslage, nach welcher bei der Festlegung des Besoldungsdienstalters von Vertragsbediensteten die Berücksichtigung von vor Vollendung des 18. Lebensjahrs liegenden Dienstzeiten ausgeschlossen war, gegen Art 1, 2 und 6 der Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf verstößt, was eine Änderung des österreichischen Vertragsbedienstetengesetzes erforderlich gemacht hat.

[10] 2. Später ordnete der Gesetzgeber der 2. Dienstrechts Novelle 2019, BGBl I 58/2019, mit § 94b Abs 1 VBG eine Neueinstufung jener Vertragsbediensteten an, deren Vorrückungsstichtag unter Ausschluss der Anrechnung der vor dem 18. Geburtstag zurückgelegten Zeiten festgesetzt wurde. Nach § 94c Abs 2 Z 1 VBG ist für die Ermittlung des Vergleichsstichtags die Bestimmung des § 26 Abs 1 Z 2 lit b VBG idF der 2. Dienstrechts-Novelle 2007, BGBI I 96/2007, anzuwenden, wonach bestimmte sonstige Zeiten bis zu drei Jahren zur Gänze und bis zu weiteren drei Jahren zur Hälfte anzurechnen sind. Abweichend von diesen Bestimmungen sind sonstige Zeiten, die bis zum Höchstausmaß von drei Jahren zur Hälfte zu berücksichtigen sind, nach § 94c Abs 3 Z 4 VBG bis zum Höchstausmaß von sieben Jahren zur Hälfte zu berücksichtigen, nach § 94c Abs 4 VBG aber bei der Ermittlung des Vergleichsstichtags nur insoweit voranzustellen, als sie das Ausmaß von vier zur Hälfte zu berücksichtigenden Jahren übersteigen.

[11] 3. Der Oberste Gerichtshof hat zu 9 ObA 94/20v und 9 ObA 31/21f ausgesprochen, dass mit § 94c Abs 4 VBG keine Altersdiskriminierung verbunden sei, weil diese Vorschrift „sonstige Zeiten“ unabhängig von ihrer Lage im Lebensalter des Vertragsbediensteten betreffe und auch Zeiten nach dem 18. Lebensjahr erfasst seien. Auch der Verfassungsgerichtshof hat zu G 63/2022 von der Behandlung des Antrags, § 94c Abs 4 VBG als verfassungswidrig aufzuheben, mangels Aussicht auf Erfolg abgesehen. Im Gegensatz dazu hatte der VwGH zu Ra 2020/12/0068 Bedenken an der Unionsrechtskonformität der § 94c Abs 4 VBG entsprechenden Regelung in § 169g Abs 4 GehG, weil die beschränkte Anrechnung dazu führe, dass Dienstnehmer, die ihre sonstigen Zeiten vor Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegt haben, keine Verbesserung ihrer besoldungsrechtlichen Stellung erfahren würden, und leitete deshalb ein Vorabentscheidungsverfahren ein.

[12] 4. Nunmehr hat der EuGH zu C 650/21, Landespolizeidirektion Niederösterreich und Finanzamt Österreich , ausgesprochen, dass Art 1, 2 und 6 Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG in Verbindung mit Art 21 der Grundrechtecharta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der ein Besoldungssystem, das für diskriminierend befunden wurde, weil nur nach Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegte Vordienstzeiten berücksichtigt wurden, durch die Ermittlung eines Vergleichsstichtags korrigiert wird, bei dem die zur Hälfte zu berücksichtigenden „sonstigen Zeiten“ zwar von drei auf sieben Jahre angehoben wurde, aber nur insoweit anzurechnen sind, als sie vier Jahre übersteigen. Nach Ansicht des EuGH wird die zur Hälfte erfolgende Berücksichtigung der im Alter von 14 bis 18 Jahren zurückgelegten anrechenbaren Zeiten durch den in § 169g Abs 4 GehG 2020 vorgesehenen Pauschalabzugs von vier Jahren neutralisiert, sodass Beamte, die nur über solche vor Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegte Zeiten verfügen, trotz der Anhebung der Obergrenze der zu berücksichtigenden Zeiten um vier Jahre wohl keinen Anspruch auf eine wesentliche Verbesserung ihrer besoldungsrechtlichen Stellung haben. Eine solche Rechtslage scheint daher nicht geeignet zu sein, ein diskriminierungsfreies System zu schaffen, sondern vielmehr die durch das frühere System geschaffene Diskriminierung wegen des Alters festzuschreiben.

[13] 5. Der Gesetzgeber hat auf diese Entscheidung des EuGH mittlerweile dadurch reagiert, dass die verfahrensgegenständlichen Anrechnungsbestimmungen in §94c Abs 3 Z 4 und Abs 4 VBG mit BGBl I 137/2023 dahin geändert wurden, dass sonstige Zeiten, die nicht zur Gänze dem Tag der Anstellung voranzustellen sind und nach dem Ende der allgemeinen Schulpflicht von neun Jahren absolviert wurden, im Umfang von 42,86 % des Gesamtausmaßes dieser Zeiten und allenfalls nur bis zum Höchstausmaß von insgesamt drei Jahren und sechs Monaten zu berücksichtigen sind. Bei Vertragsbediensteten, deren besoldungsrechtliche Stellung bereits nach § 94b Abs 1 VBG neu festgesetzt wurde, ist die besoldungsrechtliche Stellung nach § 94b Abs 9 VBG idF BGBl I 137/2023 mit der Maßgabe neu festzusetzen, dass an Stelle des bereits ermittelten Vergleichsstichtags der Vergleichsstichtag gemäß § 94c VBG in der geltenden Fassung tritt. Diese Neuregelung betrifft auch den Kläger.

[14] 6. Auf eine Änderung der Rechtslage hat das Gericht in jeder Lage des Verfahrens Bedacht zu nehmen, sofern die neuen Bestimmungen nach ihrem Inhalt auf das in Streit stehende Rechtsverhältnis anzuwenden sind (RIS Justiz RS0031419; RS0106868). Nach § 182a ZPO hat das Gericht das Sach und Rechtsvorbringen der Parteien mit diesen zu erörtern und darf seine Entscheidung auf rechtliche Gesichtspunkte, die eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, nur stützen, wenn es diese mit den Parteien erörtert und ihnen Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat (RS0037300 [T46]). Das hat umso mehr bei geänderter Rechtslage zu gelten. Die Parteien müssen Gelegenheit haben, zur neuen Rechtslage ein Vorbringen zu erstatten (RS0037300 [T26]). Daraus folgt, dass das Klagebegehren nach Maßgabe der neuen Rechtslage zur Neufestsetzung der besoldungsrechtlichen Stellung des Klägers und der Bemessung seiner Bezüge zum Gegenstand einer Erörterung vor dem Erstgericht zu machen ist (8 ObA 31/19w).

[15] 7. Der Revision war daher im Ergebnis Folge zu geben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

[16] 8. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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