19Ob2/23t – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Weixelbraun Mohr sowie die Anwaltsrichter Dr. Klaar und Dr. Buresch als weitere Richter in der Rechtssache 1. MMag. C* S*, vertreten durch Mag. Dr. Maria Lisa Aidin, MAS, LL.M., Rechtsanwältin in Salzburg, und 2. Mag. Dr. M* L* A*, wegen Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter und Ausstellung einer Legitimationsurkunde gemäß § 15 RAO, über die Berufung der MMag. C* S* und der Mag. Dr. M* L* A* gegen den Beschluss des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer Salzburg vom 14. März 2023, AZ RAK/AIDIMA, nach öffentlicher mündlicher Verhandlung folgenden
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Berufung wird, soweit sich diese gegen die Verweigerung der Ausstellung einer Legitimationsurkunde gemäß § 15 Abs 4 RAO richtet, zurückgewiesen.
Im Übrigen wird der Berufung Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an den Ausschuss der Rechtsanwaltskammer Salzburg zurückverwiesen.
Text
Begründung:
[1] Die Erstberufungswerberin war von 1. 6. 2012 bis 3. 12. 2019 in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter bei der Rechtsanwaltskammer (RAK) Wien als Rechtsanwaltsanwärterin eingetragen. Mit dem Ableben ihres Ausbildungsanwalts wurde sie wegen der dadurch erfolgten Beendigung des Ausbildungsverhältnisses aus der Liste der Rechtsanwaltsanwärter gestrichen.
[2] Zum Zeitpunkt der Streichung aus der Liste der Rechtsanwaltsanwärter der RAK Wien waren gegen die Erstberufungswerberin drei Anzeigen beim Kammeranwalt der RAK Wien sowie 14 Verfahren beim Disziplinarrat der RAK Wien anhängig, drei weitere Verfahren waren nach in erster Instanz erfolgten Schuldsprüchen beim Obersten Gerichtshof anhängig. In weiteren sechs Verfahren war es zu Einstellungen, Rücklegungen und Freisprüchen gekommen, wovon zwei zum Zeitpunkt der Streichung noch nicht in Rechtskraft erwachsen waren.
[3] Infolge der Streichung der Erstberufungswerberin aus der Liste der Rechtsanwaltsanwärter wurden jene Disziplinarverfahren, die noch nicht rechtskräftig abgeschlossen waren, abgebrochen.
[4] Das Landesgericht für Strafsachen Graz erkannte mit rechtskräftigem Urteil vom 20. 9. 2019, AZ 11 Hv 19/18g, die Erstberufungswerberin des Vergehens der versuchten Nötigung nach §§ 15 Abs 1, 105 Abs 1 StGB rechtskräftig schuldig und verurteilte diese zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 9 EUR. Der Erstberufungswerberin lag zur Last, sie habe am 28. 4. 2015 in Graz dadurch, dass sie die in einem PKW sitzende Mag. E* R* am rechten Oberarm gepackt und aus dem Fahrzeug zu ziehen versucht hatte, vorsätzlich mit Gewalt zu einer Handlung, nämlich zum Verlassen des Fahrzeugs, zu nötigen versucht. Der von der Erstberufungswerberin gegen dieses Urteil erhobenen Berufung gab das Oberlandesgericht Graz mit Urteil vom 20. 12. 2020, AZ 10 Bs 79/20y, keine Folge.
[5] Die Erstberufungswerberin beantragte am 21. 9. 2020 die Wiedereintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter der RAK Wien. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 28. 9. 2021 abgewiesen.
[6] Die Erstberufungswerberin absolvierte in der Zeit von 1. 7. 2021 bis 26. 9. 2021 und von 28. 9. 2021 bis 1. 2. 2022 die Gerichtspraxis im Sprengel des Oberlandesgerichts Wien; darunter von 1. 12. 2021 bis 1. 2. 2022 bei der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt.
[7] Die Berufungswerberinnen beantragten am 16. 5. 2022 die Eintragung der Erstberufungswerberin in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter der RAK Salzburg und die Erteilung einer Legitimationsurkunde gemäß § 15 Abs 3 RAO. Diesem Antrag war neben den für die Eintragung notwendigen Dokumenten und Standesurkunden auch eine von der Erstberufungswerberin am 16. 5. 2022 eigenhändig unterfertigte eidesstättige Erklärung in Form eines von der RAK bereitgestellten Frageformulars beigeschlossen, welche folgenden Inhalt aufwies:
„Ich erkläre hiermit in Kenntnis der Bestimmungen der §§ 5 Abs 2 und 30 Abs 3 RAO an Eides statt, dass
a) ich wegen keiner gerichtlichen strafbaren Handlung weder in Österreich noch im Ausland, insbesondere nicht in einem Land der Europäischen Union, verurteilt wurde und
b) gegen mich weder in Österreich noch im Ausland ein strafgerichtliches Verfahren anhängig ist.
Diese Erklärung gilt unbeschadet des Tilgungsgesetzes oder vergleichbarer ausländischer Vorschriften und umfasst somit z.B. auch eine allfällige strafgerichtliche Verurteilung, die innerstaatlich keiner Auskunftspflicht unterliegt.“
[8] Die Abteilung 1 der RAK Salzburg wies mit Bescheid vom 12. 7. 2022 den Antrag auf Wiedereintragung der Erstberufungswerberin in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter und Erteilung einer Legitimationsurkunde gemäß § 15 Abs 3 RAO mit der Begründung ab, dass es sich bei diesem Antrag um einen solchen auf neuerliche Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter handle. Dafür seien alle Voraussetzungen des § 30 Abs 3 RAO zu prüfen, darunter auch die Vertrauenswürdigkeit. Die Erstberufungswerberin habe am 16. 5. 2022 gegenüber der RAK Salzburg eine objektiv unrichtige eidesstättige Erklärung abgegeben, indem sie unter Berufung auf die Bestimmungen der §§ 5 Abs 2, 30 Abs 3 RAO wahrheitswidrig erklärt habe, wegen keiner gerichtlich strafbaren Handlung, weder in Österreich noch im Ausland, verurteilt worden zu sein, obwohl sie rechtskräftig wegen versuchter Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB verurteilt worden war. Die Abgabe einer unrichtigen eidesstättigen Erklärung gegenüber der RAK Salzburg sei als vertrauensunwürdige Handlung zu werten, die einer Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter entgegenstehe. Aus diesem Grund habe sich auch eine Einvernahme der Erstberufungswerberin bzw der in Aussicht genommenen Ausbildungsanwältin erübrigt.
[9] Die Berufungswerberinnen erhoben gegen diesen Bescheid Vorstellung an den Ausschuss der RAK Salzburg, in der sie inhaltliche Rechtswidrigkeit sowie „gravierende Verfahrensmängel“ geltend machten und die Stattgebung des Antrags auf Eintragung der Erstberufungswerberin in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter anstrebten.
[10] Der Ausschuss der RAK Salzburg räumte den Berufungswerberinnen die Möglichkeit einer Stellungnahme ein, von welcher sie am 16. 1. 2023 Gebrauch gemacht und sich dahin geäußert haben, dass die Erstberufungswerberin bei Abfassung der eidesstättigen Erklärung davon ausgegangen sei, es seien nur mögliche Verurteilungen im Ausland gemeint, weil für alle anderen Angelegenheiten der übermittelte Strafregisterauszug das entsprechende Dokument sei.
[11] Der Ausschuss der RAK Salzburg gab der Vorstellung keine Folge und wies die Anträge auf Eintragung der Erstberufungswerberin in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter und auf Ausstellung einer Legitimationsurkunde gemäß § 15 Abs 3 RAO als unbegründet ab. Begründend führte der Ausschuss aus, dass bei einer neuerlichen Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter eigenständig auch darüber abzusprechen sei, ob die geforderte Vertrauenswürdigkeit allenfalls trotz früherer (disziplinärer) Verfehlungen gegeben sei. Schon alleine die Abgabe einer objektiv unrichtigen eidesstättigen Erklärung trotz Vorliegens einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung reiche aus, um die Vertrauensunwürdigkeit zu begründen, weil die für die Eintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter geforderte Vertrauenswürdigkeit danach zu beurteilen sei, ob das gesamte berufliche und charakterliche Verhalten eine in jeder Hinsicht korrekte und absolut verlässliche Berufsausübung erwarten lasse. Zusätzlich zur eidesstättigen Erklärung begründeten die Vielzahl der – infolge Streichung aus der Liste der Rechtsanwaltsanwärter der RAK Wien abgebrochenen – Disziplinarverfahren sowie das rechtskräftige Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz die Vertrauensunwürdigkeit. Der gerügte Verfahrensmangel des Versagens von Parteiengehör liege nicht vor, weil den Berufungswerberinnen die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme betreffend die objektiv unrichtige eidesstättige Erklärung eingeräumt worden sei, von welcher die Berufungswerberinnen auch Gebrauch gemacht haben. Zudem hätten nur wesentliche Verfahrensmängel zur Aufhebung einer erstinstanzlichen Entscheidung zu führen, bei deren Vermeidung eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre. Dies sei vorliegend nicht der Fall.
Rechtliche Beurteilung
[12] Gegen diesen Beschluss des Ausschusses der RAK Salzburg richtet sich die Berufung der Berufungswerberinnen mit dem Antrag auf (Wieder )Eintragung der Erstberufungswerberin in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter und Erteilung einer Legitimationsurkunde gemäß § 15 Abs 3 RAO. Hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Berufungswerberinnen machen zum einen Verfahrensmängel geltend, da keine mündliche Einvernahme erfolgt sei, keine Möglichkeit eingeräumt worden sei, zu den (abgebrochenen) Disziplinarverfahren vor der RAK Wien sowie dem rechtskräftigen Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 20. 9. 2019, AZ 11 Hv 19/18g, Stellung zu nehmen, und im Übrigen keine Wiedereintragung in die Liste der Rechtsanwaltsanwärter vorliege, sondern ein Übertritt und sohin die Vertrauenswürdigkeit nach § 30 Abs 3 RAO nicht erneut geprüft werden dürfe. Zum anderen führen die Berufungswerberinnen in ihrer Rechtsrüge aus, die getroffenen Feststellungen über die abgegebene eidesstättige Erklärung, die rechtskräftige Verurteilung wegen versuchter Nötigung und die abgebrochenen Disziplinarverfahren überschritten nicht die Schwelle zur Vertrauensunwürdigkeit.
[13] Die Berufung ist, soweit sie sich gegen die Verweigerung der Ausstellung einer Legitimationsurkunde (§ 15 Abs 4 RAO) richtet, unzulässig. Im Übrigen ist die Berufung in ihrem Aufhebungsantrag berechtigt.
[14] 1. Die Frage der Verweigerung der Ausstellung einer Legitimationsurkunde (§ 15 Abs 4 RAO) ist per se vor dem Obersten Gerichtshof nicht aufgreifbar (vgl OBDK 10. 6. 1991, Bkv 2/91 [taxative Aufzählung des § 30 Abs 4 RAO]; B. Fink in Murko/Nunner-Krautgasser [Hrsg], Anwaltliches und notarielles Berufsrecht, § 31 RAO Rz 4 [Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht]). Aus diesem Grund war insoweit mit der Zurückweisung der Berufung vorzugehen.
[15] 2.1. Zwischen der Streichung der Erstberufungswerberin aus der Liste der Rechtsanwaltsanwärter der RAK Wien am 3. 12. 2019 und dem (abgewiesenen) Antrag auf Eintragung in die Liste der RAK Wien am 21. 9. 2020 lagen über 10 Monate. Nach der von den Berufungswerberinnen selbst zitierten ständigen Rechtsprechung wird die Vertrauenswürdigkeit nur dann nicht erneut geprüft, wenn ein Übertritt in eine neue Kanzlei vorliegt. Dies ist nur bei unmittelbar anschließender Tätigkeit der Fall (vgl OGH 2. 5. 1957, Bkv 3/57; 27. 6. 1950, Ds 21/50). Bei einer 10 monatigen Unterbrechung liegt jedoch keine solche unmittelbar anschließende Tätigkeit vor.
[16] 2.2. Es ist zwar richtig, dass die Erstberufungswerberin am Ableben ihres seinerzeitigen Ausbildungsanwalts und dem daraus folgenden Ende des Ausbildungsverhältnisses kein Verschulden trifft. In einer vergleichbaren Situation befinden sich jedoch auch Rechtsanwaltsanwärter, deren Arbeitsverhältnis unverschuldet gekündigt oder vorzeitig beendet (unberechtigte Entlassung) wird. Auch in diesen Fällen wird, wenn nicht nahtlos in ein Ausbildungsverhältnis zu einem anderen Ausbildungsanwalt übergetreten wird, von einem Wiedereintritt ausgegangen. Das Verschulden der Rechtsanwaltsanwärter spielt für diese Beurteilung keine Rolle. Einen „ analogen” Übertritt gibt es rechtlich nicht und ein solcher liegt hier jedenfalls nicht vor. Die Vertrauenswürdigkeit der Erstberufungswerberin ist daher zu prüfen.
[17] 3.1. Die Berufungswerberinnen machen zur Vertrauenswürdigkeit der Erstberufungswerberin geltend, dass diese die eidesstättige Erklärung nur deshalb ohne Angabe über ihre strafgerichtliche Verurteilung unterschrieben habe, weil sich die Kenntnis des Ausschusses der RAK Salzburg aufgrund des Personalakts der RAK Wien vorausgesetzt und überdies angenommen habe, es seien nur solche strafgerichtlichen Verurteilungen bekanntzugeben, die nicht dem § 6 Abs 2 iVm Abs 1 TilgG unterliegen.
[18] 3.2. Nach ständiger Rechtsprechung ist das Vertrauen der rechtssuchenden Bevölkerung in die Anwaltschaft die anwaltliche Existenzgrundlage. Jede Beeinträchtigung dieses Vertrauens schädigt nicht nur den dadurch Betroffenen, sondern den ganzen Stand. Es muss daher von den hierzu berufenen Standesorganen präzise geprüft werden, ob ein Eintragungswerber jene Charaktereigenschaften aufweist, die man von einem Rechtsanwalt erwarten muss. Hierzu gehören neben Verschwiegenheit und Treue vor allem Gewissenhaftigkeit und absolute Integrität namentlich bei der Gebarung mit Fremdgeld (vgl Vitek in Engelhart/Hoffmann/Lehner/ Rohregger/Vitek , § 30 RAO 10 Rz 9 mwN zur stRsp).
[19] 3.3. Der Maßstab der Vertrauenswürdigkeit ist für Rechtsanwaltsanwärter derselbe wie für Rechtsanwälte und ist danach zu beurteilen, ob das gesamte berufliche und charakterliche Verhalten eine in jeder Hinsicht korrekte und absolut verlässliche Berufsausübung erwarten lässt (OGH 12. 9. 1977, Bkv 2/77).
[20] 3.4. Aus dem Wortlaut der von der Erstberufungswerberin unterfertigten eidesstättigen Erklärung geht ohne Zweifel hervor, dass sämtliche strafgerichtlichen Verurteilungen sowie anhängige strafgerichtliche Verfahren in Österreich sowie im Ausland gemeint sind. Die Wortfolge „Diese Erklärung gilt unbeschadet des Tilgungsgesetzes oder vergleichbarer ausländischer Vorschriften“ kann nur so verstanden werden, dass sämtliche Verurteilungen anzugeben sind. Der objektive Wortlaut der eidesstättigen Erklärung ist also eindeutig.
[21] 3.5. Schon alleine die Abgabe einer objektiv unrichtigen eidesstättigen Erklärung, mit der bestätigt wird, dass keine inländischen oder ausländischen Verurteilungen vorliegen bzw kein strafgerichtliches Verfahren anhängig ist, obwohl eine strafgerichtliche Verurteilung vorliegt, ist im Regelfall ein Verhalten, das keine in jeder Hinsicht korrekte und absolut verlässliche Berufsausübung erwarten lässt. Die rechtsuchende Bevölkerung muss darauf vertrauen können, dass Standesmitglieder der Rechtsanwaltschaft ihnen gegenüber objektiv richtige Erklärungen abgeben. Schon alleine die Abgabe der objektiv unrichtigen eidesstättigen Erklärung wäre daher in aller Regel für das Vorliegen von Vertrauensunwürdigkeit ausreichend.
[22] 3.6. Im hier vorliegenden Sonderfall betrifft die strafgerichtliche Verurteilung der Erstberufungswerberin allerdings eine solche, die dem § 6 Abs 2 Z 1 TilgG unterfällt und der Beschränkung der Auskunft nach dieser Bestimmung unterfällt. Das Verfahren über die von den Berufungswerberinnen gestellten Anträge wird in § 6 Abs 1 TilgG nicht genannt und der Verurteilte ist außerhalb der in § 6 Abs 1 Z 1 bis 3 TilgG genannten Verfahren zufolge § 6 Abs 5 TilgG nicht verpflichtet, die Verurteilung anzugeben. Die von der Erstberufungswerberin unterlassene Angabe der vorgelegenen Verurteilung war daher – weil dem § 6 Abs 5 TilgG entsprechend – gesetzeskonform und kann daher nicht die Vertrauensunwürdigkeit begründen.
[23] 4.1. Der Ausschuss der RAK Salzburg hat sich zur Vertrauensunwürdigkeit der Erstberufungswerberin zusätzlich auf jenes Verhalten gestützt, welches zu deren Verurteilung wegen versuchter Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB geführt habe.
[24] 4.2. Dieses Verhalten der Erstberufungswerberin stellte einen körperlichen Übergriff dar, der davon zeugt, dass die Erstberufungswerberin bereit ist, grenzüberschreitendes Verhalten zu setzen, um eigene Ziele zu verfolgen. Diese Tat hatte daher einen erheblichen sozialen Störwert. Als Standesmitglied hat man besonders darauf zu achten, kein Verhalten zu setzen, das das Vertrauen der rechtsuchenden Bevölkerung in den Stand der Rechtsanwaltschaft beeinträchtigen könnte. Hierbei spielt es keine Rolle, ob man das Verhalten während der Berufsausübung setzt oder die beteiligten Personen persönlich kennt.
[25] 4.3. Allerdings machen die Berufungswerberinnen in diesem Zusammenhang geltend, dass das Opfer dieses Übergriffs die Mutter eines Freundes und Geschäftspartners der Erstberufungswerberin sei und sich die Auseinandersetzung im Zuge einer familiären Streitigkeit um eine Erbschaft ereignet habe. Diese von der RAK Salzburg nicht geklärten Umstände vermögen ein solches Verhalten der Erstberufungswerberin zwar nicht zu entschuldigen, könnten es aber in einem wesentlich milderen Licht erscheinen lassen.
[26] 5. Den Berufungswerberinnen ist schließlich dahin beizupflichten, dass die infolge Streichung der Erstberufungswerberin aus der Liste der Rechtsanwaltsanwärter abgebrochenen Disziplinarverfahren bei der RAK Wien nicht ohne Ermittlungen über die konkreten Umstände, die diesen Disziplinarverfahren zugrundelagen, zur Annahme der Vertrauensunwürdigkeit herangezogen werden können. Die bloße Tatsache – selbst in erheblicher Anzahl – eingeleiteter Disziplinarverfahren reicht ohne deren rechtskräftige Erledigung und ohne umfassende Feststellung jener Sachverhalte, die zu den Disziplinarverfahren geführt haben, zur Annahme der Vertrauensunwürdigkeit nicht aus.
[27] 6. Im Ergebnis folgt, dass die von der Erstberufungswerberin unterlassene Angabe der vorgelegenen Verurteilung im Hinblick auf § 6 Abs 5 TilgG gesetzeskonform war und daher deren Vertrauensunwürdigkeit nicht zu begründen vermag. Das zur Verurteilung der Erstberufungswerberin führende Verhalten und die den abgebrochenen Disziplinarverfahren zugrundegelegenen Sachverhalte bedürfen einer eingehenden Klärung und aussagekräftiger Feststellungen, wozu insbesondere auch die Erstberufungswerberin einzuvernehmen (§ 30 Abs 3 letzter Satz RAO) sein wird. Erst nach ergänzender Klärung dieser Tatfragen wird die Frage der Vertrauenswürdigkeit der Erstberufungswerberin abschließend geklärt werden können.
[28] 7. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.