11Os44/23i – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 29. August 2023 durch die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger als Vorsitzende sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Fürnkranz und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und Mag. Riffel in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Mair als Schriftführerin in der Strafsache gegen J* G* wegen Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Schöffengericht vom 27. Jänner 2023, GZ 38 Hv 116/22h 25, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die Berufungen werden die Akten dem Oberlandesgericht Innsbruck zugeleitet.
Dem Angeklagten fallen die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Text
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde J* G* mehrerer Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB schuldig erkannt.
[2] Danach hat er im Zeitraum Herbst 1998 bis zumindest Herbst 2004 in F* außer dem Fall des § 206 StGB geschlechtliche Handlungen an einer unmündigen Person vorgenommen, indem er in zumindest zehn Angriffen (US 4) zu nicht näher feststellbaren Zeitpunkten jeweils abends die * 1991 geborene * M*, als sie bereits im Bett lag, in ihrem Zimmer aufsuchte, sich auf die Bettkante setzte, mit zumindest einer Hand unter ihren Pyjama fuhr und ihre unbekleidete Vagina und ab deren 12. Geburtstag ihre unbekleidete Brust betastete.
Rechtliche Beurteilung
[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 4, 5, 5a und 11 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.
[4] Dass sich der Angeklagte zum im ersten Stock gelegenen Tatort „geschlichen“ hätte, haben die Tatrichter (anders als die Anklage ON 16) ausdrücklich nicht angenommen (US 4 f, 13), sodass der zu diesem Beweisthema gestellte Antrag auf Durchführung eines Ortsaugenscheins betreffend die Räumlichkeiten im Elternhaus der * M* (ON 24 S 37) schon deshalb ohne Verletzung von Verteidigungsrechten abgewiesen wurde (RIS Justiz RS0099135).
[5] Das den Antrag ergänzende V orbringen hat angesichts des aus dem Wesen des herangezogenen Nichtigkeitsgrundes resultierenden Neuerungsverbots auf sich zu beruhen (RIS Justiz RS0099618).
[6] Der Mängelrüge (Z 5) ist vorauszuschicken, dass die tatrichterliche Beurteilung der Überzeugungskraft von Personalbeweisen (also die Glaubhaftigkeit der Angaben von Zeugen und Angeklagten) – so sie nicht undeutlich (Z 5 erster Fall) oder in sich widersprüchlich (Z 5 dritter Fall) ist – einer Anfechtung mit Nichtigkeitsbeschwerde entrückt ist (RIS Justiz RS0106588 [T13]). Sie kann zwar unter dem Aspekt der Unvollständigkeit (Z 5 zweiter Fall) mangelhaft erscheinen, wenn sich das Gericht mit gegen die Glaubhaftigkeit sprechenden Beweisergebnissen nicht auseinandergesetzt hat.
[7] Der Bezugspunkt besteht jedoch nicht in der Sachverhaltsannahme der Glaubhaftigkeit oder Unglaubhaftigkeit (die ihrerseits eine erhebliche Tatsache [zum Begriff Ratz , WK StPO § 281 Rz 409] darstellt), sondern ausschließlich in den Feststellungen über entscheidende Tatsachen (RIS Justiz RS0119422 [T2, T4]). Erheblich, somit nach Maßgabe ihres Vorkommens in der Hauptverhandlung (§ 258 Abs 1 StPO) erörterungsbedürftig, sind insoweit Tatumstände, welche die – von den Tatrichtern als notwendige Bedingung für die Feststellung einer entscheidenden Tatsache bejahte (vgl Ratz , WK StPO § 281 Rz 410) – Überzeugungskraft der Aussage (eines Zeugen oder Angeklagten) in Bezug auf diese entscheidende Tatsache ernsthaft in Frage stellen (vgl RIS Justiz RS0120109 [T3]; Ratz , WK StPO § 281 Rz 29; 11 Os 81/21b [Rz 10 f]).
[8] Die den Schuldspruch tragenden Feststellungen (US 4 ff) erschlossen die Tatrichter vor allem aus der von ihnen für glaubhaft befundenen Aussage der * M*.
[9] In den Angaben von deren Schwester, wonach der Angeklagte wiederholt ins Badezimmer gekommen sei oder dies versucht habe, während sie oder ihre Schwester geduscht oder gebadet hätten, und der * S*, wonach der Angeklagte einmal mit seiner Hand über ihren Oberschenkel bis hin zum Schritt gefahren sei, was sie dem Vater erzählt habe, der dies bestätigte, erblickten sie ebenso eine für ihre Einschätzung von der Überzeugungskraft der belastenden Angaben der * M* (bloß) zusätzliche Stütze wie in den Aussagen der * Ma*, der * E*, der S* F* und des N* F* zu Erzählungen der * M* über Übergriffe durch den Angeklagten (vgl RIS-Justiz RS0116737). Die leugnende Verantwortung des Angeklagten und die entlastende Aussage seiner Ehefrau verwarfen sie – auf Basis eingehender Plausibilitätserwägungen – als unglaubhaft (US 8 bis 14).
[10] Ob sich * M* mit ihrer Schwester ein Zimmer teilte, das Opfer den Angeklagten zum Firmpaten wählte, diesem ein Fotoalbum anlässlich der Firmung erstellte, mit diesem WhatsApp Korrespondenzen führte, ihn zum Skifahren einlud, ihn in Deutschland besuchte und ihm „Sachen anvertraute“, ist dem Beschwerdevorbringen (Z 5 zweiter Fall – nominell zum Teil auch Z 5 vierter Fall) zuwider ebenso wenig entscheidend (vgl RIS-Justiz RS0106268) wie die Fragen, wann die Schwester der * M* von den Übergriffen Kenntnis erlangte (nominell Z 5 vierter Fall), ob der Angeklagte diese oder * M* im Badezimmer aufsuchte oder dies versuchte und ob der Angeklagte im Zusammenhang mit einem anonymen Schreiben versuchte, * M* „zeitnah […] zu erreichen“ (nominell Z 5 fünfter Fall).
[11] Zu einer gesonderten Erörterung einzelner Details der als Schutzbehauptung verworfenen (US 12) Angaben des Angeklagten und dessen Ehefrau (wonach * M* und deren Schwester anlässlich von Besuchen „immer aufgeblieben sind“ – Z 5 vierter Fall) waren die Tatrichter dem Gebot zu bestimmter aber gedrängter Darstellung der Entscheidungsgründe (§ 270 Abs 2 Z 7 StPO – vgl RIS Justiz RS0106295) folgend nicht verhalten. Gleiches gilt für Angaben der * M* zur Frequenz ihrer Kommunikation mit dem Angeklagten, zu ihrem emotionalen Zustand sowie zur ebenso nicht entscheidenden Frage, ob der Angeklagte * M* im Intimbereich streichelte oder berührte (vgl Philipp in WK 2 StGB § 202 Rz 9 ff, § 207 Rz 7 ff; RIS Justiz RS0113816 [T5]).
[12] Der Einwand (Z 5 dritter Fall), die Ehefrau des Angeklagten und die Mutter der * M* hätten nicht wahrgenommen, dass der Angeklagte alleine in den ersten Stock gegangen oder länger abwesend gewesen wäre, übersieht, dass ein innerer Widerspruch nicht besteht, wenn Feststellungen – wie hier behauptet – in einem bloß vermeintlichen Widerspruch zu einzelnen Verfahrensergebnissen oder deren Interpretation durch den Beschwerdeführer stehen (vgl RIS Justiz RS0119089 [insbesondere T7]). Ebenso wenig wird mit diesem Vorbringen eine offenbar unzureichende Begründung (Z 5 vierter Fall – vgl RIS-Justiz RS0116732, RS0118317) oder eine Aktenwidrigkeit (Z 5 fünfter Fall – vgl RIS-Justiz RS0099431) aufgezeigt.
[13] Soweit die Rüge (Z 5 vierter Fall) weitwändig ein Aufsuchen des Tatorts durch den Angeklagten wie überhaupt dessen Täterschaft und einen nicht anklagegegenständlichen Übergriff zum Nachteil der * S* unter isolierter Betrachtung einzelner Beweisergebnisse (vgl jedoch RIS Justiz RS0119370) bestreitet, weiters behauptet, das Erstgericht habe keine begründeten Feststellungen zur Anzahl und Zeitpunkt der Übergriffe zum Nachteil der * M* getroffen (vgl jedoch US 4 und 10) und ein Zeuge vom Hören Sagen habe bloß einen Vorfall geschildert (nominell auch „Z 11“), erschöpft sie sich in einem Angriff auf die tatrichterliche Beweiswürdigung (§ 258 Abs 2 StPO) betreffend die Glaubhaftigkeit der Angaben der * M* nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen (§ 283 Abs 1 StPO) Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld.
[14] Die erneut ausschließlich gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben des Opfers gerichtete (und weitgehend unter Wiederholung der Argumentation der Mängelrüge ausgeführte) Tatsachenrüge (Z 5a) erweckt keine sich aus den Akten ergebenden erheblichen Bedenken gegen die Richtigkeit des Ausspruchs über entscheidende Tatsachen (zum Anfechtungsgegenstand vgl RIS Justiz RS0106588 [T9, T10], RS0118780, RS0119583).
[15] Indem die Rüge unter Wiedergabe des Textes von RIS Justiz RS0090661 samt Beisatz zu (T3) lediglich lapidar postuliert , „[d]ie Berechnung der Zusatzstrafe ist nicht nachvollziehbar.“, zeigt sie Nichtigkeit aus § 281 Abs 1 „Z 11“ oder aus „Z 3 iVm § 260 Abs 1 Z 3 StPO“ StPO nicht auf (vgl im Übrigen Ratz , WK StPO § 281 Rz 269, 279, 671, 727).
[16] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufungen folgt (§ 285i StPO).
[17] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.