9Ob28/23t – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofrätinnen und Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer, Dr. Hargassner, Mag. Korn und Dr. Annerl in der Rechtssache der klagenden Partei Dr. A*, vertreten durch Held Berdnik Astner Partner Rechtsanwälte GmbH in Graz, gegen die beklagte Partei Dr. in M*, vertreten durch Mag. Markus Lechner, Rechtsanwalt in Lochau, wegen 247.483,60 EUR sA, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 10. Mai 2023, GZ 4 R 28/23d 16, mit dem aus Anlass der Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 16. Dezember 2022, GZ 20 Cg 86/22i 10, und das vorangegangene Verfahren als nichtig aufgehoben und die Klage wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs zurückgewiesen wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und dem Berufungsgericht die neuerliche Entscheidung über die Berufung der klagenden Partei unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 3.208,89 EUR (darin 534,81 EUR USt) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
[1] Die Streitteile sind Angehörige der Ärztekammer S*. Die Beklagte übernahm am 1. 1. 2022 den Standort der Kassenpraxis des Klägers. Dieser beantragte erst nach Klagseinbringung die Einleitung eines Schlichtungsverfahrens nach § 94 ÄrzteG 1998 wegen der Übergabe der Ordination an die Beklagte, welches bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz nicht beendet war. Der Vorstand der Ärztekammer für S* erließ eine Richtlinie über das Verfahren zur Bewertung einer Kassenpraxis und einen Leitfaden zur Praxisauf- und übergabe.
[2] Der Kläger begehrt von der Beklagten die Zahlung von 247.483,60 EUR sA. Im Dezember 2019 habe er mit der Beklagten vereinbart, dass diese seine Arztpraxis gegen eine Ablöse entsprechend den Berechnungsmodalitäten der Richtlinie über das Verfahren zur Bewertung einer Kassenpraxis der Ärztekammer mit 1. 1. 2022 übernehme. Der Kaufpreis solle bis dahin gezahlt werden. Tatsächlich habe die Beklagte die Ordination übernommen, jedoch den Kaufpreis nicht entrichtet.
[3] Die Beklagte bestritt und wandte unter anderem ein, dass die Klagsforderung nicht klagbar bzw nicht fällig und die Klage daher zurück- bzw abzuweisen sei, weil der Kläger das obligatorische Schlichtungsverfahren nach § 94 ÄrzteG 1998 nicht eingeleitet habe. Im Übrigen habe sie die vom Kläger behauptete Vereinbarung nie abgeschlossen.
[4] Das Erstgericht schränkte in der Tagsatzung vom 16. 12. 2022 die Verhandlung auf den Einwand der Unzulässigkeit des Rechtswegs ein. Es wies das Klagebegehren mit Urteil ab, weil der Kläger das obligatorische Schlichtungsverfahren gemäß § 94 Abs 1 ÄrzteG 1998 nicht eingehalten habe.
[5] Das Berufungsgericht hob aus Anlass der dagegen gerichteten Berufung des Klägers das angefochtene Urteil und das vorangegangene Verfahren mit Beschluss als nichtig auf und wies die Klage wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs zurück. Beim vorliegenden Rechtsstreit im Zusammenhang mit der Übergabe der Ordination handle es sich um eine Streitigkeit zwischen Ärzten bei Ausübung des ärztlichen Berufs im Sinne des § 94 Abs 1 ÄrzteG 1998. Die Nichteinhaltung des Schlichtungsverfahrens vor Einbringung der zivilrechtlichen Klage (§ 94 Abs 4 ÄrzteG 1998) begründe die Unzulässigkeit des Rechtswegs (und nicht nur den über Einwand wahrzunehmenden Mangel der Klagbarkeit bzw Fälligkeit).
[6] In seinem dagegen gerichteten Rekurs beantragt der Kläger den Beschluss des Berufungsgerichts aufzuheben und diesem die Sachentscheidung über die Berufung aufzutragen, in eventu die Rechtssache an das Prozessgericht erster Instanz zur allfälligen Ergänzung der Verhandlung und neuerlichen Entscheidung zurückzuverweisen, in eventu dem Berufungsgericht aufzutragen, in der Sache selbst zu entscheiden und dem Klagebegehren stattzugeben.
[7] Die Beklagte beantragt in ihrer Rekursbeantwortung , dem Rekurs des Klägers nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[8] Der Rekurs des Klägers ist zulässig (RS0043861) und im Sinne des Aufhebungsantrags (Hauptantrag) auch berechtigt.
1. § 94 Abs 1 und 4 ÄrzteG 1998 („Schlichtungsverfahren“) lautet:
(1) Die Kammerangehörigen sind verpflichtet, vor Einbringung einer zivilgerichtlichen Klage oder Erhebung einer Privatanklage alle sich zwischen ihnen bei Ausübung des ärztlichen Berufes oder im Rahmen ihrer Tätigkeit in der Standesvertretung ergebenden Streitigkeiten einem Schlichtungsausschuß der Ärztekammer zur Schlichtung vorzulegen. Diese Bestimmung ist auf Ärzte für Allgemeinmedizin, approbierte Ärzte und Fachärzte, die ihren Beruf im Rahmen eines Dienstverhältnisses bei einer Gebietskörperschaft oder einer anderen Körperschaft öffentlichen Rechts ausüben, nur insoweit anzuwenden, als sich die Streitigkeiten nicht auf das Dienstverhältnis oder die Dienststellung des Arztes beziehen.
(4) Eine zivilgerichtliche Klage darf erst eingebracht und eine Privatanklage darf erst erhoben werden, sobald entweder die im Abs. 3 genannte Zeit verstrichen oder noch vor Ablauf dieser Zeit das Schlichtungsverfahren beendet ist.
[9] 2. Die Rechtsprechung interpretiert die Wendung „bei Ausübung des ärztlichen Berufs“ (§ 4 Abs 2 Satz 1 der Schlichtungsordnung der Österreichischen Ärztekammer enthält dieselbe Wortwahl) dahin, dass damit Streitigkeiten, die sich aus der Ausübung des ärztlichen Berufs ergeben, umfasst sind. Diese Auslegung entspricht der Zielsetzung der Einrichtung der Schlichtungsstellen, nämlich den Versuch zu unternehmen, einen Streit aus der beruflichen Tätigkeit durch eine interne, mit Fachleuten besetzte Einrichtung zu schlichten und damit ein Hinausdringen der dem Berufsstand meist nicht förderlichen Angelegenheit an eine breitere Öffentlichkeit zu verhindern. Das Schlichtungsverfahren soll den Parteien die Möglichkeit bieten, ohne jede Formstrenge unter Anleitung erfahrener und sachkundiger Personen den Versuch einer ein oft langwieriges und kostenaufwendiges gerichtliches Verfahren vermeidenden gütlichen Einigung zu unternehmen (6 Ob 32/05g; 9 Ob 85/18t Pkt 2.3.).
[10] 3. Ob die hier vorliegende Streitigkeit zwischen zwei Ärzten über den Abschluss eines Kaufvertrags für eine Arztordination der Schlichtungsklausel des § 94 Abs 1 ÄrzteG 1998 unterfällt, wurde vom Obersten Gerichtshof bislang noch nicht beantwortet. Im Schrifttum ( Wallner in Neumayr/Resch/Wallner , GmundKomm² § 94 ÄrzteG 1998; Eberhard/Ponader in Stöger/Zahrl , ÄrzteG § 94; Emberger/Wallner , ÄrzteG² § 94) finden sich dazu keine entscheidenden Anhaltspunkte.
[11] 4.1. Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage ist die Auslegung des § 94 Abs 1 ÄrzteG nach §§ 6 f ABGB. Am Anfang jeder Gesetzesauslegung steht die wörtliche (sprachliche, grammatikalische) Auslegung, die nach dem Wortsinn der Norm und innerhalb des durch den äußerst möglichen Wortsinn abgesteckten Rahmens nach der Bedeutung eines Ausdrucks im allgemeinen Sprachgebrauch oder dem des Gesetzgebers und in seinem Zusammenhang innerhalb der Regelung fragt (RS0008896 [T4]). Die Gesetzesauslegung darf aber bei der Wortinterpretation nicht stehen bleiben. Der Sinn einer Bestimmung ist unter Bedachtnahme auf deren Zweck zu erfassen (objektiv-teleologische Interpretation; RS0008836 [T4]).
[12] 4.2. Diesen Grundsätzen entspricht die von der Rechtsprechung vorgenommene Auslegung, dass von der Wendung „ bei Ausübung des ärztlichen Berufs“ Streitigkeiten umfasst sind, die sich aus der Ausübung des ärztlichen Berufs ergeben. Eine weite(re) Auslegung dieser Wendung ist nicht geboten, schränkt doch das obligatorische Schlichtungsverfahren die grundsätzliche Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit für Zivilrechtsstreitigkeiten (§ 1 JN) ein. Vielmehr muss die Streitigkeit mit der Ausübung des ärztlichen Berufs untrennbar verbunden sein (vgl 6 Ob 32/05g), um unter § 94 Abs 1 ÄrzteG 1998 subsumiert werden zu können.
[13] 5.1. Nach § 2 Abs 2 ÄrzteG umfasst die Ausübung des ärztlichen Berufs jede auf medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen begründete Tätigkeit, die unmittelbar am Menschen oder mittelbar für den Menschen ausgeführt wird. Davon ausgehend zeigt der Rekurswerber zutreffend auf, dass Streitigkeiten der Schlichtung nach § 94 Abs 1 ÄrzteG 1998 unterfallen, die zum einen in § 2 ÄrzteG genannt sind (ärztliche Tätigkeiten im engeren Sinn) und zum anderen, die die Folge einer ärztlichen Tätigkeit im Sinne des § 2 ÄrzteG 1998 sind (ärztliche Tätigkeiten im weiteren Sinn; vgl 6 Ob 32/05g). Entgegen der Rechtsansicht der Beklagten ist daher nicht jede Verhaltensweise eines Arztes, die im Zusammenhang mit der Ausübung seiner ärztlichen Tätigkeit steht, von der obligatorischen Schlichtung umfasst ist. Eine derart weite Formulierung hat der Gesetzgeber nicht gewählt.
[14] 5.2. Die Frage, ob die Parteien einen Kaufvertrag über die Arztordination abgeschlossen haben, ist weder eine Streitigkeit, der eine ärztliche Tätigkeit im Sinne des § 2 ÄrzteG zugrunde lag noch eine, der eine ärztliche Tätigkeit im Sinn des § 2 ÄrzteG voranging.
[15] 5.3. Dieses Ergebnis widerspricht auch nicht dem oben dargelegten Zweck der Einrichtung der ärztlichen Schlichtungsstelle, ist doch kein Grund ersichtlich, weshalb es das Ansehen des Berufsstandes beeinträchtigen könnte, wenn diese Streitigkeit (unter Umständen) einer breiteren Öffentlichkeit bekannt würde. Bei der hier vorliegenden Streitigkeit im Zuge eines „Unternehmensverkaufs“ handelt es sich vielmehr um eine Zivilrechtsstreitigkeit, die auch in anderen Branchen vorkommen kann.
[16] 6. Zusammengefasst handelt es sich bei einer Streitigkeit zwischen zwei Ärzten über den Abschluss eines Kaufvertrags über eine Ordination um keine Streitigkeit „bei Ausübung des ärztlichen Berufes“, weshalb vor Einbringung der Zivilrechtsklage die Streitigkeit nicht einem Schlichtungsausschuss der Ärztekammer zur Schlichtung nach § 94 Abs 1 ÄrzteG 1998 vorzulegen ist.
[17] 7. Der Rekurs des Klägers ist daher berechtigt; seinem Aufhebungsantrag (Hauptantrag) ist Folge zu geben.
[18] 8. Die Kostenentscheidung beruht auf § 50 Abs 1, § 52 ZPO iVm § 41 Abs 1 ZPO. Die Beklagte ist im Zwischenstreit vor dem Obersten Gerichtshof über die Zulässigkeit des Rechtswegs bzw des Mangels der (derzeitigen) Klagbarkeit unterlegen und hat dem Kläger daher die darauf entfallenden Kosten zu ersetzen (RS0035955). Im Rekursverfahren an den Obersten Gerichtshof gebührt – wegen Fehlens einer dem Berufungsverfahren entsprechenden Rechtsgrundlage in § 23 RATG – nicht der dreifache, sondern nur der einfache Einheitssatz für Nebenleistungen (RS0115069).