10ObS72/23w – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Elisabeth Schmied (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei W*, vertreten durch Dr. Georg Lugert, Rechtsanwalt in St. Pölten, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1100 Wien, Wienerbergstraße 11, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. April 2023, GZ 7 Rs 90/22i 40, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Rekurs wird zurückgewiesen.
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Text
Begründung:
[1] Der Kläger arbeitete seit dem Jahr 1986 als Installateur.
[2] Im Jahr 2001 traten beim Kläger erstmals Handekzeme auf und wurde auch eine Nickel-Kobalt-Allergie nachgewiesen. Die berufliche Tätigkeit als Installateur führte beim Kläger zu einer Sensibilisierung gegenüber diesen Metallen. Die Erwerbsfähigkeit des Klägers ist insofern eingeschränkt, als Tätigkeiten mit häufigem Kontakt zu nickel-/kobalthältigen Stoffen Handekzeme auslösen und/oder verschlechtern können. Eine berufliche Tätigkeit als Installateur ist daher nicht mehr möglich. Da sich die Handekzeme ohne diese Belastung weitgehend zurückbilden, liegt die Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht höher als 10 %.
[3] Das beim Kläger bestehende allergische Asthma bronchiale ist ein anlagebedingtes Leiden mit geringer Verengung der Bronchien, das durch die berufliche Tätigkeit des Klägers als Installateur nicht richtungsweisend verschlimmert wurde. Es liegt keine Berufskrankheit aus pulmonaler Sicht vor. Eine berufsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit aus pulmonaler Sicht liegt ebenfalls nicht vor.
[4] Insgesamt bedingt die beim Kläger vorliegende Hautkrankheit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 %.
[5] Das Erstgericht „anerkannte“ die Hauterkrankung des Klägers als Berufskrankheit gemäß Anlage 1 zum ASVG (Nr 19) und wies die auf „Anerkennung“ der Atemwegsbeschwerden des Klägers als Berufskrankheit und Gewährung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß in eventu medizinischer Rehabilitationsmaßnahmen gerichteten Klagebegehren ab.
[6] Das Berufungsgericht wies die mit der Berufung vorgelegten Urkunden zurück und gab der Berufung nicht Folge. Die nunmehr vorgelegten Urkunden würden gegen das Neuerungsverbot verstoßen und seien zurückzuweisen. Wegen des Neuerungsverbots seien das erstmals in der Berufung erstattete Vorbringen und die in der Berufung auf Basis der vorgelegten Urkunden gestellten Beweisanträge unbeachtlich. Es verneinte die auf Einholung eines weiteren Gutachtens wegen behaupteter Widersprüchlichkeit des pulmologischen Gutachtens abzielende Mängelrüge. Die Beweisrüge sah das Berufungsgericht als nicht gesetzmäßig ausgeführt an, weil der Kläger in der Berufung nicht aufzeige, aufgrund welcher Beweismittel und Beweiswürdigung das Erstgericht die begehrten Ersatzfeststellungen zu treffen gehabt hätte. Indem der Kläger diese Feststellungen negiere bzw lediglich als unzutreffend bewerte, zeige er zudem nicht auf, aus welchen nachvollziehbaren Gründen das Erstgericht diese Feststellungen nicht hätte treffen dürfen bzw aufgrund welcher stichhaltigen Argumente den begehrten Ersatzfeststellungen der Vorzug zu geben gewesen wäre. Das Vorliegen von sekundären Feststellungsmängeln dazu, ob Nickel und Kobalt für den Kläger eine berufsbedingte Allergie aus pulmonaler Sicht hervorgerufen hätten, verneinte das Berufungsgericht unter Hinweis auf die getroffenen Feststellungen.
[7] Die Revision ließ das Berufungsgericht mangels Vorliegens von iSd § 502 Abs 1 ZPO erheblicher Rechtsfragen nicht zu.
[8] Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, mit der er auch den Beschluss auf Zurückweisung der in der Berufung vorgelegten Urkunden bekämpft. Insofern ist das Rechtsmittel ein Rekurs gegen einen Beschluss des Berufungsgerichts. Er beantragt die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen und die Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht.
Rechtliche Beurteilung
[9] 1. Der Rekurs gegen den Beschluss des Berufungsgerichts ist jedenfalls unzulässig.
[10] 1.1. Gegen Beschlüsse des Berufungsgerichts ist der Rekurs nur in den in § 519 Abs 1 ZPO genannten Fällen zulässig. Die Zurückweisung von Urkunden fällt nicht darunter und ist daher unanfechtbar (RIS Justiz RS0043841 [T1]; RS0041977).
[11] 1.2. Zudem traf der Beschluss des Berufungsgerichts auch inhaltlich zu:
[12] Es verletzt nach ständiger Rechtsprechung das – in Sozialrechtssachen ausnahmslos geltende (RS0042049) – Neuerungsverbot, wenn erst im Berufungsverfahren Beweismittel vorgelegt werden, die die Unrichtigkeit einer relevanten Tatsachenfeststellung belegen sollen (RS0105484); zur Unterstützung der Beweisrüge können neue Beweismittel nicht vorgebracht werden (RS0041812 [T6]). Dies gilt – entgegen der Rechtsansicht des Klägers – für alle nach dem Inhalt des Urteils und der Prozessakten in erster Instanz nicht bereits vorgekommenen Beweismittel (RS0042011), und zwar unabhängig davon, wann sich eine Partei erstmals darauf stützen hätte können.
[13] Dem Kläger wäre daher auch dann nicht geholfen, wenn man die Zurückweisung der Urkunden nicht § 519 ZPO, sondern dem Revisionsgrund des § 503 Z 2 ZPO (Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens) unterstellte (vgl zur Problematik Musger in Fasching/Konecny 3 § 519 Rz 28 ff mwN).
[14] 2. Im Übrigen zeigt der Kläger in seiner außerordentlichen Revision keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.
[15] 2.1.1. Angebliche Verfahrensmängel erster Instanz, die vom Berufungsgericht nicht als solche anerkannt worden sind, können in der Revision nicht neuerlich geltend gemacht werden (RS0042963). Ob ein in der Berufung behaupteter Verfahrensmangel vom Berufungsgericht zu Recht verneint wurde, ist vom Revisionsgericht auch in Sozialrechtssachen nicht mehr zu prüfen (RS0043061).
[16] 2.1.2. Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn eine Mängelrüge infolge unrichtiger Anwendung von Verfahrensvorschriften unerledigt blieb, oder wenn das Berufungsgericht einen gerügten Mangel erster Instanz mit einer aktenwidrigen oder rechtlich unhaltbaren Begründung verneint hätte. Einen solchen Fall spricht die Revision mit der inhaltlichen Kritik am Ergebnis des pulmologischen Sachverständigengutachtens aber nicht an.
[17] 2.1.3. Soweit sich der Kläger dadurch als beschwert erachtet, dass das Berufungsgericht seine Mängelrüge (auch) als nicht gesetzmäßig ausgeführt erachtete, ist ihm entgegen zu halten, dass das Berufungsgericht die Mängelrüge ohnedies auch inhaltlich behandelt hat. Dass das Berufungsgericht dabei den in der Berufung enthaltenen Verweis auf die im ersten Rechtsgang erhobene Berufung als unbeachtlich ansah, entspricht der Rechtsprechung (RS0043616); den Revisionsausführungen lässt sich überdies auch nicht entnehmen, welches konkrete Vorbringen zu Unrecht unberücksichtigt geblieben sein und welche für den Kläger ungünstige Konsequenz dies im vorliegenden Verfahren konkret bewirkt haben soll.
[18] 2.2. Das Berufungsgericht vermisste nachvollziehbare Ausführungen zum in der Berufung behaupteten Berufungsgrund der Aktenwidrigkeit. Dieser Beurteilung setzt der Kläger in der Revision lediglich entgegen, dass die Feststellung, wonach die berufliche Tätigkeit das beim Kläger vorhandene Asthma bronchiale nicht richtungsweisend verschlimmerte, in Widerspruch zum pulmologischen Sachverständigengutachten stehe, aus dem sich „zwingend“ die gegenteilige Feststellung ergebe. Die für die Geltendmachung einer Aktenwidrigkeit nötige unrichtige Wiedergabe des Inhalts eines Aktenbestandteils (RS0043347) lässt sich auch den Revisionsausführungen nicht entnehmen.
[19] 2.3. Der Oberste Gerichtshof ist ausschließlich als Rechtsinstanz zur Überprüfung von Rechtsfragen tätig (RS0123663). Eine mangelhafte oder unzureichende Beweiswürdigung kann im Revisionsverfahren grundsätzlich nicht angefochten werden. Die im Rechtsmittel wiederholt erhobene Kritik am pulmologischen Sachverständigengutachten und am darauf aufbauenden Ergebnis der Behandlung der Beweisrüge durch das Berufungsgericht ist daher einer Prüfung durch den Obersten Gerichtshof entzogen.
[20] 2.4. In der Revision behauptet der Kläger schließlich neuerlich das Vorliegen sekundärer Feststellungsmängel. Abgesehen davon, dass er das konkrete Thema nicht angibt, zu dem er Tatsachenfeststellungen vermisst, gesteht er ohnedies zu, dass „dazu“ Feststellungen getroffen wurden. Wenn zu einem bestimmten Thema Tatsachenfeststellungen getroffen wurden, mögen diese auch von den Vorstellungen des Rechtsmittelwerbers abweichen, können diesbezüglich auch keine rechtlichen Feststellungsmängel erfolgreich geltend gemacht werden (RS0053317 [T1]). Der Umstand, dass die vorhandenen Beweismittel auch andere Tatsachenfeststellungen ermöglicht hätten, macht die Feststellungsgrundlage nicht mangelhaft.
[21] 3. Mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision folglich zurückzuweisen.