JudikaturOGH

10Ob24/22k – OGH Entscheidung

Entscheidung
24. Juli 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie den Hofrat Mag. Ziegelbauer, die Hofrätin Dr. Faber und die Hofräte Mag. Schober und Dr. Annerl als weitere Richter in der Pflegschaftssache der 1. mj E* und 2. mj Y*, beide geboren * 2019, beide vertreten durch das Land Niederösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger (Bezirkshauptmannschaft St. Pölten, Am Bischofteich 1, 3100 St. Pölten), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch die Präsidentin des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 9. März 2022, GZ 23 R 69/22b, 23 R 70/22z 48, womit die Beschlüsse des Bezirksgerichts St. Pölten vom 12. November 2021, GZ 1 Pu 184/19s 34 und 1 Pu 184/19s 35, bestätigt wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

[1] Die bei der Mutter in Österreich wohnhaften Kinder verfügen über die türkische Staatsbürgerschaft. Auch die Mutter und der in der Türkei wohnhafte Vater sind türkische Staatsangehörige.

[2] Mit Beschluss des Erstgerichts vom 17. Dezember 2020 (ON 21) wurde die Unterhaltsverpflichtung des Vaters ab 21. April 2019 – ausgehend von einem als Hilfsarbeiter erzielbaren Einkommen – mit monatlich 85 EUR je Kind festgesetzt.

[3] Die Mutter bezieht seit 7. September 2021 bedarfsorientierte Mindestsicherung.

[4] Mit Anträgen vom 27. Oktober 2021 (ON 31 und 32) begehrten die Kinder die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG mit dem Vorbringen, der Unterhaltsschuldner leiste den laufenden Unterhaltsbeitrag trotz Eintritts der Vollstreckbarkeit nicht zur Gänze; ein Antrag auf Vollstreckung nach dem Haager Unterhaltsübereinkommen sei eingebracht worden.

[5] Mit Beschlüssen je vom 12. November 2021 gewährte das Erstgericht den Kindern von 1. Oktober 2021 bis 30. September 2026 einen monatlichen Unterhaltsvorschuss von jeweils 85 EUR (ON 34 und 35).

[6] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Bundes nicht Folge (ON 48). Die Arbeitnehmereigenschaft der Mutter nach der Verordnung (EWG) 1408/71 (im Folgenden nur VO 1408/71) leite sich ausschließlich aufgrund des Umstands einer bestehenden Teilversicherung ab. Der Bezug der bedarfsorientierten Mindestsicherung durch die Mutter sei ausreichend, um in den Anwendungsbereich der Verordnung zu fallen. Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht zu, weil die jüngere Rechtsprechung in Widerspruch zur älteren Rechtsprechung stehe und eine klarstellende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs erwirkt werden solle.

[7] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Bundes, mit dem dieser Abweisung der Vorschussanträge der Kinder anstrebt; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[8] Der Vater hat sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

[9] Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, aber nicht berechtigt.

[10] 1.1. Der in den Entscheidungen der Vorinstanzen als unterhaltspflichtig angesehene Vater hatte im Rekursverfahren – entgegen der gesetzlichen Vorschriften – kein rechtliches Gehör. Gründe der Verfahrensökonomie rechtfertigen diese Gehörsverletzung nicht und der Vater ist durch die (Unterhaltsvorschüsse gewährenden) Entscheidungen – entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichts – auch vor ihrer Rechtskraft oder Auszahlung der damit gewährten Vorschüsse beschwert. Damit haftet dem rekursgerichtlichen Verfahren ein Verstoß gegen § 66 Abs 1 Z 1 iVm § 58 Abs 1 Z 1 AußStrG an, der auch im Revisionsrekursverfahren analog § 55 Abs 3 AußStrG von Amts wegen wahrzunehmen wäre (RS0119971 [T3]).

[11] 1.2. Nach § 58 Abs 1 Z 1 und Abs 3 iVm § 71 Abs 4 AußStrG ist bei einem solchen schweren Verfahrensmangel vor der Entscheidung auf Aufhebung und Zurückweisung der Außerstreitsache an eine Vorinstanz zu prüfen, ob nicht eine Bestätigung selbst aufgrund der Angaben im Rechtsmittel oder eine Abänderung ohne weitere Erhebungen möglich ist. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, der bisher nicht gehörten Partei Gelegenheit zu geben, sich am Revisionsrekursverfahren zu beteiligen und ihre materiellen und/oder prozessualen Rechte geltend zu machen oder auch nicht (RS0123128). Mit Rücksicht auf § 58 Abs 2 AußStrG ist davon auszugehen, dass auch eine Beteiligung am Rechtsmittelverfahren ohne Geltendmachung der Gehörsverletzung deren Heilung bedeutet (10 Ob 18/19y [Pkt 3.2]; 5 Ob 237/09b [Pkt 3.4.]).

[12] 1.3. Über Aufträge des Obersten Gerichtshofs (10 Ob 24/22k vom 24. Mai 2022 [ON 55] und vom 18. Oktober 2022 [ON 79]) wurde die Zustellung der Rekursentscheidung sowie des Revisionsrekurses an den Vater nachgeholt, der die Gehörsverletzung nicht geltend machte. Mangels Notwendigkeit einer Verfahrensergänzung kann daher eine Aufhebung unterbleiben (vgl RS0123128 [T6]).

[13] 2. Der Revisionsrekurs macht geltend, dass Bezieher der bedarfsorientierten Mindestsicherung zwar krankenversichert, aber in Österreich nicht von einem System der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfasst seien, weil bedarfsorientierte Mindestsicherung allen hilfsbedürftigen Personen gewährt werde , die zu einem dauernden Aufenthalt im Inland berechtigt seien .

Dazu wurde erwogen:

[14] 2.1. Nach § 2 Abs 1 UVG haben minderjährige Kinder mit gewöhnlichem Aufenthalt in Österreich Anspruch auf Unterhaltsvorschuss (nur), wenn sie entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind. Türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen unterliegen allerdings dem in Art 3 des Assoziationsratsbeschlusses (ARB) Nr 3/80 vom 19. September 1980 enthaltenen Diskriminierungsverbot und haben daher in gleicher Weise Anspruch auf Unterhaltsvorschuss wie Unionsbürger, sofern sie in einem Mitgliedstaat wohnen (10 Ob 14/09w).

[15] 2.2. Die Kinder leiten ihre Ansprüche aus ihrer Stellung als Familienangehörige (ihrer im Inland aufhältigen Mutter) ab. Für die Verwendung des ARB Nr 3/80 haben (ua) die Ausdrücke „Familienangehörige“ und „Familienleistungen“ die Bedeutung, wie sie in Art 1 VO 1408/71 definiert ist (Art 1 lit a ARB Nr 3/80).

[16] 2.2.1. Unterhaltsvorschussleistungen fallen in den sachlichen Anwendungsbereich des ARB Nr 3/80 (10 Ob 14/09w; allgemein zur VO 1408/71 s 10 Ob 13/09y und 10 Ob 36/08d mwN aus der Rsp des EuGH).

[17] 2.2.2. Der Begriff „Familienangehörige“ wird in Art 1 lit f sublit i VO 1408/71 definiert als jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, als Familienangehöriger bestimmt, anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet wird. Da nach der Rechtsprechung des EuGH die Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten grundsätzlich nicht für Familienleistungen gilt (vgl EuGH C 85/99, Offermanns , Rn 34 mwN), kommt es für die unterhaltsberechtigten Antragsteller, um in den persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung zu fallen, nur noch darauf an, ob sie ihre Stellung von einem Elternteil ableiten können (vgl 10 Ob 13/09y; 10 Ob 107/08w). Der persönliche Anwendungsbereich nach dem ARB Nr 3/80 ist daher eröffnet, wenn die Antragsteller als Familienangehörige eines Arbeitnehmers anzusehen sind.

[18] 2.3. Der Begriff „Arbeitnehmer“ ist in Art 1 lit b sublit i ARB Nr 3/80 definiert als jede Person, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist, und zwar vorbehaltlich der (hier irrelevanten) Einschränkungen in Anhang V Punkt A. Belgien, Absatz 1 zur VO 1408/71.

[19] Diese – weitgehend mit jener der VO 1408/71 übereinstimmende – Definition des Arbeitnehmerbegriffs des ARB Nr 3/80 erstreckt sich nach der Rechtsprechung des EuGH auf jede Person, die, ob sie nun eine Erwerbstätigkeit ausübt oder nicht, die Versicherteneigenschaft nach den für die soziale Sicherheit geltenden Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten besitzt (EuGH C 262/96, Sürül , Rn 85). Eine Person ist demnach als Arbeitnehmer anzusehen, wenn sie auch nur gegen ein einziges Risiko in einem allgemeinen oder besonderen System der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist, ohne dass es darauf ankommt, ob sie in einem Arbeitsverhältnis steht (EuGH C 262/96, Sürül , Rn 85; zur VO 1408/71 auch EuGH C 516/09, Borger , Rn 26, 28).

[20] 2.4. Die Mutter ist unstrittig Bezieherin der bedarfsorientierten Mindestsicherung und somit gemäß § 9 ASVG in die Krankenversicherung einbezogen (§ 1 Z 20 der Verordnung über die Durchführung der Krankenversicherung für die gemäß § 9 ASVG in die Krankenversicherung einbezogenen Personen, BGBl 1969/420 in den Fassungen BGBl II 2019/419, BGBl II 2020/536 und BGBl II 2021/529). Entgegen der im Revisionsrekurs vertretenen Rechtsansicht ist die Mutter – auch wenn sie selbst keiner unselbständigen Beschäftigung nachgeht – in dem Zweig des Systems der sozialen Sicherheit versichert, in dem unselbständig beschäftigte Personen erfasst sind. Sie ist somit als Arbeitnehmerin iSd ARB Nr 3/80 anzusehen, von der die Antragsteller in Österreich ihre Stellung als Familienangehörige ableiten können. Sie haben aufgrund des Diskriminierungsverbots in gleicher Weise Anspruch auf Unterhaltsvorschuss wie österreichische Staatsbürger (Art 3 ARB Nr 3/80).

[21] 3. Dass die Antragsteller nicht österreichische Staatsbürger sind, steht ihrem Anspruch auf Unterhaltsvorschuss somit nicht entgegen. Andere Gründe, die gegen einen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschuss sprechen könnten, werden nicht geltend gemacht. Dem Revisionsrekurs ist somit nicht Folge zu geben.

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