JudikaturOGH

1Ob221/22i – OGH Entscheidung

Entscheidung
27. Juni 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R*, Deutschland, vertreten durch die Heinisch Weber Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 10.350 EUR sA und Feststellung, über die ordentliche Revision und den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungs und Rekursgericht vom 26. Juli 2022, GZ 14 R 111/22d 13, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 25. April 2022, GZ 33 Cg 35/21s 9, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

I. Die Revision wird zurückgewiesen .

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.634,85 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

II. Die klagende Partei wird mit ihrem Revisionsrekurs auf die Entscheidung über ihre Revision verwiesen.

Der Antrag der beklagten Partei auf Zuspruch der Kosten für die Revisionsrekursbeantwortung wird abgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Der (in Deutschland wohnhafte) Kläger hielt sich vom 4. 3. bis 8. 3. 2020 in See im Paznauntal auf. Am 1 1 . 3. 2020 traten bei ihm die ersten COVID 19 Symptome auf. Er wurde am 14 . 3. 2020 positiv getestet.

[2] Hinsichtlich der weiteren Feststellungen wird auf den in der Entscheidung zu 1 Ob 199/22d wiedergegebenen (identischen) Sachverhalt verwiesen.

[3] Der Kläger begehrt Schmerzengeld und Verdienstentgang von ins gesamt 10.350 EUR sowie die Feststellung der Haftung des b eklagten Bundes für alle weiteren bisher entstandenen und ihm noch nicht bekannten, sowie künftig entstehenden Schäden, die „direkt oder indirekt auf Fehler und Versäumnisse der der Beklagten zuzurechnenden Organe im Zusammenhang mit der Ausbreitung des SARS CoV 2 Virus im Paznauntal in der Zeit von 5. 3. 2020 bis 13. 3. 2020 zurückzuführen“ seien.

[4] Er habe sich „infolge des katastrophalen Missmanagements“ von Organen der Beklagten mit dem Coronavirus infiziert. Hätten die Behörden rechtmäßig und unverzüglich gehandelt, wäre er nicht erkrankt.

[5] Den Behörden sei spätestens am 4. 3. 2020 bekannt gewesen, dass das SARS CoV 2 Virus auch in Ischgl „grassiere“. Sie hätten daher spätestens ab 5. 3. 2020 die gesetzlich gebotenen unabdingbaren Maßnahmen setzen müssen, um die Quelle der Infektionen zu identifizieren und die weitere Ausbreitung des Virus einzudämmen. Insbesondere wären sie verpflichtet gewesen,

- spätestens am 5. 3. 2020 öffentlich bekannt zu geben, dass in Ischgl der Verdacht zahlreicher SARS CoV 19 Infektionen und augenscheinlich eine erhöhte Infektionsgefahr bestehe;

- ab 5. 3. 2020 gemäß § 5 EpiG sämtliche infizierten Personen ausfindig zu machen und nachzuvollziehen, woher deren Infektion stammte;

- ab 5. 3. 2020 sämtliche Veranstaltungen in und um Ischgl gemäß § 15 EpiG zu untersagen;

- spätestens ab 7. 3. 2020 sämtliche Seilbahnbetriebe, Skihütten und Gastronomiebetriebe gemäß § 20 EpiG zu schließen;

- ab 5. 3. 2020, spätestens jedoch ab 7. 3. 2020 jegliche Ein- und Ausreise aus Ischgl bzw dem Paznauntal gemäß § 24 EpiG zu unterbinden bzw allenfalls für eine geordnete und kontrollierte Abreise zu sorgen;

- die verhängten Maßnahmen auch gemäß § 43 Abs 4 EpiG konsequent durchzusetzen.

Stattdessen hätten die Behörden

- bis 8. 3. 2020 die Öffentlichkeit „mutmaßlich bewusst falsch“ informiert und sonst nichts unternommen;

- erst am 9. 3. 2020 das „evidentermaßen kontaminierte“ Lokal „K*“ geschlossen;

- erst mit Wirkung vom 11. 3. 2020 den Après Ski Betrieb eingestellt, die zulässige Besetzung der Gondeln auf die Hälfte reduziert und Veranstaltungen in geschlossenen Räumen auf 100 Personen beschränkt;

- es verabsäumt, die wenigen gesetzten Maßnahmen tatsächlich durchzusetzen;

- durch die vorzeitige Verkündung der Isolation des Paznauntals ohne ordnungsgemäße Vorbereitung der Ausreisemaßnahmen eine unkoordinierte und chaotische Ausreise zahlreicher Urlauber am 13. und 14. 3. 2020 verursacht.

[6] Die Organe der Beklagten hätten dadurch nicht nur gegen näher g e nannte Bestimmungen des Epidemiegesetzes, sondern auch gegen ihre aus Art 2 und Art 8 EMRK und aus europarechtlichen Vorschriften (Art 2, Art 3 GRC) abgeleitete Verpflichtung verstoßen, angemessene Maßnahmen zum Schutz des Lebens zu ergreifen und die Öffentlichkeit über lebensbedrohende Notfälle zu informieren. Auf die GRC könne sich der Kläger – ein deutscher Staatsangehöriger – insbesondere deshalb berufen, weil dieser die Dienstleistungsfreiheit in Anspruch genommen habe .

[7] Zur Präzisierung des Vorbringens zur inneren Tatseite stellte der Kläger gemäß § 184 ZPO eine Reihe von (in einem Schriftsatz aufgezählten) Fragen an die Beklagte. Er beantragte darüber hinaus, dieser gemäß §§ 303 ff ZPO die Vorlage „sämtlicher ihr zur Verfügung stehenden Urkunden“ über die Übertragung der Zuständigkeit für den Vollzug des EpiG von einem Tiroler Landesrat an den Landesamtsdirektor im März 2020 aufzutragen, falls sie diese nicht freiwillig vorlege.

[8] Die Beklagte wendete zusammengefasst ein, die Erkrankung des Klägers sei von ihren Organen keinesfalls „in Kauf genommen“ oder „mitverursacht“ worden oder sonst wie zu verantworten. Es fehle schon an einer Kausalität zwischen einem Organverhalten und der Erkrankung des Klägers. Die Gesundheitsbehörden hätten darüber hinaus zu jedem Zeitpunkt unverzüglich sämtliche dem Ermittlungsstand entsprechenden, erforderlichen und durch die bestehende Rechtslage zur Verfügung stehenden Maßnahmen gesetzt. Von einem rechtswidrigen und schuldhaften Handeln oder Unterlassen durch ihre Organe, die nicht zuletzt in einer besonderen, krisenhaften Situation rasche Entschlüsse hätten treffen müssen, könne daher keine Rede sein.

[9] Im Übrigen sei der Schadenersatzanspruch des Klägers nicht vom Schutzzweck des EpiG umfasst, dessen ausschließlicher Sinn und Zweck der Schutz der Allgemeinheit vor einer anzeigepflichtigen Krankheit sei und das schon seiner Bezeichnung nach nur die Verbreitung einer ansteckenden Krankheit in großem Ausmaß verhindern und nicht einzelne Betroffene schützen wolle.

[10] Überdies hätte dem Kläger aufgrund der Medienberichterstattung die mit SARS-CoV-2 verbundene epidemiologische Gefahr bekannt sein müssen. Dass er sich dennoch bewusst dafür entschieden habe, seine Reise anzutreten bzw fortzusetzen und sich der Gefahr einer Ansteckung auszusetzen, sei ihm jedenfalls als Alleinverschulden anzurechnen.

[11] Das Erstgericht wies das Klagebegehren mit Urteil und unter einem die Anträge des Klägers auf Zulassung seiner Fragen an die Beklagte (§ 184 ZPO) und auf Erteilung eines Auftrags zur Urkundenvorlage (§ 303 ZPO) mit Beschluss ab.

[12] Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und verwies den Kläger mit seinem Rekurs gegen die Abweisung seiner Anträge nach §§ 184, 303 ZPO auf diese Entscheidung, weil es den Rekurs der Mängelrüge in der Berufung zuordnete und dort abhandelte. Die ordentliche Revision ließ es zu, weil es an Rechtsprechung zum Schutzzweck der §§ 5, 20, 24 EpiG oder zu den Voraussetzungen einer „Reisewarnung“ fehle.

[13] Begründend führte es aus, die vom Kläger genannten Bestimmungen des EpiG schützten nur die Allgemeinheit, nicht aber bestimmte Personen oder Personengruppen. Dass der Kläger naturgemäß ein Teil der Allgemeinheit sei, bedeute nicht, dass er aus möglichen Verstößen gegen das EpiG individuelle Schadenersatzansprüche ableiten könne. Insofern fehle der Rechtswidrigkeitszusammenhang. Ob es solche Verstöße überhaupt gegeben habe, müsse daher nicht untersucht werden. Die vom Kläger vermissten radikalen und einschneidenden Maßnahmen ab dem ersten Verdachtsmoment wären aus grundrechtlicher Sicht unverhältnismäßig und daher unzulässig gewesen. Durch deren Unterbleiben seien seine Grundrechte nicht verletzt worden.

[14] Die Haftung für die Medienmitteilung des Amtes der Tiroler Landesregierung vom 5. 3. 2020 („Ansteckung im Flugzeug“) hänge davon ab, ob der Kläger diese „Landesinformation“ gekannt und ihr vertraut habe. Da der Kläger bereits am 4. 3. 2020 ins Paznauntal angereist sei, könne er die Medienmitteilung vor seiner Anreise weder gekannt noch ihr vertraut haben. Auch die Medienmitteilung vom 8. 3. 2020 könne für eine Infektion des Klägers nicht kausal gewesen sein. Damit sei eine Haftung der Beklagten für die Folgen der Ansteckung des Klägers ausgeschlossen. Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens lägen aus näher dargestellten Gründen nicht vor.

Zu I.

Rechtliche Beurteilung

[15] Die von der Beklagten beantwortete Revision des Klägers ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig . Das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage ist nach dem Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel durch den Obersten Gerichtshof zu beurteilen (RS0112769; RS0112921). Eine im Zeitpunkt der Einbringung des Rechtsmittels aufgeworfene erhebliche Rechtsfrage fällt weg, wenn sie durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs bereits geklärt wurde (RS0112769 [T12]; RS0112921 [T5]). Dies ist hier der Fall:

[16] 1. Der Oberste Gerichtshof hat sich bereits in der ausführlich begründeten Entscheidung zu 1 Ob 199/22d in einem gegen dieselbe Beklagte wie hier gerichteten Fall mit vergleichbarem Sachverhalt, wie er hier vom Kläger vorgebracht wurde, mit denselben Rechtsfragen eingehend auseinandergesetzt und eine rechtliche Grundlage für die Haftung der Beklagten verneint. Zusammengefasst ist den Argumenten des Klägers auf der Grundlage dieser Entscheidung entgegenzuhalten:

[17] 1.1. Sowohl die Materialien zur Stammfassung des EpiG als auch eine Analyse der vom Kläger in seinem Rechtsmittel herangezogenen Bestimmungen dieses Gesetzes zeigen, dass die der Behörde im II. Hauptstück (§§ 6 ff EpiG) auferlegten Handlungspflichten den Schutz der Allgemeinheit bezwecken. Der Einzelne ist von den Wirkungen und damit dem Schutz solcher Maßnahmen nur indirekt in Form einer Reflexwirkung betroffen. Allein der Umstand, dass die hier strittigen Maßnahmen nach dem EpiG, wären sie – allenfalls früher – ergriffen worden, möglicherweise auch dem Kläger zu Gute gekommen wären, weil er dann etwa nicht angereist oder ein bestimmtes Lokal nicht besucht hätte, kann den für eine Haftung erforderlichen Rechtswidrigkeitszusammenhang nicht begründen. Damit kann aus der behaupteten Unterlassung des nach Sicht des Klägers gebotenen Behördenverhaltens keine Amtshaftung abgeleitet werden. Eine weitere Prüfung, ob überhaupt eine schuldhafte Pflichtverletzung vorlag, hat daher zu unterbleiben. Für die nähere Begründung wird auf die Entscheidung zu 1 Ob 199/22d, Punkt I.B., verwiesen.

[18] 1.2. Mangels unmittelbarer Wirkung für die Verwaltung und damit für das konkrete behördliche Handeln können aus dem vom Kläger behaupteten Verstoß gegen Schutzpflichten nach Art 2 und Art 8 EMRK durch unzureichende Informationen keine Amtshaftungsansprüche abgeleitet werden. Für die nähere Begründung wird auf die Entscheidung zu 1 Ob 199/22d, Punkt I.C., verwiesen.

[19] 1.3. Die GRC bietet mangels Anwendbarkeit auf den vorliegenden Fall keine Grundlage für jene Handlungspflichten der Organe der Beklagten, aus deren Verletzung der Kläger Ansprüche ableitet. Auch andere von ihm ins Treffen geführte unionsrechtliche Bestimmungen vermögen eine Haftung nicht zu begründen. Diese Rechtslage ist aufgrund der bereits zu 1 Ob 199/22d zitierten Entscheidungen des EuGH so eindeutig, dass ein Vorabentscheidungsersuchen unterbleiben kann. Für die nähere Begründung wird auf die Entscheidung zu 1 Ob 199/22d, Punkt I.D., verwiesen.

[20] 1.4. Die vom Kläger genannten strafrechtlichen Bestimmungen sind jedenfalls nicht als Schutzgesetze im Sinn von § 1311 ABGB anzusehen. Auch sonst lässt sich aus strafrechtlichen Bestimmungen keine zivilrechtliche Haftung für Unterlassungen ableiten: Im Zusammenhang mit angeblichen Informationspflichtverletzungen fehlte schon eine Handlungspflicht der Vollziehung, sodass es umso weniger Handlungspflichten von Organwaltern geben konnte. Pflichten nach dem EpiG haben keinen individualschützenden Charakter, weswegen eine allfällige Verletzung unabhängig von strafrechtlichen Erwägungen keine Amtshaftung begründen kann. Für die nähere Begründung wird auf die Entscheidung zu 1 Ob 199/22d, Punkt I.E.1., verwiesen.

[21] 1.5. Eine unrichtige Information kann nach allgemeinen amtshaftungsrechtlichen Grundsätzen nur dann zur Haftung führen, wenn dadurch ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde. Das war bei den Medienmitteilungen vom 5. 3. 2020 und 8. 3. 2020 nicht der Fall. Für die nähere Begründung wird auf die Entscheidung zu 1 Ob 199/22d, Punkt I.E.2., verwiesen. Es kommt daher auf die Erwägungen des Klägers, dass diese Medienmitteilungen für seinen Schaden sehr wohl kausal gewesen wären, weil er bei deren „Richtigkeit“ sofort abgereist wäre, nicht an, wobei darauf hinzuweisen ist, dass er ohnehin – unabhängig von der Medienmitteilung vom selben Tag – am 8. 3. 2020 nach Hause gefahren ist.

2. Zu den angeblichen Verfahrensmängeln:

[22] 2.1. Die Nichtzulassung von Fragen und das Unterbleiben von Aufträgen nach den §§ 303 ff ZPO wurde vom Berufungsgericht zutreffend im Rahmen der Mängelrüge der Berufung geprüft. Die Verneinung des insofern geltend gemachten Verfahrensmangels ist daher als Teil der Entscheidung in der Sache und nicht als impliziter – und nach § 528 Abs 2 Z 2 ZPO jedenfalls unanfechtbarer – Beschluss anzusehen (näher 1 Ob 199/22d, Punkt I.F.). Damit ist dem Kläger aber nicht geholfen, weil nach ständiger Rechtsprechung Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens, die – wie hier – vom Berufungsgericht verneint wurden, im Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof nicht mehr geltend gemacht werden können (RS0043111; RS0042963).

[23] 2.2. Relevante Feststellungsmängel (und damit allenfalls verbundene sekundäre Verfahrensmängel) liegen nicht vor, weil eine Haftung aus den dargestellten Gründen ohnehin schon aufgrund des (Sach )Vorbringens des Klägers zu verneinen ist.

3. Ergebnis und Kosten

[24] 3.1. Die angefochtene Entscheidung steht im Einklang mit den Erwägungen des Fachsensats zu 1 Ob 199/22d, sodass die Revision mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen ist.

[25] 3.2. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 40, 50 ZPO. Die Beklagte hat in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen.

Zu II.

[26] Mit seinem Revisionsrekurs ist der Kläger aus den oben (Punkt I.2.1.) genannten Gründen auf die Entscheidung über seine Revision zu verweisen. Kosten für die Revisionsrekursbeantwortung sind nicht gesondert zuzusprechen ( Obermaier , Kostenhandbuch 3 [2018] Rz 1.258).

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