11Os8/23w – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 14. März 2023 durch die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger als Vorsitzende sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in der Strafsache gegen * L* wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Schöffengericht vom 11. Oktober 2022, GZ 318 Hv 16/22f 16.4, nach Anhörung der Generalprokuratur gemäß § 62 Abs 1 zweiter Satz OGH Geo 2019 den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die Berufungen werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.
Dem Angeklagten fallen die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Text
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * L* des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB schuldig erkannt.
[2] Danach hat er am 15. Mai 2022 in M* mit dem am 17. August 2009 geborenen, somit unmündigen * K* dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen, indem er zunächst dessen Penis streichelte und anschließend zweimal einen befeuchteten Finger in dessen Anus einführte und diesen darin bewegte.
Rechtliche Beurteilung
[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 5, 5a, 9 lit a und 10 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.
[4] Entgegen der unter Hinweis auf RIS Justiz RS0099494 erhobenen Mängelrüge (Z 5 vierter Fall) sind die auf die langjährige Freundschaft des Angeklagten zur Familie des Opfers und zu diesem selbst (US 10 iVm US 2) ge stützten – und dem weiteren Einwand (Z 5 erster Fall) zuwider deutlichen – Feststellungen zur subjektiven Tatseite in Ansehung des Alters des Opfers ungeachtet der Verwendung der Wortfolge „ist geradezu selbstverständlich“ nicht offenbar unzureichend begründet.
[5] Unvollständig (Z 5 zweiter Fall) ist ein Urteil dann, wenn das Gericht bei der für die Feststellung entscheidender Tatsachen (vgl RIS Justiz RS0117264) angestellten Beweiswürdigung erhebliche, in der Hauptverhandlung vorgekommene (§ 258 Abs 1 StPO) Verfahrensergebnisse unberücksichtigt ließ. Mit erheblichen Tatsachen sind Verfahrensergebnisse gemeint, welche die Eignung haben, die dem Gericht durch die Gesamtheit der übrigen Beweisergebnisse vermittelte Einschätzung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen einer entscheidenden Tatsache maßgebend zu beeinflussen (RIS Justiz RS0118316 [insbesondere T8]).
[6] Dass der Angeklagte die Familie des Opfers „seit 7–8 Jahren“ kennt, spricht nicht gegen die Kenntnis des Angeklagten von dessen Alter und haben die Tatrichter zudem ausdrücklich festgestellt (US 2). Ob das Opfer während des Angriffs geschlafen hat oder der Angeklagte zumindest davon ausging (nominell Z 5 erster und zweiter Fall), ist für eine Subsumtion unter § 206 Abs 1 StGB nicht entscheidend (vgl RIS Justiz RS0132891). Ebensowenig wird durch den Hinweis, dass im Referat der entscheidenden Tatsachen (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO – vgl RIS Justiz RS0116266) auch eine Handlung referiert wird, die für sich allein § 206 Abs 1 StGB nicht subsumiert werden könnte (zur Verdrängung von § 207 Abs 1 StGB durch § 206 Abs 1 StGB vgl RIS Justiz RS0090814, RS0115643), eine Unvollständigkeit (Z 5 zweiter Fall) der Entscheidungsgründe aufgezeigt.
[7] Schließlich moniert die Mängelrüge eine unzureichende Begründung (Z 5 vierter Fall) der „Feststellung“, eine Übertragung der DNA-Spuren des Angeklagten im Wege der Pyjamahose des Angeklagten in den Intimbereich des Opfers sei „äußerst unwahrscheinlich“.
[8] Tatsachenfeststellungen sind nur insoweit mit Mängelrüge (Z 5) oder Tatsachenrüge (Z 5a) anfechtbar, als sie die Frage nach der rechtlichen Kategorie einer oder mehrerer strafbarer Handlungen beantworten und solcherart im Sinn der angesprochenen Nichtigkeitsgründe entscheidend sind (RIS Justiz RS0117499). Beweiswerterwägungen der Tatrichter scheiden – sofern sie nicht den Gesetzen der Folgerichtigkeit oder grundlegenden empirischen Erfahrungssätzen über Kausalitätszusammenhänge widersprechen – als Anfechtungsgegenstand der Z 5 von vornherein aus (RIS Justiz RS0118317 [T3]). Die von der Rüge angesprochene Passage in den Entscheidungsgründen beinhaltet keine Feststellung entscheidender Tatsachen, sondern erörtert lediglich die (geringe) Plausibilität der Verantwortung des Angeklagten dazu, wie seine DNA in den Analbereich des Opfers gelangt sein könnte.
[9] Im Übrigen wird mit Behauptungen der Art, dass das Gericht bestimmte Aspekte ohnehin verwerteter Beweismittel nicht oder nicht den Intentionen des Beschwerdeführers entsprechend berücksichtigt habe, weder eine Unvollständigkeit noch eine unzureichende Begründung geltend gemacht, sondern nur nach Art einer im schöffengerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen (§ 283 Abs 1 StPO) Schuldberufung in unzulässiger Weise die tatrichterliche Beweiswürdigung (§ 258 Abs 2 StPO) bekämpft (RIS Justiz RS0099599).
[10] Die von der Mängelrüge vermisste (eingehende) Erörterung des Umstands, dass das Opfer angab, „bei dem Vorgang, den er als Eindringen des Fingers in den Anus interpretiert habe“ keine Schmerzen verspürt zu haben, findet sich auf US 8.
[11] Z 5a des § 281 Abs 1 StPO will als Tatsachenrüge nur geradezu unerträgliche Feststellungen zu entscheidenden Tatsachen (das sind schuld- oder subsumtionserhebliche Tatumstände, nicht aber im Urteil geschilderte Begleitumstände oder im Rahmen der Beweiswürdigung angestellte Erwägungen) und völlig lebensfremde Ergebnisse der Beweiswürdigung durch konkreten Verweis auf aktenkundige Beweismittel (bei gleichzeitiger Bedachtnahme auf die Gesamtheit der tatrichterlichen Beweiswerterwägungen) verhindern. Tatsachenrügen, die außerhalb solcher Sonderfälle auf eine Überprüfung der Beweiswürdigung abzielen, beantwortet der Oberste Gerichtshof ohne eingehende eigene Erwägungen, um über den Umfang seiner Eingriffsbefugnisse keine Missverständnisse aufkommen zu lassen (RIS Justiz RS0118780).
[12] Die Tatsachenrüge (Z 5a) vermag mit den Behauptungen, es bleibe offen, weshalb ein sexueller Notstand des Angeklagten vorgelegen haben soll, und, das Opfer müsse nicht bewusst falsch ausgesagt haben, keine erheblichen Bedenken gegen die Richtigkeit des Ausspruchs über entscheidende Tatsachen zu erwecken. Zur Kritik unterbliebener Untersuchung, ob es sich bei der DNA des Angeklagten um eine Speichel- oder Schweißspur handelt, legt der Beschwerdeführer nicht dar, weshalb er an einer darauf abzielenden Antragstellung (Z 4) gehindert war (RIS Justiz RS0115823).
[13] Die gesetzmäßige Ausführung eines materiell-rechtlichen Nichtigkeitsgrundes hat das Festhalten am gesamten im Urteil festgestellten Sachverhalt, dessen Vergleich mit dem darauf anzuwendenden Gesetz und die Behauptung, dass das Erstgericht bei Beurteilung dieses Sachverhalts einem Rechtsirrtum unterlegen ist, zur Voraussetzung (RIS Justiz RS0099810).
[14] Indem die Rechtsrüge (Z 9 lit a) lediglich die festgestellten Berührungen des Opfers auf der Haut im Intimbereich thematisiert, jedoch die Feststellungen zu analen Penetrationen übergeht, verfehlt sie eine prozessordnungskonforme Ausführung. Gleiches gilt für die Subsumtionsrüge (Z 10), die mit derselben Argumentation eine Verurteilung nach § 218 Abs 1a StGB anstrebt.
[15] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits nach der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufungen folgt (§ 285i StPO).
[16] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.