JudikaturOGH

9ObA2/23v – OGH Entscheidung

Entscheidung
16. Februar 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Mag. Korn sowie die fachkundigen Laienrichter David Hobel, LL.M. (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Thomas Kallab (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Göstinger Straße 26, 8020 Graz, vertreten durch Dr. Peter Schaden, Mag. Werner Thurner, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei P*, vertreten durch Mag. Gottfried Tazol, Rechtsanwalt in Völkermarkt, und der Nebenintervenientin auf Seiten der beklagten Partei K*versicherung *, vertreten durch Holzer Kofler Mikosch Kasper Rechtsanwälte OG in Klagenfurt, wegen 237.292,85 EUR sA und Feststellung (Streitwert: 5.000 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 17. November 2022, GZ 6 Ra 37/22s 63, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Mangel im erstinstanzlichen Verfahren, der vom Berufungsgericht verneint wurde, nicht mehr in der Revision erfolgreich gerügt werden (RS0042963). Dieser Grundsatz kann auch nicht durch die Behauptung umgangen werden, das Berufungsverfahren sei – weil das Berufungsgericht der Mängelrüge nicht gefolgt sei – mangelhaft geblieben (RS0042963 [T58]). Nur wenn das Berufungsgericht infolge unrichtiger Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften eine Erledigung der Mängelrüge unterlassen oder sie mit einer durch die Aktenlage nicht gedeckten Begründung verworfen hat, liegt ein Mangel des Berufungsverfahrens selbst vor (RS0040597 [T3, T4]; RS0043086). Das ist hier nicht der Fall.

[2] Das Berufungsgericht hat sich inhaltlich mit dem von der Klägerin in der Berufung geltend gemachten Verfahrensmangel auseinandergesetzt und darauf verwiesen, dass für das beantragte Gutachten kein konkretes Beweisthema genannt wurde, es sich im Wesentlichen um die Beurteilung von Rechtsfragen handelt, die einem Sachverständigenbeweis nicht zugänglich sind, und die Relevanz der Unterlassung der Beweisaufnahme in der Berufung nicht dargelegt wurde. Dass das Berufungsgericht sich daher nicht mit der Mängelrüge befasst hat, kann ihm nicht vorgeworfen werden.

[3] 2. Der Oberste Gerichtshof ist nicht Tatsacheninstanz. Eine mangelhafte und unzureichende Beweiswürdigung kann im Revisionsverfahren nicht angefochten werden. Nur wenn sich das Berufungsgericht mit der Beweisfrage überhaupt nicht befasst, ist sein Verfahren mangelhaft (RS0043371). Das Berufungsgericht muss sich aber nicht mit jedem einzelnen Beweisergebnis und jedem Argument des Berufungswerbers auseinandersetzen. Auch eine knapp gehaltene Begründung, die noch erkennen lässt, dass eine Prüfung stattgefunden hat, genügt (RS0043371 [T4, T18]). Diese Rechtsmittelbeschränkung kann auch nicht dadurch umgangen werden, dass ein unerwünschtes Ergebnis der Behandlung der Beweisrüge als Mangel des Berufungsverfahrens releviert wird. Vom Revisionsgericht ist nicht zu prüfen, ob eine vom Berufungsgericht gezogene Schlussfolgerung richtig oder fehlerhaft ist (RS0043150 [T5]).

[4] Das Berufungsgericht hat im Einzelnen dargelegt, warum es die Argumente der Klägerin gegen die Beweiswürdigung des Erstgerichts für nicht überzeugend erachtet. Von einer Scheinbegründung kann daher keine Rede sein. Eine Überprüfung der Richtigkeit der Erwägungen des Berufungsgerichts hat nicht zu erfolgen.

[5] 3. Entgegen den Ausführungen in der Revision hat das Erstgericht ohnehin festgestellt, dass im Tischlereibetrieb des Beklagten Türblätter häufig stehend gelagert wurden (nicht nur an die Presse gelehnt). Festgestellt wurde weiters, dass, wenn der Beklagte oder sein Vater dies wahrnahmen, sie den Mitarbeitern sagten, dass keine Teile an Maschinen angelehnt werden dürfen und sie insbesondere den später Verunfallten angewiesen haben, Türblätter auf Paletten liegend zu lagern. Die von der Klägerin monierten sekundären Feststellungsmängel liegen daher nicht vor, da zu den relevanten Themen Feststellungen getroffen wurden, wenn auch allenfalls nicht im Sinn der Klägerin.

[6] 4. Nach § 334 Abs 1 ASVG hat der Dienstgeber oder ein ihm gemäß § 333 Abs 4 ASVG Gleichgestellter, wenn er den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat, den Trägern der Sozialversicherung alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen zu ersetzen.

[7] Im Allgemeinen ist grobe Fahrlässigkeit anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich vorhersehbar ist (RS0030644). Das entscheidende Kriterium für die Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist demnach nicht die Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern die Schwere der Sorgfaltsverstöße und die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (RS0085332). Die Übertretung von Unfallverhütungsvorschriften und Dienstnehmerschutzbestimmungen muss insoweit an sich noch kein grobes Verschulden begründen (vgl RS0026555). Ein allfälliges Mitverschulden des Versicherten ist bei der Beurteilung, ob der Arbeitsunfall durch grobe Fahrlässigkeit des Arbeitgebers verursacht wurde, im Verfahren nach § 332 ASVG mit zu berücksichtigen (RS0085538). Im Verfahren über die Integritätsabgeltung nach § 213a ASVG ist es für den Anspruch hingegen unerheblich, ob neben dem Schädiger auch der Versicherte selbst Arbeitnehmerschutzvorschriften grob fahrlässig missachtet hat (RS0111034).

[8] Wegen ihrer Einzelfallbezogenheit kann die Beurteilung des Verschuldensgrades regelmäßig nicht als erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO gewertet werden (RS0087606 ua).

[9] 5. Vor diesem Hintergrund hält sich die Entscheidung des Berufungsgerichts im Rahmen des gesetzlich eingeräumten Ermessensspielraums. Dass das aufrecht stehende und stapelweise Lagern von Türblättern eine Verletzung von Arbeitnehmerschutzbestimmungen darstellt und zwar unabhängig davon, ob sie an Maschinen oder „nur“ an die Wand gelehnt werden, haben die Vorinstanzen ohnehin ausdrücklich bejaht. Sie haben jedoch weiter berücksichtigt, dass dem Verunfallten sowohl vom Beklagten als auch von seinem Vater, dem „Seniorchef“ vor dem Unfall ausdrücklich aufgetragen worden war, die Türblätter auf Paletten zu legen. Es ist dem Beklagten (zumindest im konkreten Fall) daher nicht vorzuwerfen, nicht auf die Einhaltung der Arbeitnehmerschutzvorschriften gedrungen zu haben, sondern nur – wie die Klägerin zu Recht moniert – trotz wiederholter Missachtung solcher Weisungen die Befolgung seiner Anordnung nicht kontrolliert zu haben. Dass diese Unterlassung von den Vorinstanzen aufgrund der Erkrankung des Beklagten am Unfalltag, weiters aufgrund der nicht einmal einen Monat zurückliegenden Sicherheitsunterweisung im Betrieb sowie im Hinblick auf das Verhalten des Verunfallten, der die konkrete Weisung nicht befolgte, obwohl ihm als erfahrenem Mitarbeiter die Gefährlichkeit seines Handelns bewusst sein musste, noch nicht als grob fahrlässig beurteilt wurde, ist nicht korrekturbedürftig.

[10] 6. Insgesamt gelingt es der Klägerin daher nicht, das Vorliegen einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufzuzeigen. Die außerordentliche Revision ist daher zurückzuweisen. Einer weiteren Begründung bedarf diese Zurückweisung nicht (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).

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