9Ob107/22h – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofrätinnen und Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer, Dr. Hargassner Mag. Korn und Dr. Thunhart als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen 1. K* 2015 und 2. E* 2017, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter L*, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 28. September 2022, GZ 42 R 159/22a 86, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Text
Begründung:
[1] Die beiden Minderjährigen sind die Kinder von L* und N*. Der Mutter stand die Obsorge alleine zu. Die Eltern haben zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt in Afghanistan religiös geheiratet und haben sich auch in Afghanistan wieder religiös scheiden lassen. Die Minderjährigen wurden am 10. 5. 2021 in einem Krisenzentrum aufgenommen. Sie leben nun in einer betreuten Wohngemeinschaft. D er älteste Sohn Ki*, geboren * 2013, lebt bei den väterlichen Großeltern.
[2] Mit Beschluss vom 9. 3. 2022 (ON 63) entzog das Erstgericht
1. der Mutter die Obsorge hinsichtlich der Minderjährigen im Bereich Pflege und Erziehung und übertrug diese der Wiener Kinder- und Jugendhilfe (in der Folge WKJH) als Kinder- und Jugendhilfeträger (in den Bereichen der gesetzlichen Vertretung und Vermögensverwaltung hinsichtlich der beiden Minderjährigen blieb die alleinige Obsorge der Mutter);
und wies 2. den Antrag der Großeltern väterlicherseits, ihnen die Obsorge für den Bereich Pflege und Erziehung für die beiden Minderjährigen zu übertragen, ab.
[3] Aufgrund der noch nicht erfolgten Stabilisierung der Situation, der eingeschränkten Erziehungsfähigkeit und des ungeklärten Beziehungsstatus zum Vater entspreche es derzeit nicht dem Kindeswohl, die Kinder zur Mutter zurückzuführen. Bei positiver Entwicklung könne die Mutter einen Antrag auf Rückführung stellen. Als mögliche Voraussetzungen würden dafür in Betracht kommen: Eine schrittweise Ausdehnung der Kontakte und weitere Stabilisierung der Situation der Mutter sowie eine Fortsetzung der psychotherapeutischen Behandlung und Erziehungsberatung. Weiters müsse gesichert davon ausgegangen werden, dass die Beziehung zum Vater gewaltfrei verlaufe und die Mutter sich und ihre Kinder vor Gewalt schützen könne.
[4] Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter gegen diesen Beschluss nicht Folge und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zuzulassen sei.
Rechtliche Beurteilung
[5] Mit ihrem außerordentlichen Revisionsrekurs , in dem die Mutter ausschließlich geltend macht, dass sich seit der Entscheidung der Vorinstanzen wesentliche Änderungen der Umstände ergeben hätten, gelingt es ihr nicht, eine Rechtsfrage von der Qualität des § 62 AußStrG aufzuzeigen.
[6] 1. Gemäß § 62 Abs 1 AußStrG ist gegen einen im Rahmen des Rekursverfahrens ergangenen Beschluss der Revisionsrekurs nur dann zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts abhängt, der zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zukommt.
[7] 2. Sachverhaltsänderungen nach dem erstgerichtlichen Beschluss sind zwar von der Rechtsmittelinstanz (auch vom Obersten Gerichtshof) zu berücksichtigen, wenn dies das Interesse des Kindes erfordert (RS0006893). Der Grundsatz der Bedachtnahme auf das Kindeswohl erfordert es daher in Obsorgeverfahren, dass – selbst noch vom Obersten Gerichtshof – alle während des Verfahrens eingetretenen Entwicklungen voll zu berücksichtigen sind (RS0048056). Dies bezieht sich aber nur auf unstrittige und aktenkundige Umstände. Im Übrigen sind daher neue Tatsachenbehauptungen in einem Rechtsmittel nicht zu berücksichtigen (RS0122192 [T3,T4]; 7 Ob 150/16h; 7 Ob 16/13y mwN). Bei sonstigen wesentlichen Änderungen der für die Obsorgefrage maßgeblichen Umstände steht den Parteien ohnehin die Möglichkeit einer neuerlichen Antragstellung offen (vgl 5 Ob 188/11z ua). Allein das neue Vorbringen im Rechtsmittel macht die betreffende Behauptung nicht schon zur aktenkundigen und deshalb zu berücksichtigenden Tatsachengrundlage (7 Ob 183/12f mwN).
[8] Dazu kommt, dass, auch wenn die Mutter, wie sie vorbringt, ihre Wohnsituation verbessert und keinen Kontakt mehr zu ihrem Ehemann und zu ihrem Lebensgefährten haben sollte, sich daraus noch nicht ergibt, dass die Kinder derzeit schon ohne Gefährdung ihres Wohls zur Mutter zurück geführt werden können. Im Akt erliegt ein Vermerk vom 23. 9. 2022, nach dem aus Sicht der WKJH die Mutter den Kindern keine Grenzen aufzeigt und schnell überfordert ist, weshalb etwa ein unbegleiteter Kontakt mit allen drei Kindern nicht möglich scheint. Auch aus der von der Mutter selbst vorgelegten Stellungnahme ihrer Therapeutin lässt sich zwar eine Verbesserung der Situation ableiten, empfohlen werden aber auch weitere verhaltenstherapeutische Psychotherapien, um Ressourcen zu erarbeiten und weiter zu stabilisieren. Eine wesentliche Änderung der relevanten Umstände wird damit nicht aufgezeigt.
[9] Mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 62 Abs 1 AußStrG ist der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter zurückzuweisen. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Zurückweisungsbeschluss nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).