JudikaturOGH

13Os51/22g – OGH Entscheidung

Entscheidung
07. September 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 7. September 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz Hummel LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Richteramtsanwärter Mag. Kornauth in der Strafsache gegen Mag. * O* und andere Beschuldigte wegen Vergehen der Verletzung des Amtsgeheimnisses nach § 310 Abs 1 StGB, AZ 24 St 224/19m der Staatsanwaltschaft Wien, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 20. Oktober 2020, AZ 18 Bs 217/20y, (ON 28) erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Geymayer, sowie des Verteidigers Mag. Preisinger zu Recht erkannt:

Spruch

In der Strafsache AZ 24 St 224/19m der Staatsanwaltschaft Wien verletzt der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 20. Oktober 2020, AZ 18 Bs 217/20y, (ON 28) § 107 Abs 1 StPO iVm § 3 der Verordnung der Bundesministerin für Justiz, mit der zur Verhinderung der Verbreitung von COVID 19 besondere Vorkehrungen in Strafsachen getroffen werden, idF BGBl II 2020/138.

Dieser Beschluss wird aufgehoben und es wird dem Oberlandesgericht Wien die neuerliche Entscheidung über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 6. August 2020, AZ 353 HR 196/20w, (ON 23) aufgetragen.

Text

Gründe:

[1] Die Staatsanwaltschaft Wien stellte am 5. Juli 2019 das zu AZ 24 St 224/19m gegen * G*, * H* und * C* und einen anderen in Richtung des Vergehens der Verletzung des Amtsgeheimnisses nach § 310 Abs 1 StGB geführte Ermittlungsverfahren gemäß § 190 Z 2 StPO ein (ON 1 S 5).

[2] Aufgrund ihrer Anträge auf Akteneinsicht „ohne Ausnahme der Aktenbestandteile ON 2, ON 4 und ON 5“ (ON 16 und 17) teilte die Staatsanwaltschaft den Genannten mit Note vom 4. März 2020 (zugestellt an den Verteidiger am 6. März 2020) mit, dass die von der Akteneinsicht bislang ausgenommenen Aktenbestandteile (ON 2, 4 und 5) einen anderen Sachverhalt und zudem einen unbekannten Täter beträfen und insofern – zumal es sich auch um sensible Daten handle – keine Akteneinsicht gewährt werde (ON 1 S 11, ON 18).

[3] Gegen die Beschränkung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft richtete sich der mit Schriftsatz vom 12. Mai 2020 erhobene Einspruch wegen Rechtsverletzung nach § 106 Abs 1 Z 1 StPO des * G*, der * H* und der * C* (ON 20).

[4] Mit Beschluss vom 6. August 2020, AZ 353 HR 196/20w, gab die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien diesem statt und stellte fest, dass die Genannten in ihrem subjektiven Recht auf Akteneinsicht gemäß § 51 Abs 1 StPO verletzt worden waren. Der Staatsanwaltschaft wurde aufgetragen, den entsprechenden Rechtszustand gemäß § 107 Abs 4 StPO durch Gewährung uneingeschränkter Akteneinsicht herzustellen (ON 23).

[5] Der dagegen erhobenen Beschwerde der Staatsanwaltschaft (ON 24) gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 20. Oktober 2020, AZ 18 Bs 217/20y, Folge, hob den angefochtenen Beschluss auf und wies den Einspruch wegen Rechtsverletzung vom 12. Mai 2020 als verspätet zurück (§ 107 Abs 1 StPO). Danach seien die Einspruchswerber bereits seit der Zustellung der Note vom 4. März 2020 an den Verteidiger am 6. März 2020 von der Ablehnung der Staatsanwaltschaft, vollumfängliche Akteneinsicht zu gewähren, unmissverständlich in Kenntnis gewesen und der (am 12. Mai 2020 eingebrachte) Einspruch somit verfristet (ON 28).

Rechtliche Beurteilung

[6] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, widerspricht der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht dem Gesetz:

[7] Gemäß § 106 Abs 3 StPO ist ein Einspruch wegen Rechtsverletzung binnen sechs Wochen ab Kenntnis der behaupteten Verletzung in einem subjektiven Recht bei der Staatsanwaltschaft einzubringen.

[8] Nach § 107 Abs 1 StPO sind unzulässige, verspätete und solche Einsprüche, denen die Staatsanwaltschaft entsprochen hat, zurückzuweisen. Im Übrigen hat das Gericht in der Sache zu entscheiden.

[9] § 9 Z 3 des 1. COVID 19 JuBG idF BGBl I 2020/16, der vom 22. März 2020 bis zum 4. April 2020 in Geltung stand, enthielt eine Ermächtigung der Bundesministerin für Justiz, wonach diese – soweit hier von Bedeutung – für die Dauer von Maßnahmen, die zur Verhinderung der Verbreitung von COVID 19 nach dem COVID 19-Maßnahmengesetz BGBl I 2020/12 getroffen wurden, durch Verordnung anordnen kann, dass (unter anderem) die Frist für das Einbringen des Einspruchs wegen Rechtsverletzung nach § 106 Abs 3 StPO für die Dauer der angeordneten Betretungsverbote unterbrochen wird. § 3 der auf diesem Gesetz beruhenden Verordnung der Bundesministerin für Justiz, mit der zur Verhinderung der Verbreitung von COVID 19 besondere Vorkehrungen in Strafsachen getroffen werden (BGBl II 2020/113, die in dieser Fassung vom 24. März 2020 bis zum 8. April 2020 in Geltung stand), enthielt diese Anordnung.

[10] § 9 Z 3 des 1. COVID 19 JuBG idF BGBl I 2020/24 (in Kraft vom 5. April 2020 bis zum 30. Juni 2020) sah eine Verordnungsermächtigung der Bundesministerin für Justiz dahingehend vor, dass (unter anderem) die Frist für das Einbringen des Einspruchs wegen Rechtsverletzung nach § 106 Abs 3 StPO bis zum Ablauf des 30. April 2020 (mit einer hier nicht relevanten Ausnahme) unterbrochen wird und mit 1. Mai 2020 neu zu laufen beginnt. § 3 der Verordnung der Bundesministerin für Justiz, mit der zur Verhinderung der Verbreitung von COVID 19 besondere Vorkehrungen in Strafsachen getroffen werden, wurde der Verordnungsermächtigung folgend geändert (BGBl II 2020/138).

[11] Da die am 6. März 2020 in Gang gesetzte sechswöchige Einspruchsfrist somit bis zum 30. April 2020 unterbrochen war und am 1. Mai 2020 neu zu laufen begann, widerspricht die Zurückweisung des (solcherart fristgerechten) Einspruchs durch das Beschwerdegericht dem Gesetz.

[12] Da nicht auszuschließen ist, dass die aufgezeigte Gesetzesverletzung zum Nachteil der Einspruchswerber wirkt, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, ihre Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).

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